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Die Nacht so groß wie wir (eBook)

Jugendroman Für Leserinnen ab 14 Jahren

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0706-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nacht so groß wie wir -  Sarah Jäger
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«Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.» Suse, Pavlow, Maja, Tolga und Bo sind enge Freund:innen, seit vielen Jahren. Jetzt wartet endlich das echte Leben auf sie, denn nach diesem Tag und dieser Nacht haben sie ihre Schulzeit hinter sich. Gemeinsam beschließen sie, bis zum nächsten Morgen all das zu erledigen, was sie sich bisher nicht getraut haben. Auf jede:n der fünf warten offene Rechnungen - und innere Ungeheuer. Die Dinge laufen aus dem Ruder. Und nach dieser Nacht ist nichts mehr, wie es vorher war.

Sarah Jäger lebt im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Ihr Jugendbuch «Die Nacht so groß wie wir» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

Sarah Jäger lebt im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Ihr Jugendbuch «Die Nacht so groß wie wir» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

Maja


Es beginnt mit Tolga.

Er scheint selbst überrascht zu sein, als sein Name aufgerufen wird, denn normalerweise bildet er überall das Schlusslicht. Normalerweise endet immer alles mit Tolga. Er steht auf und guckt uns mit leicht geöffnetem Mund an, die Narbe an seiner Schläfe leuchtet rot. Von seinen Eltern kann er keine Hilfe erwarten, sie sind noch mit den Einstellungen an ihrer Digitalkamera beschäftigt. Wahrscheinlich haben sie gedacht, bei einem Nachnamen wie dem ihren, einem Nachnamen, der mit Z beginnt, hätten sie noch ausreichend Zeit, sich mit der Technik vertraut zu machen. Im linken Ohr von Tolgas Vater nehme ich das beige Gehäuse eines Hörgeräts wahr und wundere mich kurz, weil mir Tolga nichts davon erzählt hat. Suse und Pavlow, die mit ihren Müttern eine Reihe hinter uns sitzen, nicken ihm aufmunternd zu, und Bo neben mir bringt sein Handy in Position. Ich habe ein «Schaffst du» auf den Lippen, entscheide mich aber für «Mach jetzt», weil ich glaube, dass Samthandschuhe gerade nicht angebracht sind.

Tolga tritt in den Mittelgang der Aula. Auch an diesem Tag trägt er seine graue Kapuzenjacke, in manchen Dingen ist Tolga unheimlich konsequent. Nur bei seinen dunkelbraunen Locken hat er eine Ausnahme gemacht, sie haben heute einen Kamm gesehen. Vielleicht hat er das für seine Mutter getan.

«Euer Sohn», flüstere ich Tolgas Eltern zu, und sie wenden erschrocken ihren Blick von der Kamera ab.

Die Haarfarbe von Tolgas Mutter würde ich immer noch als schwarz bezeichnen, obwohl sich die grauen Strähnen nicht mehr unter Färbemitteln verstecken müssen. Die Akzeptanz ihrer grauen Haare sei ihr Geschenk an sich selbst, hat Tolga uns erklärt. Bei Tolgas Vater ziehen sich tiefe Gräben an den Seiten seines Kopfes entlang, und nur ein schmaler Grenzstreifen weißen Haupthaares verhindert, dass die beiden Gräben sich vereinen. Dort, wo auf Tolgas Schläfe die Narbe rot leuchtet, haben sich auf der Schläfe seines Vater Altersflecken versammelt.

Aus dem Schädel des AltenMannes vorne auf der Bühne sprießt kein einziges Haar mehr. Er steht hinter dem Stehpult und fährt sich mit der linken Hand über seine Glatze, während er auf Tolga wartet. Das hat er auch gemacht, als ich vorgestern noch einmal in seinem Büro gewesen bin:

«Ich will doch persönlich gratulieren», sagte er und fuhr sich mit der Hand über seine Glatze. Und natürlich schob er hinterher, dass er mit seinem Empfehlungsschreiben schließlich auch einen kleinen Anteil daran gehabt hätte, dass ich den Praktikumsplatz am deutschen Kulturinstitut in Osaka bekommen habe. Ich verbeugte mich vor ihm. Mit geradem Rücken, aber nur fünf Grad, damit es neutral blieb und nicht zu viel Dankbarkeit ausdrückte. So viel habe ich in meinem Japanischkurs schon gelernt.

«Heute entlassen wir Sie in das Erwachsenenleben», hat der AlteMann vor achtzehn Minuten seine Rede begonnen. Am Anfang machte ich mir noch aus Gewohnheit ein paar Stichpunkte in mein Notizbuch, aber nach wenigen Minuten verwandelten sich seine Worte in Strichmännchen und Blumenmuster. «Heute entlassen wir Sie in das Erwachsenenleben», repetierte er am Ende seiner Rede, für all diejenigen, die es beim ersten Mal nicht verstanden hatten. Und es wurde auch nicht gehaltvoller, als er die Vergabe der Zeugnisse ankündigte: «Ich mache es heute mal von hinten.» Der Stiefvater von der blonden Lara lachte am lautesten, sogar lauter noch als Bo neben mir. Ich verdrehte nur die Augen, und die Mutter von der blonden Lara zischte «Jochen».

Inzwischen ist Tolga am Bühnenrand angekommen. Als er dem AltenMann sein Abiturzeugnis aus den Fingern nimmt, hebt er für einen winzigen Augenblick den Kopf – seine Narbe ist nun glühend rot –, um sich dann mit schnellen Schritten zurück zu seinem Platz zu begeben. Bo streckt sein Handy in die Höhe und ruft laut, «Tolga, guck mal hier!», aber Tolga hebt kein zweites Mal den Kopf. «Das ging jetzt alles so schnell», murmelt Tolgas Vater überfordert. «Ich war noch gar nicht fertig mit der Kamera. Und ich wollte doch …»

«Ist schon okay», beruhigt ihn Tolga, nachdem er sich an seinen Eltern vorbeigeschlängelt hat und wieder links neben mir sitzt, «ist doch nur Papier.» Aber ich sehe ein Lächeln auf seinem Gesicht und lege meine Hand auf seine. ‹Tomodachi›, denke ich stolz. In diesem Papier stecken dreizehn Jahre unseres Lebens. Und erwachsen zu sein hat hoffentlich mehr zu bieten als primitive Witze, über die nur lachen kann, wer Jochen heißt. Manchmal beschleicht mich die Angst, dass aus meinem besten Freund ein Hikikomori werden könnte, ein Einsiedler, der sich von der Welt zurückzieht. Aber solange wir befreundet sind, werde ich das zu verhindern wissen.

Sieben Minuten später ist der AlteMann beim Buchstaben S angekommen. Er sagt Pavlows Namen ins Mikrofon, während er sich wieder über die Glatze streicht. Pavlows Mutter jubiliert mit geschlossenem Mund. Ihre Finger umklammern den Henkel der Wildlederhandtasche, als wolle sie verhindern, dass sie sich vor Freude geballt in die Luft recken. Als sich Pavlow erhebt, löst seine Mutter eine Hand von dem Taschenhenkel und streicht über den Ärmel seines glattgebügelten Hemdes. Wenn man genau hinsieht, wirft die blassblaue Bluse, die seine Mutter trägt, unter dem Kragen leichte Falten. Pavlow bügelt seine Hemden immer selbst.

Betont langsam geht er den Mittelgang entlang, seine Arme schwingen vor und zurück. Alle können sehen, wie sehr er es genießt, den AltenMann hinter seinem Stehpult warten zu lassen. Er steigt die drei Stufen zur Bühne hinauf. Sein rechter Fuß steht bereits auf der Bühnenfläche, doch Pavlow friert einen Moment in der Bewegung ein, bevor er sein linkes Bein nachzieht. Als der AlteMann ihm das Zeugnis überreichen will, streckt Pavlow seine rechte Hand vor, aber seine Finger greifen nicht nach dem Papier, sie bleiben ein spiegelverkehrtes C. Der AlteMann reagiert zu langsam, weil seine Reflexe die eines alten Mannes sind. Er lässt das Papier los, und das Zeugnis schwebt durch das C hindurch zu Boden. Während sich der AlteMann hinunterbeugt, um das Papier mit seinen Fingerkuppen vom Parkett zu klauben, steht Pavlow aufrecht da und blickt auf ihn herab.

Als Pavlow zurückgeht und auf der Höhe von dem gestreiften Henning ist, der drei Reihen vor uns sitzt, ruft Bo: «Pavlow, wink mal!» Aber Pavlow fragt nur mit einem Grinsen, das bis in das Grün seiner Augen reicht: «Hast du den Kniefall auf Video?»

Pavlow lässt sich von Suse umarmen. Seine Mutter holt ein Taschentuch aus ihrer Wildlederhandtasche und tupft sich die Augenwinkel ab. Ihr Jubel hat den Weg nach draußen gefunden. Ich vergesse den AltenMann und die Buchstaben R bis L, denn ich kann nicht aufhören, die Frau mit der zerknitterten Bluse zu betrachten. Ich kann mich nicht sattsehen an Menschen, die vor Freude weinen. «Bastian, ich bin so stolz auf dich», sagt Pavlows Mutter und streicht über seinen Arm, bis er ihn wegzieht. Seit Jahren nennen wir Pavlow nicht mehr Bastian.

Ich lasse ab von Pavlows Mutter und wende mich wieder der Bühne zu. Den Seitenblick von Bo ignoriere ich, indem ich mich auf die Stimme des AltenMannes konzentriere. Er hat inzwischen das K erreicht, und zum K gehöre ich. Als die piksige Tamara nach vorne geht, atme ich noch einmal tief ein und kontrolliere die Schnürsenkel meiner Schuhe. Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen, sagt man in Japan. Aber wenn ich hinfalle, dann nicht wegen meiner Schnürsenkel. Eine Minute später hallt mein Name durch die Aula.

Ich sehe in meinen Augenwinkeln Tolga und Bo, hinter mir spüre ich Pavlow und Suse. Nur meine Eltern, die fehlen. Es ist wie damals vor neun Jahren, an meinem ersten Tag auf dem Humboldt-Gymnasium. Es ist traurig oder beruhigend, manche Dinge ändern sich nie. Nur das Gebäude schien vor neun Jahren viel größer zu sein: Gefühlte drei Stunden irrte ich durch die Gänge wie durch ein Labyrinth, bis ich endlich die Tür zur Aula fand. Ich drückte die Klinke runter und schlüpfte in den holzvertäfelten Raum. Vorne an der Bühne bildete sich eine Gruppe, gerade war ein Mädchen mit zwei Zöpfen aufgerufen worden. Ihr Nachname begann mit einem P. Sie nahm ihren pinken Tornister und ging zu den Wartenden. Es folgten Nachnamen mit R und S, keiner mit T und nur einer mit U. Die Kinder standen auf, nahmen ihre Tornister, die Coolen nahmen ihre Rucksäcke, und verabschiedeten sich von ihren Eltern. Es gab kein Kind, das allein gekommen war. Ein Junge, dessen Nachname mit Z begann, schien nicht da zu sein. Der Name wurde noch einmal vorgelesen, doch niemand stand auf. Die Gruppe verließ die Aula, angeführt von einer Frau mit rot gefärbten Haaren in Jeansjacke und Jeansrock. Neue Namen wurden aufgerufen und eine weitere Klasse zusammengestellt. Ich wartete auf meinen Namen, vergeblich. Als alle Zehnjährigen die Aula verlassen hatten und nur noch einige Eltern in kleinen Gruppen zusammenstanden, ging ich nach vorne zu dem AltenMann, den ich damals noch «Herr Altmann» nannte. Damals kam mir der AlteMann viel älter vor als heute, obwohl vor neun Jahren noch Haare auf seinem Kopf wuchsen. Herr Altmann durchforstete seine Papiere und fand meinen Namen auf der Liste der Klasse 5B. Vor der Tür der Aula trafen wir auf Tolga und seine Eltern. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass es Tolga war. Tolga war der Junge, dessen Nachname mit Z begann. Seine Eltern redeten auf Herrn Altmann ein. Jeder dritte Satz war eine Entschuldigung, «wir haben uns die falsche Uhrzeit im Kalender notiert, wir wissen auch nicht, wie das passieren konnte, es tut uns ja so leid». Sie redeten, während der Junge mit seinem Zeigefinger über die Rillen in der Holztür...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Bücher für Jugendliche • Coming of Age • Erste Liebe • Erwachsen werden • Freunde • Freundschaftsroman • Initiation • Jugendbuch • Jugendbuch ab 14 • Jugendfreundschaft • Jugendliteratur • Junge Erwachsene Romane • Kirsten Fuchs • nach Süden • Nach von • Nils Mohl • Schulabschluss • tschick • Ungeheuer • Wolfgang Herrndorf
ISBN-10 3-7336-0706-6 / 3733607066
ISBN-13 978-3-7336-0706-7 / 9783733607067
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