Ghost (eBook)
224 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43390-7 (ISBN)
Jason Reynolds studierte Literaturwissenschaften an der University of Maryland. Seine Bücher sind in den USA nicht nur Bestseller, sondern auch vielfach ausgezeichnet. Sein Buch >Long Way Down< wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Für den Kinderroman >Ghost< erhielt er den LUCHS des Jahres. Jason Reynolds ist in den USA ein Literaturstar. Er lebt in Washington, D.C.
Jason Reynolds studierte Literaturwissenschaften an der University of Maryland. Seine Bücher sind in den USA nicht nur Bestseller, sondern auch vielfach ausgezeichnet. Sein Buch ›Long Way Down‹ wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Für den Kinderroman ›Ghost‹ erhielt er den LUCHS des Jahres. Jason Reynolds ist in den USA ein Literaturstar. Er lebt in Washington, D.C.
1 Weltrekorde
Leute, hört euch das mal an! So ein Typ namens Andrew Dahl hält den Weltrekord darin, die meisten Luftballons aufzublasen … mit der Nase! Das ist kein Witz. Keine Ahnung, wie er auf dieses besondere Talent gekommen ist, und ich mag mir nicht mal vorstellen, wie viel Rotz in den Luftballons ist, aber, hey, so was ist schon eine Kunst, und Andrew ist der Beste darin. Dann gibt es da noch diese Frau, Charlotte Lee, die einen Weltrekord hält, weil sie die meisten Gummienten besitzt. Kein Scheiß. Wisst ihr, was ich seltsam finde? Warum sollte jemand auch nur eine Gummiente besitzen wollen, ganz zu schweigen von 5631? Mal ehrlich. Geht’s noch? Und ich, also, ich halte vermutlich den Weltrekord darin, die meisten Weltrekorde zu kennen. Das und dazu noch den Rekord im Sonnenblumenkerneessen.
»Lass mich raten, du willst Sonnenblumenkerne«, schreit mir Mr. Charles hinter dem Tresen seines Ladens entgegen, den er selbst einen Krämerladen nennt, obwohl wir mitten in der Stadt leben. Mr. Charles, der übrigens genau wie James Brown aussieht, wenn James Brown weiß wäre, kassiert von mir jeden Tag in der Woche einen Dollar für Sonnenblumenkerne, seit … so ungefähr seit der vierten Klasse, als Ma mit ihrem Krankenhausjob angefangen hat. Also seit etwa drei Jahren. Außerdem ist er hörbehindert. Das sagt meine Mom über ihn, und ich hab früher immer gedacht, sie würde »hörverhindert« sagen, was ich überhaupt nicht kapiert habe. Keine Ahnung, warum sie nicht einfach »fast taub« sagt. Oder »schwerhörig«. Vielleicht, weil »hörbehindert« mehr nach Krankenhaus klingt und die Krankenhaussprache mittlerweile auf sie abgefärbt hat. Und ja, Mr. Charles hört tatsächlich so gut wie nichts mehr, deshalb schreit er auch immer alle an, und alle schreien zurück. In seinem Laden herrscht die ganze Zeit ein furchtbares Gebrüll, ganz abgesehen von den zusätzlichen Soundeffekten aus dem laut gedrehten Fernseher, den er hinter dem Tresen stehen hat – Westernfilme in Endlosschleife. Mr. Charles war es übrigens, der mir das Guinnessbuch der Rekorde geschenkt hat, in dem ich überhaupt erst von Andrew Dahl und Charlotte Lee gelesen habe. Er hat zu mir gesagt, ich könnte ja eines Tages selbst mal einen Rekord aufstellen. Einen richtigen Rekord. Einer von den Besten der Welt in irgendwas sein. Mal sehen. Aber eins weiß ich genau: Mr. Charles hält mit Sicherheit den Weltrekord darin, »Lass mich raten, du willst Sonnenblumenkerne« zu sagen, weil er das jedes Mal sagt, wenn ich reinkomme, und das bedeutet, dass ich vermutlich schon den Rekord darin habe, mit lauter Stimme jedes Mal die genau gleiche Antwort zu geben.
»Lassen Sie mich raten, einen Dollar.« Das ist meine Antwort. Die ich schon Millionen Mal gesagt habe. Dann klatsch ich ihm den Dollar in seine runzelige Hand, und er legt die kleine Tüte mit den Kernen in meine.
Danach trödle ich langsam weiter und halte erst wieder an, wenn ich bei der Bushaltestelle bin. Aber es ist keine gewöhnliche Bushaltestelle. Es ist die Haltestelle direkt gegenüber vom Fitnesscenter. Da sitz ich dann mit den anderen Leuten herum, die auf den Bus warten, nur dass ich nicht wirklich auf ihn warte. Der Bus bringt einen schnell nach Hause, und das will ich ja gerade nicht. Ich bin da, weil ich zuschauen will, wie die Leute Sport machen. Das Fitnesscenter auf der anderen Straßenseite hat nämlich große Fenster –, eigentlich ist die ganze Wand ein einziges Fenster – und da gibt es diese Geräte, die einem vormachen, man würde eine Treppe hochsteigen, und dabei schauen die Fitnessdeppen dann zur Bushaltestelle raus, völlig fertig und verschwitzt, als würden sie gleich ohnmächtig umfallen. Und glaubt mir, das sieht echt lustig aus. Ich schaue mir das immer eine Weile an, wie einen Film. Die Gleich-Kippt-Einer-Um-Show, in den Hauptrollen Stepper eins bis zehn. Ich weiß, das klingt jetzt ziemlich merkwürdig, vielleicht sogar ein bisschen verrückt, aber es hilft, wenn einem langweilig ist. Und das Beste daran ist, dass ich meine Sonnenblumenkerne futtern kann wie Kinopopcorn, während ich dort sitze.
Noch mal wegen der Sonnenblumenkerne: Früher hab ich mir immer eine ganze Handvoll auf einmal in den Mund gekippt, das Salz abgelutscht und sie dann wie ein Maschinengewehr wieder ausgespuckt. Da halte ich bestimmt auch den Weltrekord drin. Aber mittlerweile hab ich mehr Übung. Jetzt lasse ich mir Zeit, schiebe sie im Mund hin und her, bis sie in der richtigen Position für den perfekten Biss sind, der die Schale knackt, dann löse ich den Samen vorsichtig mit der Zunge heraus, und dann – das ist der schwerste Teil – bewahre ich den kleinen Samen sicher in dem Zwischenraum zwischen Zähnen und Zunge auf und spucke nur die Schale aus. Und endlich, wenn das alles geschafft ist, zerbeiße ich den Samenkern. Mittlerweile bin ich da Meister drin, auch wenn Sonnenblumenkerne ehrlich gesagt nach nichts schmecken. Ich weiß nicht mal genau, ob sie den Aufwand überhaupt wert sind. Aber mir gefällt das Ganze einfach.
Mein Dad hat früher auch immer Sonnenblumenkerne gegessen. Von ihm hab ich das. Aber er hat die ganzen Dinger einfach zerkaut, Schalen, Samen, alles. Hat sie runtergeschlungen wie ein Tier. Als ich noch klein war, habe ich ihn immer gefragt, ob vielleicht irgendwann eine Sonnenblume in seinem Bauch wachsen würde, weil er so viele Kerne gegessen hat. Er hat dabei immer irgendein Spiel im Fernsehen angeschaut, Football oder Basketball, und sich nur ganz kurz zu mir umgedreht, eine Sekunde oder so, gerade lang genug, um keinen Spielzug zu verpassen, und gesagt: »In meinem Bauch wächst ein ganzer Wald aus Sonnenblumen, Kleiner.« Dann hat er die Kerne in seiner Hand wie Würfel geschüttelt und sich eine weitere Ladung in den Mund gekippt und zerkaut.
Aber mein Dad hat gelogen, das steht fest. In ihm sind keine Sonnenblumen gewachsen. Das wär gar nicht möglich gewesen. Ich weiß nicht viel über Sonnenblumen, aber ich weiß, dass sie hübsch sind und dass Frauen sie mögen, und ich weiß, dass das Wort »Sonnenblume« aus zwei schönen Wörtern zusammengesetzt ist. Und dieser Mann hatte bestimmt keine zwei schönen Wörter in sich drin oder sonst irgendwas, das einer Frau gefallen könnte, weil: Frauen mögen keine Männer, die versuchen, sie und ihren Sohn zu erschießen. Und genau so ein Mann war mein Vater.
Es war vor drei Jahren, da ist mein Dad ausgerastet. Nachdem der Schnaps ihn noch bösartiger gemacht hat, als er sowieso schon war. Jeden zweiten Abend ist er zu einem anderen Menschen geworden, als hätte er sich in einen Verrückten verwandelt, aber an dem Abend hatte meine Mutter endlich beschlossen, sich zu wehren. Und an dem Abend ist alles noch viel schlimmer geworden. Ich hatte den Kopf zwischen Matratze und Kissen gesteckt – das hatte ich mir angewöhnt, wenn sie gestritten haben –, und da ist meine Mutter in mein Zimmer reingeplatzt.
»Wir müssen abhauen«, hat sie gesagt und die Decke von meinem Bett gerissen. Und als ich mich nicht schnell genug bewegt habe, hat sie geschrien: »Mach schon!«
Dann weiß ich nur noch, dass sie mich durch den Flur gezerrt hat und ich über meine Füße gestolpert bin. Und da hab ich mich umgedreht und hab ihn gesehen, meinen Dad, wie er aus dem Schlafzimmer gestolpert kam, mit blutigen Lippen und einer Pistole in der Hand.
»Zwing mich nicht, das zu tun, Terri!«, hat er halb wütend, halb flehend gerufen, aber Mom und ich sind weitergerannt. Dann das Geräusch von einer Pistole, die entsichert wird. Das Geräusch einer Tür, die entriegelt wird. Und in dem Moment, wo sie die Tür aufstieß, hat mein Dad abgedrückt. Er hat auf uns geschossen! Mein Vater … auf UNS! Seine Frau und seinen Sohn! Ich hab mich nicht umgedreht, um zu sehen, was er getroffen hat, ich hatte solche Angst, er könnte mich erwischt haben. Oder Ma. Der Knall war schrill und laut, so laut, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde explodieren, so laut, dass mein Herz aussetzte. Aber das Verrückte war, dass der laute Schuss meine Beine noch viel schneller machte. Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber so kam es mir jedenfalls vor.
Mom und ich sind weitergerannt, die Treppe runter auf die Straße, und durch die Dunkelheit gerast, vom Tod verfolgt. Wir sind gerannt und gerannt und gerannt, bis wir endlich zu Mr. Charles’ Laden gekommen sind, der zu unserem Glück den ganzen Abend geöffnet hat. Mr. Charles warf nur einen Blick auf uns, wie wir atemlos, weinend und barfuß in unseren Schlafanzügen vor ihm standen, dann hat er uns in seinem Vorratsraum versteckt und die Polizei gerufen. Wir sind die ganze Nacht da drin geblieben.
Seitdem hab ich meinen Dad nicht mehr gesehen. Ma hat gesagt, die Polizisten hätten berichtet, er hätte auf der Vortreppe gesessen, als sie zu unserem Haus kamen, mit nacktem Oberkörper, die Pistole neben sich, und hätte Bier getrunken und Sonnenblumenkerne gegessen und gewartet. Als würde er erwischt werden wollen. Als wäre das Ganze keine große Sache. Sie haben ihn zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich darüber froh bin oder nicht. Manchmal wünsche ich mir, er würde für immer im Gefängnis vermodern. Aber dann wünsche ich mir wieder, er würde zu Hause auf dem Sofa sitzen und ein Basketballspiel anschauen und die Kerne in seiner Hand schütteln. Aber eins ist jedenfalls sicher: In der Nacht hab ich gelernt, wie man rennt. Und als ich keine Lust mehr hatte, an der Bushaltestelle vor dem Fitnesscenter zu sitzen, und dafür die ganzen Kids auf dem Sportplatz...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2018 |
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Reihe/Serie | Lauf-Reihe |
Lauf-Reihe | Reihe Hanser |
Übersetzer | Anja Hansen-Schmidt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Alleinerziehende Mutter • Alleinerziehende Mütter • Ängste • ausgezeichnete Jugendbücher • Band 1 • Familie • Freundschaft • Joggen • Kinderbuch ab 11 Jahren • Laufen • Laufmannschaft • Laufteam • Luchs des Jahres 2018 • Mobbing in der Schule • Mut • Schullektüre • Schulprobleme • Sport • Team • Teamgeist • Teenager • Tetralogie • The Defenders • Track-Serie • Vaterersatz • Verantwortung übernehmen • Zusammenhalt |
ISBN-10 | 3-423-43390-6 / 3423433906 |
ISBN-13 | 978-3-423-43390-7 / 9783423433907 |
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