Das Gespräch der Geschlechter (eBook)
332 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77825-8 (ISBN)
Seit der #MeToo-Bewegung steht die Frage der sexuellen Gewalt im Zentrum der Debatten über Geschlechtergerechtigkeit. Sexuelle Zustimmung gilt vielen als Zauberformel für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Zugleich ist sie notorisch schwer zu definieren und wirft zahlreiche Probleme auf, wie die Philosophin Manon Garcia in ihrer meisterhaften Analyse zeigt. Sie taucht tief ein in unser philosophisches Erbe sowie die liberale Tradition und legt deren Grenzen offen.
Drei Probleme der Philosophie der Zustimmung macht Garcia aus: ein rechtliches, ein moralisches und ein politisches. Was muss getan werden, damit sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung wirksam bestraft werden? Wie kann man sich Liebes- und Sexualbeziehungen vorstellen, die nicht auf sexistischen sozialen Normen beruhen? Und wie können wir verhindern, dass die geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeiten, die sich in Liebes- und Sexualbeziehungen manifestieren, fortgeschrieben werden? Von John Locke und John Stuart Mill über feministische Theoretikerinnen bis hin zu Michel Foucault und den Praktiken des BDSM zeichnet dieses Buch eine neue politische Kartografie unserer privaten Leben. Fazit für das zukünftige Gespräch der Geschlechter: Wir müssen lernen, die »Gleichheit zu erotisieren«, nicht die Herrschaft.
Manon Garcia, geboren 1985, ist nach Stationen in Harvard und Yale Professorin für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. In Frankreich zählt sie zu den einflussreichsten und meistgelesenen Philosophinnen ihrer Generation. Ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für <em>Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung</em> erhielt sie 2022 den Prix des Rencontres philosophiques de Monaco.
11Einleitung
Das Problem der Zustimmung
Die Weinstein-Affäre und die #MeToo-Bewegung haben die Frage der sexualisierten Gewalt gegen Frauen in den Blickpunkt gerückt. Während die Frauenbewegungen unaufhörlich gegen diese Gewalt ankämpften, das Wort ergriffen, um sie anzuprangern und das aufzuzeigen, was man als »Vergewaltigungskultur« bezeichnet, hat mit der Flut von Zeugenaussagen in den sozialen Netzwerken und anderswo, welche die Weinstein-Affäre ausgelöst hat, dieses Thema tatsächlich – endlich – angefangen, die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft zu erregen.
In diesem Kontext ist ein Begriff aufgetaucht, der von JuristInnen, PhilosophInnen und FeministInnen regelmäßig wie eine Zauberformel verwendet wird, um die Gleichheit von Frauen und Männern zu denken: der Begriff der Zustimmung. Natürlich war es bereits üblich, von Zustimmung zu sprechen. Erinnert sei an andere Debatten in den 1990er Jahren, vor allem an die über die Frage, ob es möglich ist, dass Frauen damit einverstanden sind, sich zu prostituieren oder ein Kopftuch zu tragen.1 Doch erst mit der #MeToo-Bewegung wurde der Begriff der Zustimmung im Diskurs der Medien selbstverständlich und alltäglich auf die sexuelle und amouröse Zustimmung bezogen.2
Nunmehr erscheint uns die Zustimmung als das perfekte Kriterium für die Trennlinie zwischen Gut und Böse, 12zwischen »gutem« Sex und Vergewaltigung.3 Das ist auf der rechtlichen Ebene in vielen westlichen Ländern der Fall, insbesondere in den USA und in Kanada, wo die Zustimmung des Opfers das rechtliche Kriterium für die Feststellung einer Vergewaltigung ist. Und es ist in der Alltagssprache in Frankreich und anderswo der Fall: Der Geschlechtsverkehr wird als »gut« oder zumindest als akzeptabel angesehen, wenn es sich um einen Geschlechtsverkehr handelt, dem die Partner zustimmen. Allgemeiner gesagt erscheint das Vokabular der Zustimmung als die beste Möglichkeit, die Liebes- und Sexualbeziehungen in einem Kontext zu denken, von dem man Egalität erwartet.
Trügerische Annahmen
Der zentrale Platz der Zustimmung im zeitgenössischen Diskurs beruht auf einer Reihe von Annahmen, die dazu führen, dass man sie als etwas extrem Einfaches begreift. Das betrifft zunächst ihre Definition: Man nimmt allgemein an, dass eine Zustimmung vorliegt, wenn zwei (oder mehr) Personen damit einverstanden sind, Geschlechtsverkehr zu haben. Zwar kann die rechtliche Feststellung der Zustimmung, das heißt in einem Gerichtsverfahren die Tatsache zu beweisen, dass beide Personen dem Geschlechtsverkehr zugestimmt haben oder nicht, aufgrund fehlender Zeugen Probleme bereiten, aber ansonsten liegt eine Zustimmung vor, »sobald zwei Personen einverstanden sind, das ist die beste aller Definitionen, da muss man nicht weiter gehen«, wie ein junger Mann sagt, der zu Beginn des Films Sexe sans consentement4 von Del13phine Dhilly befragt wird. Allgemeiner gesprochen lassen sich diese Annahmen folgendermaßen zusammenfassen: Zustimmen bedeutet, einverstanden zu sein; ein einvernehmlicher Geschlechtsverkehr ist legitim, und ein legitimer Geschlechtsverkehr ist einvernehmlich; der nicht einvernehmliche Sex ist selten und stellt eine Vergewaltigung dar.
In Wirklichkeit ist keine dieser Annahmen so offenkundig einfach und wahr, wie es den Anschein hat. Zunächst einmal versteht sich die Definition der Zustimmung nicht von selbst. Denn was heißt, damit »einverstanden« zu sein, Geschlechtsverkehr zu haben? Das Klischee, das wir im Kopf haben, ist das von zwei Menschen, die sich lieben, begehren und auf der Grundlage dieser gegenseitigen Liebe und dieses gegenseitigen Begehrens Geschlechtsverkehr haben. Ein anderes Bild, das immer präsenter ist, ist das des »Tinder-Sex«, das heißt der quasi sofortigen sexuellen Interaktion zwischen Unbekannten, bei der der Geschlechtsverkehr einer gegenseitigen Bereitstellung des Körpers des anderen zum Lustgewinn gleichkommt. In diesem Rahmen hat das Einvernehmen nahezu etwas Vertragliches, und in manchen Fällen einigen sich die Nutzer sogar vor dem Treffen darauf, welche Art von sexueller Dienstleistung ausgetauscht werden soll.
Doch die Palette der Situationen, in denen man mit dem Geschlechtsverkehr »einverstanden sein« kann, ist sehr viel breiter, als diese Bilder vermitteln: Man kann in dem Sinne einverstanden sein, dass man große Lust hat, mit dieser Person zu schlafen, aber man kann auch einverstanden sein, weil man weiß, dass der Partner lange insistieren wird, und weil man am nächsten Tag früh aufstehen muss, sagt man lieber »ja«, um es »hinter sich zu bringen« und zu schlafen. Man kann zustimmen, weil es 14unsere Arbeit ist, weil man Geld braucht und der Geschlechtsverkehr bezahlt wird, weil man Angst hat, den Zorn des anderen Partners zu erregen, weil man hofft, durch die Zustimmung zum Geschlechtsverkehr eine Stelle zu bekommen, oder weil man hofft, durch den Geschlechtsverkehr seine Stelle zu behalten. Man kann auch zustimmen, weil man sich einsam fühlt, weil man körperlichen Kontakt braucht, weil schließlich nichts dagegen spricht. Man kann zustimmen, weil der andere einsam wirkt, weil er aussieht, als habe er sehr große Lust dazu, weil man nicht den Mut hat, nein zu sagen, oder weil es unhöflich erscheinen würde, nein zu sagen.
Mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden sein ist ein vager Ausdruck: Bedeutet damit einverstanden zu sein, in das Hotelzimmer von jemandem zu gehen, damit einverstanden zu sein, mit dieser Person Geschlechtsverkehr zu haben, wie man in der Zeit der Weinstein-Affäre zuweilen gehört hat? Bedeutet mit Sexualpraktiken ohne Penetration einverstanden zu sein, damit einverstanden zu sein, penetrativen Geschlechtsverkehr mit dieser Person zu haben, oder deutet dies zumindest darauf hin? Wenn man damit einverstanden ist, mit jemandem Geschlechtsverkehr zu haben, diese Person aber hinsichtlich ihrer Identität gelogen hat, um uns zu verführen, ist man dann wirklich mit diesem Geschlechtsverkehr einverstanden? Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass die Antwort auf diese Frage je nach dem Gegenstand der Lüge (Vorname, Alter, Familienstand …) nicht dieselbe sein wird.
Eine noch heiklere Frage ist, wie man mit Situationen umgeht, in denen ein Partner sein Verhalten vollständig ändert, sobald der Geschlechtsverkehr beginnt. Zeitungsartikel oder Berichte von AktivistInnen erzählen regelmäßig von Frauen, die bereit sind, mit einem sanften und 15zärtlichen Mann zu schlafen, der sich mit Beginn des Geschlechtsverkehrs radikal ändert und ein sehr viel dominanteres oder sogar gewalttätiges Verhalten annimmt. Impliziert die Zustimmung zum Geschlechtsverkehr mit einer Person auch die Zustimmung zu jeder Art von Geschlechtsverkehr mit dieser Person? Diese Auflistung, die bewusst aus harmlosen und gewöhnlichen Situationen sowie aus moralisch problematischen Situationen besteht, stellt die scheinbare Einfachheit der Zustimmung in Frage: Die Definition der Zustimmung als einfaches Einverständnis mit dem Geschlechtsverkehr reicht nicht, um sie exakt zu bestimmen.
Diese Bestimmung versteht sich insbesondere dann nicht von selbst, wenn man die Zustimmung als das betrachtet, was unsere sexuellen oder Liebesbeziehungen rechtlich oder moralisch legitimiert. Denn in den heutigen liberalen Gesellschaften herrscht in Bezug auf die Sexualität ein Konsens darüber, dass sexuelle Beziehungen zwischen volljährigen Personen zu ihrem Privatleben gehören und dass sie legitim, das heißt moralisch zulässig sind, wenn sie einvernehmlich sind. Diese Annahme war in den letzten zwanzig Jahren in vielen Ländern der Grund für Veränderungen bei der rechtlichen Definition der Vergewaltigung und für die kürzliche Festlegung eines Mindestalters für die sexuelle Zustimmung im französischen Recht.5 Wenn man die nicht erschöpfende Liste der Gründe durchgeht, aus denen man den Geschlechtsverkehr akzeptieren kann, stellt man fest, dass die Zustimmung, um die es geht, mehr oder weniger frei, mehr oder weniger erzwungen ist und nicht immer eine Entscheidung widerspiegelt, die frei genug ist, um...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Feminismus • La conversation des sexes. Philosophie du consentement deutsch • #metoo • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Patriarchat • Philosophie • Sex • Sexualität |
ISBN-10 | 3-518-77825-0 / 3518778250 |
ISBN-13 | 978-3-518-77825-8 / 9783518778258 |
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