Der Diskurs der Philosophie (eBook)
352 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77881-4 (ISBN)
Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen - wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen - herausgearbeitet werden muss.
Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!
<p>Paul-Michel Foucault wurde am 15. Oktober 1926 in Poitiers als Sohn einer angesehenen Arztfamilie geboren und starb am 25. Juni 1984 an den Folgen einer HIV-Infektion. Nach seiner Schulzeit in Poitiers studierte er Philosophie und Psychologie in Paris. 1952 begann seine berufliche Laufbahn als Assistent für Psychologie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät in Lille. 1955 war er als Lektor an der Universität Uppsala (Schweden) tätig. Nach Direktorenstellen an Instituten in Warschau und Hamburg (1958/1959) kehrte er 1960 nach Frankreich zurück, wo er bis 1966 als Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Clermont-Ferrand arbeitete. In diesem Zeitraum erschien 1961 seine Dissertationsschrift <em>Folie et déraison. Histoire de la folie à l&#39;âge classique</em> (dt.: <em>Wahnsinn und Gesellschaft</em>). Er thematisierte darin die Geschichte des Wahnsinns und das Zustandekommen einer Abgrenzung von geistiger Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden sozialen Mechanismen. 1965 und 1966 war er Mitglied der Fouchet-Kommission, die von der Regierung für die Reform des (Hoch-)Schulwesens eingesetzt wurde. 1966 wurde <em>Les mots et les choses – Une archéologie des sciences humaines </em>(dt.: <em>Die Ordnung der Dinge</em>) veröffentlicht, worin er mit seiner diskursanalytischen Methode die Wissenschaftsgeschichte von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert untersuchte. Nach einem Auslandsaufenthalt als Gastprofessor in Tunis (1965-1968) war er an der Reform-Universität von Vincennes tätig (1968-1970). 1970 wurde er als Professor für Geschichte der Denksysteme an das renommierte Collège de France berufen. Gleichzeitig machte er durch sein vielfältiges politisches Engagement auf sich aufmerksam. In diesem Kontext entstand die Studie <em>Surveiller et punir </em>(dt.:<em> Überwachen und Strafen</em>). 1975-1982 unternahm er Reisen nach Berkeley und Japan sowie in den Iran und nach Polen.</p>
13[1. Kapitel]
Die Diagnose
Die Philosophie als diagnostisches Unternehmen. – Interpretieren und heilen – Der Philosoph soll sagen, was ist.
Schon seit einiger Zeit – seit Nietzsche?, noch früher? –
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hat die Philosophie zum Teil eine Aufgabe bekommen, die ihr bislang nicht vertraut war: die Aufgabe zu diagnostizieren.a , 1 An einigen spürbaren Zeichen erkennen, was vor sich geht. Das Ereignis ausfindig machen, das in dem Gemurmel rumort, das wir nicht mehr hören, da wir uns so daran gewöhnt haben. Sagen, was in dem, was man jeden Tag sieht, zu sehen ist. Plötzlich die graue Zeit, in der wir uns befinden, ins Licht rücken. Den Augenblick prophezeien.
Doch ist das eine so neue Funktion? Indem sie sich als diagnostisches Unternehmen versteht, indem sie sich dieser so empirischen, so tastenden, so abweichenden und quer liegenden Aufgabe widmet, kann es durchaus den Anschein haben, dass die
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Philosophie vom Königsweg abkommt, der sie kennzeichnete, als es darum ging, das Wissen zu begründen oder zu vollenden, Aussagen über das Sein oder den Menschen zu machen. Tatsächlich könnte man ebenso gut sagen – oder sogar besser, da wir den Rückzug auf den Ursprung so mögen –, dass die Philosophie, indem sie zu einem diagnostischen Diskurs wird, zu ihrer alten Verwandtschaft mit den jahrtausendealten Künsten zurückfindet, die uns gelehrt haben, Zeichen zu erkennen, sie zu interpretieren, das verborgene Übel, das unerträgliche Geheimnis zu enthüllen, zu benennen, was im Herzen so vieler unklarer Worte majestätisch schweigt. Seit den Anfängen im griechischen Zeitalter hat der Philosoph nie den Anspruch zu14rückgewiesen, ein Seher zu sein, wenn auch nur ein wenig: Bei ihm gab es immer den Arzt und den Exegeten. Heraklit und Anaximander lehrten ihn, das Wort Gottes zu hören und das Geheimnis der Körper zu entschlüsseln. So lesen die Philosophen seit mehr als zweitausend Jahren Zeichen.
Wenn man sagt, dass die Philosophie heute die Aufgabe hat, zu diagnostizieren, will man dann etwas anderes, als sie an ihrer ältesten Bestimmung ausrichten? Was kann das Wort »Diagnose« bedeuten – die
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Idee von einer Erkenntnis, die durchdringt und unterscheidet –, wenn nicht einen gewissen Blick in die Tiefe, ein feineres Gehör, wachere Sinne, die über das Fühlbare, Hörbare und Sichtbare hinausgehen und schließlich unter dem Text die Bedeutung, im Körper das Übel im vollen Licht hervorkommen lassen? Lautete seit Beginn der griechischen Philosophie die Daseinsberechtigung des Philosophen nicht: interpretieren und heilen?2 In einem Diskurs, in dem sie fest miteinander verbunden wären, die Aussage des Sinns und die Bannung des Übels aufkommen lassen. In der gesamten abendländischen Kultur haben sich das Übel und der Sinn, dunkel oder offensichtlich, ständig gestützt, gestärkt, einander Halt gegeben und so eine Figur entworfen, die der Ort unserer Philosophie selbst und das Motiv war, immer wieder von neuem zu philosophieren. Weil das Übel des Vergessens, der Dunkelheit, des Falls und der Materie seinen Schleier ausgebreitet hat, hat der Sinn die anfängliche Erleuchtung verloren, in der er erstrahlte; er ist wieder in den Schatten getreten, und wir müssen anhand der Zeichen, die ihn zum Glück noch erkennen lassen, geduldig nach ihm Ausschau halten. Wenn wir uns bemühen, den Sinn wiederzufinden, ist es umgekehrt aber auch so
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, dass wir ihn beharrlich dazu bringen wollen, zu sagen, wie dieses Übel und dieses Vergessen über uns gekommen sind und wie wir die (nur für Momente überbrückte) Kluft für immer verringern können, die uns von der ganz gegebenen Fülle des Sinns trennt. Und wenn es unter allen Formen, die uns angeboten werden, nicht diesen dumpfen Druck des Sinns gäbe, würden wir dann jemals wissen, dass wir zur Dynastie des Übels 15gehören? Ohne das Übel wäre der voll entfaltete Sinn kein Sinn mehr, sondern die Gegenwart des Seins selbst; und ohne diesen untergründigen, aber aktiven Sinn würde das Übel in den Schlaf sinken und spurlos in der betäubenden Süße unseres Seins verschwinden.
Dies war der Spielraum, den das Abendland der Philosophie eingeräumt hat. Hier wurde vor jeder Metaphysik die Beziehung der Philosophie zu Gott und vor jedem Idealismus ihre Beziehung zum Guten hergestellt. Hier hat sich der Philosoph die Doppelrolle des letzten Interpreten und des Seelenheilers zugelegt. Trotzdem sollten wir nicht annehmen, dass die Philosophie, indem sie mit Descartes zum wahren Diskurs über die Wahrheit wurde, mit der alten Verwandtschaft mit der Exegese und der Therapie gebrochen hat; denn schon die Idee von einer Wahrheit, die weder durch die Wahrnehmung noch durch das Wissen vor dem Irrtum bewahrt und mit Sicherheit
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gewährleistet werden kann, setzt eine erste, aber unsichtbare Ordnung der Wahrheit voraus, die wiederhergestellt werden muss, um die Gefahr der Täuschung zu bannen und ihr Verständnis angemessen zu leiten. Wir sollten auch nicht annehmen, dass sich die moderne Philosophie seit Hegel von dem so schwer zu überwindenden Spiel zwischen dem Sinn und dem Übel befreit hat: Jedes Wort, das uns zur Wahrheit über uns selbst zurückführen, uns aus unserem Vergessen erwecken, die grundlegenden Akte unserer Erkenntnis wiederbeleben, den ursprünglichen Grund oder die Authentizität der Existenz wiederfinden, das ganze abendländische Schicksal ausgehend von der Verbergung des Seins wiederherstellen will3 – jedes Wort, das diese Ziele hat, will noch immer interpretieren und heilen. So schwer fällt es uns in der abendländischen Kultur, uns von dem zu befreien, was uns vor Jahrtausenden in Milet, Kroton und Chios verordnet wurde.4 Wir philosophieren unwiderruflich zwischen Gott und der Krankheit; zwischen dem, was wir hören, und dem, was wir erleiden; zwischen dem Wort und dem Körper. Wir philosophieren sowohl über ihre extreme Nähe als auch über die Kluft, die sie trotz allem trennt. Dort, an diesem privilegier16ten Ort, an dem der seltsame Diskurs des Philosophen geboren wird, zeichnen sich
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die ihn besetzenden Formen ab, leuchten und erlöschen: der Tod, die Seele, die Wahrheit, das Gute, das Grab und das Licht der Sinne, die freie Existenz des Menschen. Damit die abendländische Philosophie existiert, wie sie existierte, bedurfte es dieser Kontamination von Körper und Sprache, der Verflechtung des im Körper sichtbaren und verborgenen Übels mit dem in der Sprache verborgenen und zum Ausdruck gebrachten Sinn. Und auch wenn in den meisten Kulturen der Arzt und der Priester kaum weit voneinander entfernt sind, reichte ihre Nachbarschaft meist nicht, um die dritte Figur des Philosophen entstehen zu lassen; das heißt, dies hat nicht irgendeine Nähe bewirkt; es war, ganz genau gesagt, notwendig, dass der Priester derjenige war, der eine andere Sprache hört, und der Arzt derjenige, der das Innere des Körpers durchschaut. Nur unter dieser doppelten Voraussetzung hat das Abendland jene große Allegorie der Tiefe begründet, in der wir das, was wir Philosophie nennen, zu erkennen pflegen.5
Wenn es stimmt, dass die Philosophie sich jetzt die Aufgabe zuerkennt, ein diagnostischer Diskurs zu sein, macht sie zweifellos nicht mehr, als genau das anzuerkennen, was sie schon immer war. Und dennoch ist
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dies in Bezug auf ihre Geschichte keine reine Redundanz, und es ist, kurz gesagt, auch kein Rückzug auf den wiedergefundenen Ort ihres Ursprungs. Wenn sich die heutige Philosophie der Diagnose widmet, besteht das Paradoxon darin, dass sie der ineinandergeschlungenen Figur von Sinn und Übel entkommt – zu entkommen beginnt. Sie steht vor der seltsamen Aufgabe, eine Diagnose zu stellen, die keine Interpretation und deren Ziel nicht die Therapie wäre. Daher kommt es...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2024 |
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Übersetzer | Andrea Hemminger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Le discours philosophique |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Bücher Neuererscheinung • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Le discours philosophique deutsch • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Philosophiegeschichte • posthum • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • unveröffentlicht • Vorlesung |
ISBN-10 | 3-518-77881-1 / 3518778811 |
ISBN-13 | 978-3-518-77881-4 / 9783518778814 |
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