Daten verstehen (eBook)
270 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-0150-3 (ISBN)
Dr. Jörg Schlömerkemper (geb. 1943) ist Prof. i.R. für Erziehungswissenschaft an der Gothe-Universität Frankfurt a.M.; Schwerpunkt neben Forscngsmethoden: Theorie der Erziehung und Bildung, Schulpädagogik und Bildungsreform
2. Prinzipielle Klärungen
In diesem umfangreichen Kapitel sollen grundsätzliche Frage diskutiert werden, die für ein differenzierendes und kompetentes Verständnis sozialwissenschaftlicher Forschung wichtig und zumindest hilfreich sind. Weil diese Einführung sich als Beispiel vor allem auf Fragestellungen der Pädagogik bezieht, soll zunächst geklärt werden, wie in diesem Feld begriffliche und konzeptionelle Fragen diskutiert werden und wie dabei insbesondre mit normativen Fragen umgegangen wird bzw. umgegangen werden sollte. Dabei spielt es in besonderer Weise eine Rolle, was erkenntnistheoretisch unter „Wahrheit“ verstanden werden kann. Ohne den prinzipiellen Anspruch aufzugeben, ist es doch sinnvoll, differenzierter nach möglichen Dimensionen und „Wirksamkeiten“ zu unterscheiden. — Das soll zunächst am Beispiel der „Pädagogik“ erörtert werden.
2.1 „Pädagogik“ — ein weites Feld?
Konzepte und Methoden der sozial-/humanwissenschaftlichen Forschung sollen in diesem Band am Beispiel „pädagogischer“ Themen und Fragestellungen dargelegt und verdeutlicht werden. Was ist zu erwarten, wenn ein bestimmter thematischer Ausschnitt herausgehoben werden soll? Gibt es eine Forschung, die spezifische Fragestellungen oder gar Qualitätskriterien der „Erziehung“ erfüllen soll? Welche Ansprüche könnten das sein? Oder geht es um einen Gegenstands- und Tätigkeits-Bereich, der sich lediglich inhaltlich von anderen Bereichen abgrenzen und erforschen lässt? Sind Konzepte und Methoden einer „pädagogisch“ orientierten Forschung auch für verwandte Bereiche relevant?
Solche Fragen lassen sich halbwegs eindeutig nur beantworten, wenn man sich an bestimmten normativen Anforderungen und Erwartungen orientieren will bzw. orientieren könnte. Das ist angesichts der Vielfalt und der Uneinheitlichkeit der in diesem Feld relevanten Begriffe und Konzepte allerdings kaum möglich bzw. rasch unbefriedigend, sobald andere Aspekte und Orientierungen ins Spiel gebracht werden. Wie man damit in wissenschaftlicher Perspektive umgehen kann, soll in den folgenden Schritte erörtert werden.
Zu der Frage, was das spezifisch „Pädagogische“ ausmacht, gibt es viele durchaus anspruchsvolle Erörterungen, auch normative Ableitungen wie auch gesellschaftliche und/oder bildungspolitische Setzungen. Nicht zuletzt ist der Begriff „pädagogisch“ sowohl mit sehr anspruchsvollen positiven Bewertungen wie auch mit abwehrend negativen Einschätzungen verbunden. Manchmal geht es um Humanität, Aufklärung, Menschenwürde und ähnliche Ziele, andererseits wird mit Pädagogik Dressur, Indoktrination und Anpassung verbunden. Pädagogik soll einerseits zur „Höherentwicklung der Menschheit“ und zur individuellen Entfaltung beitragen (was durchaus bedeuten könnte sich herrschenden Zwängen widersetzen zu sollen), andererseits ist pädagogisch für manche die „Einübung in die herrschenden Verhältnisse“ und die Unterwerfung unter diese.
Eine „pädagogische Forschung“, die sich an wissenschaftlichen Ansprüchen und Gütekriterien orientieren will bzw. sollte, wird sich angesichts dieser uneinheitlichen normativen Vorstellungen weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen dürfen. Sie wird vielmehr versuchen müssen, die Vielfalt solcher Orientierungen analytisch offenzulegen, sie in ihren Widersprüchen aufzuzeigen und diese Verhältnisse begrifflich so zu fassen, dass über „das Pädagogische“ differenziert und kritisch beraten werden kann, im konstruktiven Diskurs mögliche Perspektiven erarbeitet werden können bzw. ein nicht aufhebbaren Dissens transparent wird. In einem ersten Schritt soll der Begriff der „Pädagogik“ thematisch fassbar werden.
„Pädagogik“ wird mehr oder weniger bewusst unterschiedlich weit oder eng verstanden. Idealtypisch kann „Pädagogik“ verstanden werden …
- (1) als umfassender Begriff für alle Prozesse, die in irgendeiner Weise in der Beziehung zwischen den Generationen vonstatten gehen, ohne dass dies ausdrücklich mit durchdachten Intentionen verbunden ist,
- (2) als verallgemeinernde Deutung solcher Prozesse im Sinne von „Erfahrungen“ und „Theorie“ im umgangssprachlichen Verständnis,
- (3) als erkenntnistheoretisch-kritische Reflexion solcher Deutungen und als methodisch-fundierte empirische Analyse praktischer Prozesse,
- (4) als theoretisch orientierte und methodisch fundierte professionelle Praxis.
Nach dieser Unterscheidung kann „pädagogische Forschung“ ebenfalls vielfaltig verstanden werden …
- (1.) als Forschung, die sich thematisch auf alle Prozesse bezieht, die irgendwie mit dem Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu tun haben,
- (2.) als Versuch, umgangssprachliche Deutungen pädagogischer Praxis in ihrer historischen Entwicklung zu systematisieren, begrifflich zu schärfen und ggf. zu kritisieren,
- (3.) als erkenntnistheoretisch anspruchsvolle kritisch-konstruktive Reflexion pädagogischer Prozesse, ihrer systematisierenden Deutung und der methodisch fundierten empirischen Analyse,
- (4.) als ebenso kritisch orientierte und methodisch fundierte pädagogische Professionalisierung bzw. Professionalität.
Pädagogische Forschung ist damit thematisch sowohl bezogen auf die alltägliche Praxis in informellen Bereichen (Familie etc.) wie in institutionalisierten Formen (Kitas, Schulen etc.), sie kann und soll dazu aber in Distanz treten und diese Prozesse und deren alltagsprachliche Deutungen kritisch reflektieren, damit professionelle Kompetenz auf das reflektierte Handeln in der Praxis zurück- und einwirken kann.
„Pädagogik“ oder „Erziehungswissenschaft“
Das Selbstverständnis pädagogischer Forschung und vor allem die unterschiedlichen Auffassungen werden deutlicher verständlich, wenn man sich ihre historische Entwicklung vergegenwärtigt. Das kann hier nur in groben Zügen geschehen.2
Es fällt auf, dass das Themenfeld, um das es hier gehen soll, mit den beiden Begriffen „Pädagogik“ und „Erziehungswissenschaft“ bezeichnet wird. Diese Dualität kennzeichnet zugleich Phasen, aber auch Kontroversen der historischen Entwicklung. Zunächst hat es Pädagogik nur als Teildisziplin bzw. als untergeordnete Fragestellung der Geisteswissenschaften gegeben. Inhaber entsprechender Lehrstühle – wie z.B. der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) oder der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) – waren verpflichtet, auch Vorlesungen über Pädagogik zu halten. Dem entsprechend wurden Fragen der Erziehung vor allem aus der Perspektive dieser Fachrichtungen erörtert. Erst 1779 wurde an der Universität in Halle ein eigenständiger Lehrstuhl eingerichtet, auf den Ernst Christian Trapp (17451818) berufen wurde. Er gilt zugleich als Begründer einer empirisch orientierten Pädagogik, die genau beobachten und beschreiben wollte. Aus der Perspektive seines Schwerpunktes in der Psychologie hat Johann Friedrich Herbart (1776-1841) wesentlich dazu beigetragen, dass die Pädagogik sich nachhaltig als akademische Disziplin etablieren konnte. Dominant blieb allerdings bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die geisteswissenschaftlich ausgerichtete Pädagogik. Deren Konzept wurde vor allem von Wilhelm Dilthey (1833-1911) erkenntnistheoretisch begründet. Wichtige Vertreter dieser Richtung waren u.a. Eduard Spranger (1862-1963), Herman Nohl (1879-1960), Wilhelm Flitner (1889-1990), Otto Friedrich Bollnow (19031991), Herwig Blankertz (1927-1983), Klaus Mollenhauer (1928-1998) und Hartmut v. Hentig (geb. 1925). Wolfgang Klafki (1927-2016) hat dieses Konzept in vielen Aspekten – vor allem mit Blick auf die Didaktik – weiterentwickelt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen Ansätze einer empirisch orientierten Pädagogik hinzu, für die vor allem Wilhelm August Lay (18621926) und Ernst Meumann (1862-1915) genannt werden müssen.
Während des NS-Faschismus haben Teile der Disziplin die völkischrassistische Ideologie unterstützt, weil sie hofften, dass ihre Ideal-Vorstellungen von „Gemeinschaft“ und ähnlichen Werten verwirklicht würden, sie waren aber blind für die menschenverachtenden Ziele der Herrschenden.
Nach der Befreiung vom Faschismus wurden diese Irrungen in der Disziplin nur zögerlich zum Thema. Man glaubte überwiegend, an den früheren Zielvorstellungen von Humanität, Individualität und Verantwortung anknüpfen zu können. Erst ab etwa 1965 wurde diese Kontinuität radikal infrage gestellt. Die jüngere Generation vor allem der damals Studierenden forderte eine grundlegende Analyse jener Prozesse, in denen diese Ideale pervertiert worden waren. Es wurde deutlich, dass Ideale und Ideologien nicht identisch sind, wenn nicht bewusst ist, welche heimlichen Ziele unter dem Deckmantel scheinbar unangreifbarer...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
Schlagworte | Bildungsforschung • Empirie • Kritik und Perspektiven • Statistik • Theorie |
ISBN-10 | 3-7597-0150-7 / 3759701507 |
ISBN-13 | 978-3-7597-0150-3 / 9783759701503 |
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Größe: 1,2 MB
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