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Was hat der Holocaust mit mir zu tun? (eBook)

37 Antworten

Harald Roth (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2014
Pantheon (Verlag)
978-3-641-12148-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was hat der Holocaust mit mir zu tun? -
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Der häufig geäußerten Behauptung, wir seien medial übersättigt von Nationalsozialismus und Holocaust, setzt Harald Roth dieses Buch entgegen. Durch seine Arbeit weiß er: Für viele Menschen stellt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine Erstbegegnung dar. Sie haben Fragen und sie erwarten Antworten. Harald Roth versammelt eine illustre Riege von Autoren, die sich jeder einem anderen Thema widmen von der Frage nach der Verjährung der Verbrechen bis zur Frage, ob Einwanderer an der Erinnerungskultur Deutschlands teilhaben sollen.

Mit den letzten Zeitzeugen verschwindet auch das Bewusstsein für den Holocaust in unserer Gesellschaft. Die Jahre 1933 - 45 sind kein Gesprächsthema mehr in den Familien. Generationen wachsen heran, die keinerlei Kontakt mehr zu Menschen haben, die damals Opfer oder Täter waren. Immer öfter hört man die Frage, gerade - aber nicht nur - von Jugendlichen: Was hat der Holocaust mit mir zu tun? Der Antwort kommt man nahe, indem man andere Fragen beantwortet: Wie werden »normale« Menschen zu Massenmördern? Hätte man den Holocaust verhindern können? Ist die Verfolgung der NS-Täter jetzt noch sinnvoll? Gab es überhaupt Liebe in jenen Zeiten des Hasses? Wie singulär ist der Holocaust?

Harald Roth hat prominente Beiträger ganz unterschiedlichen Alters und Hintergrunds versammelt, die reflektierte und zuweilen überraschende Antworten geben: Hans-Jochen Vogel, Inge Deutschkron, Wolfgang Benz, Alfred Grosser, Lena Gorelik, Aleida Assmann, Cem Özdemir, Ingo Schulze, Herta Müller und viele andere.

WOLFGANG SEIBEL

Was hat die »Banalität des Bösen« mit mir zu tun?

Ich erinnere mich an die frühe Zeit des westdeutschen Fernsehens. Damals gab es dort, wo ich in der Familie fernsehen konnte – das war nicht zu Hause, sondern bei meinen Großeltern mütterlicherseits in der Nähe von Hannover –, nur zwei Programme. Nicht etwa das Erste und das Zweite Programm, sondern unser westdeutsches Fernsehprogramm und das Programm der »Ostzone«, wie man damals allgemein die DDR nannte.

Den Sommer 1961, ich war noch nicht ganz acht Jahre alt, verbrachte ich zusammen mit meinen Schwestern bei meinen Großeltern, die den großen Haushalt eines Forsthauses mit angeschlossener Landwirtschaft führten. Während dieser Zeit gab es jeden Abend nach der »Tagesschau«, die schon damals um 20 Uhr gesendet wurde, eine Sondersendung unter dem Titel »Eine Epoche vor Gericht«. Ähnlich den heutigen Sendungen unter dem Titel »Brennpunkt«, die im Anschluss an die »Tagesschau« im Ersten Fernsehprogramm nach besonderen Ereignissen oder auch nach Naturkatastrophen ausführlicher berichten, wurde Abend für Abend etwas gezeigt, was ich zum damaligen Zeitpunkt nicht verstand und im Übrigen auch nicht besonders spannend fand: Ein Mann, vielleicht so alt wie mein Großvater, saß in einem Glaskasten mit schwarzen Kopfhörern auf den Ohren. Dann sah man Männer in langen schwarzen Gewändern, die ihm Fragen stellten, und der Mann antwortete. Die Fragen wurden in einer fremden Sprache gestellt und wohl simultan übersetzt, daher die Kopfhörer – aber das begriff ich erst später. Der Mann in dem Glaskasten antwortete auf Deutsch.

Ich hatte keinen Schimmer, was das bedeutete oder wer der Mann in dem Glaskasten war. Die Erwachsenen aber verfolgten diese Sendung, die vielleicht 10 bis 15 Minuten dauerte, meist schweigend, aber konzentriert. Vielleicht fiel auch einmal der Name des Mannes in dem Glaskasten mit den schwarzen Kopfhörern. Aber dass es sich um Adolf Eichmann handelte, habe ich erst Jahre später begriffen. Noch heute halte ich es für bemerkenswert, dass das westdeutsche Fernsehen der regelmäßigen Berichterstattung über den Eichmann-Prozess in Jerusalem einen so prominenten Platz einräumte. Das schüttet etwas Wasser in den Wein derjenigen, die noch heute meinen, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus habe erst mit und infolge der 68er-Bewegung begonnen. Das DDR-Fernsehen berichtete nicht im Entfernten so ausführlich über den Eichmann-Prozess. Dort hing man einer ähnlichen Ideologie an, wie sie auch in Westdeutschland lange dominierte: dass die Massenverbrechen des Nazi-Regimes von einer kleinen Clique – in der DDR sagte man: von Faschisten, im Westen: von SS und Gestapo – verübt worden waren und dass der gemeine Mann nicht das Geringste damit zu tun gehabt habe. Keiner fragte, wie die Registrierung, Kennzeichnung, Ausplünderung, Verhaftung, Verschleppung und Ermordung von sechs Millionen Menschen von einer kleinen Clique hätten organisiert und vollstreckt werden können. Die Illusionen hinsichtlich der wirklichen Verankerung des Verbrechens in der Gesellschaft wurden auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze geteilt. Dabei hätte der Eichmann-Prozess gerade in dieser Hinsicht lehrreich sein können, wenn man tatsächlich von ihm hätte lernen wollen.

Von den Diskussionen, welche der Eichmann-Prozess in den USA durch die Berichterstattung von Hannah Arendt in der Zeitschrift »The New Yorker« auslöste, nahm man in Deutschland noch weniger Kenntnis. Die Essenz von Arendts Artikelserie ist berühmt geworden unter der Formel »Die Banalität des Bösen«. Das wurde ihr als exemplarische Verharmlosung der Täter ausgelegt. Es gelang Hannah Arendt damals auch in den USA nicht, ihre eigentliche Botschaft zu übermitteln. Die hatte ihre Wurzeln in ihrer schon 1951 vorgelegten Theorie totaler Herrschaft. Ihr Argument war, dass die Handlanger eines totalitären Systems, gleich ob es sich dabei um ein kommunistisches oder um ein faschistisches bzw. nationalsozialistisches System handelte, die ideologischen und politischen Ziele des Regimes nicht notwendigerweise teilen mussten, um sich an dessen Gewalttaten zu beteiligen. Vielmehr, so Arendt, entfalte sich totale Herrschaft gerade dadurch, dass die Handlanger und Mittäter aus der banalen Routine ihres Alltagshandelns heraus in dem Moment an den Verbrechen des Regimes mitwirkten, wo dieses Regime im Interesse der eigenen Stabilität gesellschaftliche Feindbilder zu Lasten von Minderheiten definierte. Totale Herrschaft habe ihre Ursprünge in der Mitte der Gesellschaft, weil sie ohne die Mitwirkung zahlreicher unpolitischer und ideologisch bestenfalls schwach motivierter Menschen ihr Gewaltpotential gar nicht entfalten könne. In diesem Sinne schrieb Hannah Arendt dann zehn Jahre später in ihrer Artikelserie im »New Yorker«: Eichmann sei so »schockierend normal«. Was sie damit ausdrücken wollte, war das Gegenteil einer Verharmlosung: nämlich dass die Normalität Eichmanns »weitaus schockierender war als all seine Verbrechen zusammengenommen« – weil diese Normalität des Täters Eichmann bedeutete, dass keiner von uns normalen Menschen unter vergleichbaren Umständen gegen die Versuchung oder gar die Realisierung der Mittäterschaft am Massenverbrechen gefeit gewesen wäre. Es brauchte weitere 30 Jahre, bis in der Forschung zum Holocaust (den man zur Zeit des Berichts von Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess in Jerusalem noch lange nicht so nannte) ein ähnlicher Gedanke Prominenz gewann, und zwar mit Christopher Brownings Buch über die »normalen Männer« des Reserve-Polizei-Bataillons 101, die in Polen mit immer größerer Routine Massenerschießungen von Juden durchgeführt hatten.

Mit Hannah Arendt und Christopher Browning muss man noch immer einwenden, dass die Schwellen zur Mittäterschaft vermutlich weitaus niedriger und die banalen Alltagsmotive, auf die das Mitwirken am Massenverbrechen sich gründete, allgegenwärtiger waren, als eine wie auch immer geartete mörderische Ideologie es hätte sein oder bewirken können. Was Hannah Arendt am Beispiel Adolf Eichmanns deutlich zu machen versuchte, war dies: Gerade dadurch, dass man kein Monster sein musste, um an der Judenverfolgung mitzuwirken, konnte sich, was als Stigmatisierung und Diskriminierung begann, in ein monströses Massenverbrechen steigern.

Diese nur scheinbar paradoxe Einsicht ist von zentraler Bedeutung nicht nur für das Erklären und Verstehen des Holocaust, sondern auch für das praktische Wirksamwerdenlassen der daraus gezogenen oder zu ziehenden Lehren. Wenn man sich an den Gedanken gewöhnt, dass sich Massenverbrechen nicht als solche ankündigen, sondern erst durch die Mitwirkung normaler Menschen mit banalen Motiven zu Massenverbrechen werden, versteht man besser, wie sie entfesselt werden und was ihre Vernichtungsdynamik tatsächlich ausmacht. Natürlich gehört dazu, dass zuvor eine Zielgruppe in der Gesellschaft als ›schädlich‹ oder ›feindlich‹ definiert wurde und dass politische Autoritäten oder gar der Staat durch Propaganda und Gesetzgebung diese Diskriminierung definieren und legitimieren. Dies trägt wesentlich dazu bei, Umstände und Maßnahmen als normal erscheinen zu lassen, die es in Wirklichkeit nicht sind. Also zum Beispiel die eigenen Nachbarn, mit denen man jahrzehntelang Tür an Tür gelebt hat, mit einem Mal als Angehörige einer solchen Zielgruppe zu betrachten und ihrer Diskriminierung keinen Widerstand – jedenfalls keinen äußeren – entgegenzusetzen. Kommen dann banale Motive des Mitwirkens an Verfolgung und Verbrechen hinzu – der Konformitätsdruck einer Gruppe, berufliche Routine oder beruflicher Ehrgeiz, Bereicherungsmöglichkeiten, Wohnungsnot oder auch nur das Begleichen alter Rechnungen –, können sich Verfolgung und Vernichtung buchstäblich von einem Tag auf den anderen in der Breite einer Gesellschaft Bahn brechen. Dazu sind dann keine ideologischen Indoktrinationen oder Umerziehungen und noch nicht einmal Befehl und Gehorsam erforderlich.

Diese Mechanismen erklären nicht nur die Entfesselung des Holocaust als ein arbeitsteiliges Massenverbrechen, an dem Hunderttausende ›normaler‹ Menschen aus banalen Motiven mitgewirkt haben, sondern auch andere Völkermorde wie den an der ethnischen Minderheit der Tutsi in Ruanda 1994, die Mitwirkung von Millionen junger Menschen an der Verfolgung und Ermordung ihrer eigenen Lehrer und Professoren während der chinesischen Kulturrevolution ab 1967, die Mobilisierung einer Gesellschaft von Mittätern bei der Verfolgung und Ermordung von rund 1,7 Millionen Menschen (einem Fünftel der Bevölkerung) in Kambodscha 1975 bis 1979 oder die Implosion einer multiethnischen Gesellschaft und die Entfesselung der Gewalt zwischen vormals friedlich zusammenlebenden Nachbarn in Jugoslawien ab 1991.

Die zweite Schlussfolgerung, die aus der einfachen, aber fundamentalen These Hannah Arendts von der Banalität des Bösen gezogen werden muss, betrifft unsere eigene Urteilskraft. Wenn es alltägliche Umstände, normale Menschen und banale Motive sein können, aus denen die Mitwirkung an Massenverbrechen entsteht, ist der Moment, in dem man Nein sagen müsste, nicht einfach zu bestimmen. Nicht nur die Tatsache, dass viele Menschen in der engeren sozialen Umgebung keine Skrupel zeigen, macht ein solches Urteil schwierig, sondern auch die selbstverstärkenden Effekte eines Massenverbrechens, die das Neinsagen umso kostenträchtiger erscheinen lassen, je später man einsieht, dass das Nein eigentlich unausweichlich ist. Gegen den Strom zu schwimmen und das auf eigenes Risiko oder das der eigenen...

Erscheint lt. Verlag 13.1.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antisemitismus • Auschwitz • eBooks • Erinnerungen • Erinnerungskultur • Geschichte • Geschichtspolitik • Geschichtsunterricht • Holocaust • Judenverfolgung • Jüdisches Leben in Deutschland • Jugendliche • Konzentrationslager • Nationalsozialismus • Rechtsradikalismus • Schule • Shoah • Shoah, Nationalsozialismus, Widerstand im Nationalsozialismus, Vergangenheitsbewältigung, Konzentrationslager, Auschwitz, Antisemitismus, Jüdisches Leben in Deutschland, Erinnerungen, Erinnerungskultur • Sinti • Vergangenheitsbewältigung • Widerstand im Nationalsozialismus • Zeitzeugen
ISBN-10 3-641-12148-5 / 3641121485
ISBN-13 978-3-641-12148-8 / 9783641121488
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