Das Echo der Zeit (eBook)
464 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12288-6 (ISBN)
Jeremy Eichler, geboren 1974, preisgekrönter Kritiker und Kulturhistoriker, ist Chefkritiker für klassische Musik beim Boston Globe. Zuvor war er Kritiker bei der New York Times. Er wurde an der Columbia University in moderner europäischer Geschichte promoviert.
Jeremy Eichler, geboren 1974, preisgekrönter Kritiker und Kulturhistoriker, ist Chefkritiker für klassische Musik beim Boston Globe. Zuvor war er Kritiker bei der New York Times. Er wurde an der Columbia University in moderner europäischer Geschichte promoviert.
Kapitel 1
Die Emanzipation der Musik
Und gewiß ist’s nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich in’s dunkle Erdreich. Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen sein Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.
Walter Benjamin, »Ausgraben und Erinnern«[1]
Geschichten kläglichen Ausgangs haben auch ihre Ehrenstunden und -stadien, und es ist recht, daß diese nicht vom Ende gesehen werden, sondern in ihrem eigenen Licht; denn ihre Gegenwart steht an Kraft nicht im mindesten nach der Gegenwart des Endes.
Thomas Mann, Joseph und seine Brüder[2]
Es ist das Knistern und Knacken der alten Platte, das zunächst ans Ohr dringt. Dann erst kommt der Klang des Streichorchesters, das polternd zum Leben erwacht. Johann Sebastian Bach komponierte die Musik, die jetzt durch meine Kopfhörer strömt – das Konzert für zwei Violinen d-Moll, auch ›Bach-Doppelkonzert‹ genannt –, vor über dreihundert Jahren. Mithilfe heutiger Technologien können wir die Klänge von Bachs verschwundener Welt heraufbeschwören, indem wir ein paar Mal auf einen Glasbildschirm tippen, aber diese magische Möglichkeit der Wiedergabe, die zur banalen Gewohnheit geworden ist, bildet nur das finale Glied einer längeren Kette von Mysterien, die mit einer simplen, aber umso wundersameren Tatsache zusammenhängen: dass ein musikalisches Werk als tragbares Archiv der Emotion und Bedeutung, der Geschichte und Erinnerung völlig intakt durch die Jahrhunderte reisen kann.
Diese Aufnahme wurde von einer Gruppe Musiker am 29. Mai 1929 in Wien eingespielt.[3] Das Knistern und Knacken ist rein technisch gesehen das Resultat von Staub in den Schallplattenrillen, nur können wir es mit den Worten des Dichters Osip Mandelstam auch als »Rauschen der Zeit« interpretieren, als Niederschlag der großen zeitlichen Distanz, die diese Musik wie das Licht eines weit entfernten Sterns zurückgelegt hat, um uns heute zu erreichen.[4]
Im Anschluss an die Orchestereinleitung setzen nacheinander die zwei Violinstimmen mit ihren markanten Intervallsprüngen ein; die beiden Geiger spielen energisch, aber doch mit einer aristokratischen Eleganz und honigsüßem Ton. Im langsamen Satz des Konzerts tauschen sie in einem Dialog der Wehmut und schmerzhaften Schönheit langgedehnte Phrasen aus. Herz und Verstand können in solchen Momenten jedoch im Widerspruch stehen, und man darf sich durchaus fragen, wie viel von diesem Schmerz von Bach oder von den Musikern kommt – und wie viel von uns? Wir neigen dazu, Vorkriegsaufnahmen wie diese mit Ohren zu hören, die bereits im Besitz unseres Wissens um die baldige Katastrophe sind. Das kann der Musik ein zusätzliches Pathos verleihen, wie bei einem alten Foto einer geliebten Person, die noch nichts von der Zukunft ahnt, von der wir heute wissen, dass sie ihr so oder so bevorstand. Hören wir diese Aufnahme aber genau an, verliert die Musik etwas von ihrer Schwere. Diese beiden Solisten verzichten darauf, die natürliche Wehmut des Werkes noch zu verstärken. Ihre Phrasen sind nach vorne gerichtet, nicht nach hinten. Tatsächlich handelt es sich bei den beiden um Vater und Tochter – Arnold und Alma Rosé –, und im Jahr 1929 haben sie kaum Anlass zur Wehmut. Der Dirigent ist Almas Bruder Alfred Rosé. Ihre Namen sind heute nur noch einem kleinen Kreis von Kennern und Liebhabern bekannt. Aber es lohnt sich, sie in Erinnerung zu rufen, genau wie die Geschichte des Versprechens, das sich hinter diesen Tönen verbirgt.
Arnold Rosé (ursprünglich Rosenblum) wurde 1863 im nordöstlichen Rumänien in eine jüdische Familie hineingeboren.[5] Vier Jahre später, 1867, hob eine neue Verfassung viele der rechtlichen Einschränkungen auf, denen die Juden des Habsburgerreiches unterlagen, und die Familie Rosé migrierte ins westlich gelegene Wien, wo der junge Arnold erstaunlich schnell in das musikalische Firmament der Stadt aufstieg. Nachdem er bereits mit siebzehn Jahren im Wiener Hofopernorchester eine leitende Funktion übernommen hatte, wurde er zum gefeierten Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, eine Position, die er mehr als fünfzig Jahre lang beibehielt. Verehrt von Königen und Kaisern, verkörperte er das musikalische Wien mit unvergleichlicher Würde: Oft hüllte er sich in ein Cape und fuhr mit einer Hofkutsche zu den Aufführungen in der Oper. Noch als relativ junger Mann heiratete er in den musikalischen Hochadel ein, indem er Justine Mahler ehelichte, die Schwester des Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler.
Neben seiner Tätigkeit mit den Philharmonikern erlangte Rosé auch europaweiten Ruhm mit dem von ihm gegründeten Rosé-Quartett, dem bekanntesten Kammerensemble jener Epoche. Geprägt durch Rosés musikalische Seriosität setzte das Streichquartett neue Standards in seinem Bereich und wurde dementsprechend von den Koryphäen der Zeit mit Uraufführungen betraut, darunter auch Brahms, der dabei selbst Klavier spielte. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts absolvierte Rosé auf Drängen Mahlers hin auch aufsehenerregende Aufführungen radikal neuer Werke des jungen, verwegenen Komponisten Arnold Schönberg.[6] Die beiden Arnolds hatten allerdings mehr miteinander gemein als nur die Hochachtung Mahlers.
Schönberg, der 1874 in Wien als Sohn eines Schuhmachers zur Welt kam, wuchs in den stürmischen Jahrzehnten heran, in denen die neue Zeit, das Goldene Zeitalter des österreichischen Liberalismus, in ihren letzten Zügen lag. Da Schönberg sich voll und ganz der Ästhetik der Avantgarde verschrieb, war sein Weg an die Spitze der deutschen Kultur gewundener als der von Rosé, wenngleich nicht weniger beeindruckend. Kühn schwang er sich zum Propheten einer Musik der Zukunft auf und führte diese Kunstform in ihr atonales Gelobtes Land – dies jedoch nicht als Jude, sondern als Deutscher, der zum Protestantismus konvertiert war und sich vehement für alles Teutonische einsetzte. Als er dann 1921 seine genialste Entdeckung machte – die Zwölftontechnik der Komposition –, verkündete er stolz, diese würde für das nächste Jahrhundert die Zukunft der deutschen Musik sicherstellen.[7]
Rosé und Schönberg. Auf unterschiedliche Art und Weise waren die beiden Arnolds perfekte Verkörperungen eines ganz besonderen jüdischen Traums des 19. Jahrhunderts: des Traums von der Emanzipation durch Kultur. Es war dies ein Traum, der vor allem durch den Glauben an Bildung greifbar wurde. ›Bildung‹ bezeichnet das Ideal der persönlichen Veredelung durch eine humanistische Erziehung, einen Glauben an das Vermögen von Literatur, Musik, Philosophie und Dichtung, das Ich zu erneuern, die moralischen Empfindungen zu formen und den Menschen zu einem Leben der ästhetischen Anmut zu leiten.[8] Das Wunder der Bildung bestand für die Familien der beiden Arnolds – und zahllose andere Juden, die das Glück hatten, den langsamen Wegfall der mittelalterlichen Beschränkungen zu erleben – zumindest theoretisch darin, dass jeder diese Ideale der persönlichen Verwandlung auf den Flügeln der Kultur verfolgen konnte. Das Leben in Würde, das die Bildung implizit versprach, war offen für alle, und zwar unabhängig von der jeweiligen Herkunft und Abstammung (dies natürlich nur, solange man männlich war). Um die spannende Entstehung dieses besonderen Traums nachverfolgen zu können (auf den dann seine schmerzhafte Verdunkelung folgte), muss man zunächst die Rolle betrachten, die die Musik für die Emanzipation der deutschen Juden spielte – und die Rolle der Juden, die sich dafür mit der Emanzipation der deutschen Musik bedankten.
In ihrer Reise von den Ghettos in die städtische Mittelschicht verfolgten viele deutschsprachige Juden das Bildungsideal als eine Art Ersatzreligion, mit der ganz neue Propheten und Heilige Schriften einhergingen. Manche Familien änderten ihren Nachnamen in ›Schiller‹, um dem großen Dichter die Ehre zu erweisen, und für jüdische Jungen war es ganz normal, zur Bar Mitzwa ein paar Bände mit den Schriften Goethes geschenkt zu bekommen, ganz als würde das darin enthaltene Wissen die Bürden einer Vergangenheit der Verfolgungen erleichtern.[9]
Rückblickend erliegt man leicht der Versuchung, die Begeisterung, mit der so viele Juden ihren Glauben in die befreienden Kräfte der deutschen Hochkultur setzten, zu kritisieren oder gar zu verspotten. Dieser Glaube, so wird argumentiert, war...
Erscheint lt. Verlag | 19.4.2024 |
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Übersetzer | Dieter Fuchs |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | Arnold Rosé • Arnold Schönberg • Aufklärung • Benjamin Britten • Bildung • Bildungsbürgertum • Buch • Buchenwald • Carl Friedrich Zelter • Der Rosenkavalier • Erster Weltkrieg • E.T.A. Hoffmann • Felix Mendelssohn Bartholdy • geschenk für den freund • Geschenk für Historiker • Goethe • Gustav Mahler • Hofmannsthal • Holocaust • Hugo von • Lessing • Ludwig van Beethoven • Metamorphosen • Mnemosyne • Musik • Nationalsozialismus • neuerscheinung 2024 • Neues Sachbuch 2024 • Richard Wagner • Robert Schumann • Schostakowitsch • Stefan Zweig • Strawinsky • Theodor W. Adorno • Verklärte Nacht • Walter Benjamin • Weihnachtsgeschenk • Weimarer Klassik • Weimarer Republik • W.G. Sebald • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-12288-5 / 3608122885 |
ISBN-13 | 978-3-608-12288-6 / 9783608122886 |
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