Kaltes Krematorium (eBook)
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491822-8 (ISBN)
Joszéf Debreczeni, geboren 1905, war ein ungarischer Schriftsteller und Journalist. 1944 wurde er als Jude nach Auschwitz deportiert. Zwölf Monate lang erlebte er die Hölle der nationalsozialistischen Lager, am Ende kam er in das 'Kalte Krematorium', die Krankenbaracke des Lagers Dörnhau. Kurz nach der Befreiung verarbeitete er seine Erlebnisse in einem literarischen Bericht. Er blieb im damaligen Jugoslawien und starb 1978 in Belgrad.
Joszéf Debreczeni, geboren 1905, war ein ungarischer Schriftsteller und Journalist. 1944 wurde er als Jude nach Auschwitz deportiert. Zwölf Monate lang erlebte er die Hölle der nationalsozialistischen Lager, am Ende kam er in das "Kalte Krematorium", die Krankenbaracke des Lagers Dörnhau. Kurz nach der Befreiung verarbeitete er seine Erlebnisse in einem literarischen Bericht. Er blieb im damaligen Jugoslawien und starb 1978 in Belgrad. Timea Tankó, 1978 geboren, übersetzt aus dem Ungarischen und Französischen, u.a. Ádám Bodor, Andor Endre Gelléri und Claudie Hunzinger. Für ihre Übersetzung »Apropos Casanova« von Miklós Szentkuthy erhielt sie 2021 den Preis der Leipziger Buchmesse. Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«. Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University. Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ›Von den Kriegen. Briefe an Freunde‹, ›Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF‹, ›Wie wir begehren‹, ›Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit‹ sowie ›Gegen den Hass‹. »Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben.« Elisabeth von Thadden, Die Zeit »Gut also, dass mit dem Friedenspreis […] eine Autorin ausgezeichnet wird, die erfolgreich an der moralischen Aufladung der politischen Auseinandersetzung des öffentlichen Geredes arbeitet.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung Literaturpreise: »Das Politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005) Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises (2006) Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay für den Beitrag »Stumme Gewalt«, erschienen im »ZEITmagazin« vom 06.09.2007 (2008) Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2010 Deutscher Reporterpreis 2010 für die beste Reportage Journalistin des Jahres 2010 (ausgezeichnet vom ›medium magazin‹) Journalistenpreis für Kinderrechte der Ulrich-Wickert-Stiftung 2012 Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache (2014) Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2015) Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur (2015) Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016)
Erster Teil
1. Kapitel
Der lange Zug bestand aus niedrigen Güterwagen der Deutschen Reichsbahn. Als er bremste, raunten die benommenen, apathischen Menschen einander zu: »Wir halten an.«
Wir ahnten, dass wir uns dem Zielort näherten. Zweieinhalb Tage zuvor hatten wir in Bačka Topola in die Waggons steigen müssen und seitdem hatte der Zug nur zweimal für länger als einen Augenblick gehalten. Einmal hatte man uns durch einen handbreiten Spalt eine dünne Suppe hereingereicht. Beim zweiten Mal hielt der Zug auf freier Strecke. Quietschend öffneten sich die Türen und ein deutscher Feldjäger in grasgrüner Uniform herrschte uns an:
»Aussteigen! Zur Seite! Los, los!«[1]
Wir standen am Rande eines Wäldchens aus blühenden Bäumen. Wer weiß, wo wir waren: in Ungarn, der Slowakei oder Polen? Die grasgrünen Henkersknechte verkündeten, dass wir nun die Möglichkeit hätten, unsere Notdurft zu verrichten.
»Den Wald zu betreten ist verboten! Bei der kleinsten verdächtigen Bewegung wird geschossen!«
Hunderte von Menschen eilten stolpernd auf den begrenzten festgelegten Bereich zu. Die beinahe erloschenen Augen alter Frauen hatten sich in groteske Spiegel des Entsetzens verwandelt. Vor sechs Tagen hatten sie noch in ihren schönen alten Armstühlen gesessen und sich über das Sonntagsessen unterhalten. In den Wohnzimmern ihrer Häuser auf dem Land mit Blick auf den Garten Radio gehört und auf eine Nachricht von ihren Enkeln aus den Arbeitslagern gewartet.
Jüngere Frauen. Noch am Tag zuvor hatten sie sich Parfüm ins Dekolleté und auf die Arme gespritzt und beim Hinsetzen die Röcke sorgfältig über die Knie gezogen.
Mädchen. Von fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahren. Sie hatten gelernt, einen sittsamen Knicks zu machen, hatten daheim Schulbücher liegen und vielleicht in mit Bändern verschnürten Pralinenschachteln den einen oder anderen zaghaften Liebesbrief. Zwischen den Blättern von Poesiealben gepresste Wiesenblumen.
Männer. Alte und junge. Schuljungen und -mädchen, die sich mit großen Augen umsahen, strubbelige Jugendliche. Männer, erwachsene, alternde, greise. Sie alle rannten. Seit zwei Tagen hatten sie keine Gelegenheit gehabt, ihre Notdurft zu verrichten. Sie spreizten die Beine, hockten sich hin, gleichmütig wie Tiere. Der Urin sammelte sich in Pfützen. Die grasgrünen Feldjäger in ihren nagelneuen Uniformen behielten sie genau im Auge. In den frisch rasierten Gesichtern war keine Regung zu erkennen. Sie waren keine Menschen. Auch die Hockenden waren es nicht mehr.
Ich glaube, irgendwo in Osteuropa, entlang eines Bahndamms, an einem Waldrand voller blühender Bäume vollzog sich eine erstaunliche Metamorphose. Hier wurden die Menschen der plombierten Höllenzüge zu Tieren. So wie alle anderen, die Hunderttausenden, die der Wahnsinn aus fünfzehn Ländern in die Todesfabriken und Gaskammern spie.
Das war der Moment, in dem uns zum ersten Mal unsere aufrechte Haltung genommen wurde.
Wieder wurde der Zug langsamer.
Im Dunkel der Wagen regte sich das verbliebene Leben. In unserem Waggon zeigten von den sechzig menschlichen Wesen, die in Bačka Topola zusammengetrieben worden waren, noch sechsundfünfzig gewisse Anzeichen davon. Die meisten von uns stammten aus dem südlichen und mittleren Teil der Region Batschka. In einer Ecke des Wagens lagen aufeinandergeworfen die Leichen. Vier von uns hatte der tierische Schrecken, der Hunger, der Durst und der Luftmangel schon ausgelöscht. Herr Mandel, der alte Tischler, ein guter Freund meines Vaters, war der Erste gewesen. Er hatte die Möbel so mancher heiratsfähiger Mädchen der Gegend angefertigt, stets zuverlässig solide Arbeiten geliefert. Ich glaube, der alte Tischler starb daran, dass man ihm die Zigaretten weggenommen hatte. Sechzig Jahre lang hatte er täglich fünfzig Stück geraucht. Nie hatte man ihn ohne eine glühende Zigarette im Mundwinkel gesehen. Im Lager von Bačka Topola nahm man ihm dann nicht nur Schmuck und Geld, sondern auch den Tabakbeutel. Vierundzwanzig Stunden lang starrte Herr Mandel vor sich hin, störrisch, wie von Sinnen. Er starrte in die üblen Ausdünstungen der Menschen. Hin und wieder bewegte sich seine alte, von sechzig Jahren Arbeit mahagonibraun polierte Hand mechanisch. Als hielte sie eine Zigarette. Herr Mandel klemmte das Nichts zwischen den Zeige- und den Mittelfinger, führte die imaginäre Zigarette an die gespitzten Lippen und blies, wie ein Kind, das »Rauchen« spielt, sogar den Rauch aus. Nach Nové Zámky kippte der alte Kopf zur Seite. Sein Tod war kein Ereignis. Hier konnte der Tod nicht mehr als Ereignis wahrgenommen werden. Kraftlos legte Doktor Bakács aus Novi Sad kurz das Ohr an die abgetragene Fellweste und winkte apathisch ab. Er selbst sah auch nicht mehr gut aus. Womöglich dachte er, dass zwölf Stunden später ein anderer Arzt aus dem Wagen seinen Tod feststellen könnte.
Zwei Menschen verloren den Verstand und tobten über viele Stunden. Ihre blutunterlaufenen Augen traten aus den wächsernen Gesichtern hervor, Speichel schäumte ihnen aus dem Mund, sie kratzten die neben ihnen Sitzenden im Gesicht und griffen nach deren Augen. Als wir anhielten, um unsere Notdurft zu verrichten, schubsten die Feldjäger sie, zusammen mit einigen aus den anderen Wagen, ohne zu zögern in den Wald. Einige Minuten später hörten wir das Rattern der Maschinengewehre. Einer der Grasgrünen lachte laut und fett und spuckte aus.
Nein, wir sahen uns nicht an. Dafür waren wir schon zu lange unterwegs. Unterwegs wohin?
Ich wunderte mich ein bisschen über mich selbst. Diese Fahrt … Subotica, Budapest, Novi Sad. Ich lebte noch und hatte auch nicht den Verstand verloren, dieser Gedanke ging mir flüchtig durch den Kopf. Abgesehen davon dachte ich kaum nach. Dazu hätte ich – sosehr ich bei Sinnen geblieben war – ebenfalls eine Zigarette benötigt. Und die gab es nicht.
Durch das Zellenfenster des Waggons sah man auf die unruhig grüne Gischt des Balatons. An diesem windigen, verregneten ersten Mai spien die Wellenzungen angewidert dem Zug hinterher. Ich sah Nagykanizsa. Wir fuhren ohne Halt an der Stadt vorbei, dabei hatte der Polizist Nr. 6626 in Bačka Topola gesagt, dass man uns zum Arbeiten hierherbringen würde.
»Haben Sie keine Angst«, hatte uns Nr. 6626 heimlich zugeflüstert, »Sie fahren nach Nagykanizsa, werden dort in der Landwirtschaft arbeiten.«
Nr. 6626 war ein herzlicher, vernünftiger ungarischer Bauer. Zwar herrschte er die Internierten an, die auf dem Hof Kessel schleppten, Wasser aus dem Brunnen holten oder nur erschöpft herumstanden, doch dabei zwinkerte er uns – wenn die deutsche Wache nicht hinsah – wie Marci Kakuk schelmisch zu und schüttelte den Kopf.
Es war Mai 1944 und in dieser Zeit waren nicht mehr viele ungarische Bauern so vom Nazidunst benebelt, dass sie nicht gesehen hätten: Döme Sztójay, László Baky, László Endre, Béla Imrédy und die anderen Henker hatten das Spiel verloren. Jemand würde für das Blut, die Tränen, die Tritte zahlen müssen.
Doch Nr. 6626 hatte sich geirrt. Wir fuhren nicht nach Nagykanizsa.
Sinnlos schillerte das Wasser der Drau. Auf der anderen Seite lag das Kroatien Ante Pavelić’. Was gleichbedeutend war mit dem Eintritt in den Tod. Einfach so, mitten aus dem Leben heraus. Ich winkte ab, wie zehn Tage zuvor Herr Lendvai, mein ehemaliger Griechischlehrer, im Lehrerzimmer des Gymnasiums von Sombor gestanden, aus dem Fenster auf die Straße geblickt und abgewunken hatte. Wir mussten vor dem Gymnasium in die Lastwagen steigen. Ich stand schon auf dem Wagen. Mit Rucksack und einem selbstgemachten gelben Stern auf dem Mantel. In der vorgeschriebenen Größe. Herr Lendvai, in dessen Fach ich 1924 eine Eins gehabt hatte, sah, zusammen mit den anderen Lehrern, erstarrt auf den Lastwagen herunter. Unsere Blicke trafen sich, und Herr Lendvai winkte kaum merklich ab. Ich verstand, was er sagen wollte.
Das Ende der Welt ist gekommen, das Ende von allem, meinte die Geste.
Nenikekas Judaie … nenikekas Judaie …
Die Häftlinge spazieren über den großen Hof des Internierungslagers von Bačka Topola. Die Älteren gehen eiligen Schrittes, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Einige erkennen einander, lächeln sich mit feuchten Augen an. Beinahe die gesamte Redaktion des ehemaligen großen ungarischsprachigen Tagesblatts von Jugoslawien ist hier: Redakteure, Mitarbeiter, alte und neue. Über unsere Verzweiflung werfen wir den Schleier des Zynismus. Dem stämmigen, herzkranken Lajos Jávor ist sein ewiges Lächeln aufs Gesicht gefroren.
»Gestern wurden die Frauen und die Kinder eingesammelt«, sagt er und die blutleeren Lippen zucken, »in Subotica, Sombor, Novi Sad, überall. Alle haben sie mitgenommen.«
Der ehemalige Chefredakteur Dr. János Móricz, dem ich damals aufgeregt meine Erstlinge gezeigt hatte, wischt seinen Zwicker ab und wendet sich unwirsch an mich:
»Na, du Übersetzer, übersetze uns mal das in eine verständliche Sprache.«
Die Hoffnungslosigkeit steht nackt in den Blicken. In dem hässlichen roten Backsteingebäude liegen feuchte, kaputte Strohsäcke. Die Verfolgten sitzen auf Haufen von Koffern und Taschen und starren vor sich hin. Einige haben noch Zigaretten, sie haben sie bei der Ankunft vor den Schindern verstecken können. Sie...
Erscheint lt. Verlag | 27.11.2024 |
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Nachwort | Carolin Emcke |
Übersetzer | Timea Tankó |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | Augenzeugenbericht Konzentrationslager • Auschwitz Augenzeugenbericht • Auschwitz Überlebende • Autobiografie Holocaust • Erzählungen der letzten überlebenden Opfer der Shoah • Historische Zeugnisse der Shoah • Juden Überlebende • Juden Ungarn • Jüdische Geschichte • Literarische Erinnerungen an den Holocaust • Polen Zweiter Weltkrieg • Vernichtungslager • Zweiter Weltkrieg Osteuropa |
ISBN-10 | 3-10-491822-8 / 3104918228 |
ISBN-13 | 978-3-10-491822-8 / 9783104918228 |
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