Die Entscheidung (eBook)
640 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01068-0 (ISBN)
Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er war lange Jahre Feuilletonredakteur der «Süddeutschen Zeitung» und arbeitet seit 2021 am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Autor viel beachteter Bücher, darunter «Geboren am 13. August» (2004), «Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit» (2011) und «Berlin. Biographie einer großen Stadt» (2019). 2017 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.
Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er war lange Jahre Feuilletonredakteur der «Süddeutschen Zeitung» und arbeitet seit 2021 am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Autor viel beachteter Bücher, darunter «Geboren am 13. August» (2004), «Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit» (2011) und «Berlin. Biographie einer großen Stadt» (2019). 2017 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.
Prolog: «Mehr als ein Verlust: ein Unglück!»
Als die Nachricht vom Tod Gustav Stresemanns in der Redaktion der Wochenschrift Das Tagebuch eintraf, war die nächste Nummer bereits gesetzt, die Druckmaschinen liefen. Es blieben nur wenige Minuten, um «die Bedeutung des Verlustes» zu umreißen. So knapp die Bemerkungen ausfielen, so düster geriet das Bild der Republik nach dem Hingang ihres Außenministers: Wer «Gefühl für politische Wirklichkeiten habe», wisse seit langem, «daß eigentlich nur dieser eine Mann den Kitt zwischen den auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräften bildete, daß nur seine Person … eine ausschlaggebende Bürgerschicht im Lager der Verfassung und des Friedens hielt».[1] Eine Persönlichkeit, die diese Rolle in Zukunft übernehmen könne, sei nirgends zu entdecken; niemand sei in der Lage, Stresemanns Erbe anzutreten.
Nicht allein das Tagebuch sah im Tod des nationalliberalen Politikers ein Menetekel, ein nicht von allen verstandenes Anzeichen drohenden Unheils. «Mehr als ein Verlust: ein Unglück!» titelte die Vossische Zeitung am 3. Oktober 1929 in ihrer Abendausgabe.[2] Obwohl er fieberte, war der Einundfünfzigjährige am Tag zuvor noch in den Reichstag geeilt, um seine Fraktion, die der Deutschen Volkspartei (DVP), vom Sturz der Regierung abzuhalten. Der rechte Flügel, die schwerindustrielle Gruppe der DVP-Abgeordneten, wollte gegen ein Gesetz zur Reform der Arbeitslosenversicherung stimmen, was den sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller wohl das Amt gekostet hätte. Es brauchte aber eine stabile Regierung, das Bündnis von Sozialdemokraten und Bürgerlichen, um die Neuregelung der Reparationsfragen und die nächsten Schritte zur Revision des Versailler Vertrags nicht zu gefährden. Darüber wurde seit Monaten mit den Siegermächten des Weltkriegs verhandelt. Deswegen erschien der schwer Kranke am 2. Oktober persönlich im Reichstag. Ohne seine Autorität wäre im Sommer des Vorjahres die Große Koalition nicht zustande gekommen, nun musste er sie retten, was knapp gelang. Als ihm am Abend die Krankenschwester Mundwasser und Zahnbürste reichte, platzte ein Äderchen im Gehirn, er erlitt einen Schlaganfall, seine rechte Seite war vollständig gelähmt, er röchelte nur noch. Gegen 5.30 Uhr stellten die Ärzte fest, «daß der Tod eingetreten sei, ohne daß Stresemann das Bewußtsein wiedererlangt hatte».[3]
Die Nachricht löste einen Schock unter politisch Interessierten aus, sie verstärkte die oft diffusen Sorgen um die Stabilität der Weimarer Demokratie, verdüsterte die Aussichten für die kommenden Monate. Stresemanns Tod erlaubte es, das Unbehagen angesichts der politischen Entwicklungen, Unruhe wie Ratlosigkeit, mit einem konkreten Ereignis zu verbinden, das zum symbolisch bedeutsamen Moment wurde. Der vielgereiste Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler weilte Anfang Oktober 1929 in Paris und hörte dort beim Friseur, dass Stresemann gestorben sei. Die «Zeitungsfrau, der Mann an der Kasse des Grandhotel, die Kellner im Café de la Paix» sprachen ihm ihre Trauer aus: «‹C’est terrible cette disparition› ist der allgemeine Refrain. Ganz Paris empfindet seinen Tod wie ein fast nationales Unglück.» Es herrschte vor allem «Beunruhigung, was jetzt werden solle». Kessler befürchtete für die nähere Zukunft «sehr ernste innenpolitische Folgen, das Abrücken der Volkspartei nach Rechts, einen Bruch der Koalition, Erleichterung der Diktatur Bestrebungen».[4] Joseph Goebbels, damals NSDAP-Gauleiter Berlin-Brandenburg, schrieb siegesgewiss und unter Angabe einer falschen Todesursache in sein Tagebuch, dass Stresemann durch einen Herzschlag «hingerichtet» worden sei: «Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt. Gut so! Er hat sich dem kommenden Strafgericht entzogen!»[5]
Einige Tage darauf, nach den Nachrufen, verspottete Carl von Ossietzky in der Weltbühne die Einfallslosigkeit der Nekrologschreiber. Was solle, fragte er, «die ermüdende Versicherung der Presse aller Farben, daß ganz Deutschland ‹aufs tiefste erschüttert sei›»? Wer wisse schon, ob die Menschen erschüttert seien: «Aber die Verhältnisse, die unter der fünfjährigen Ministerherrschaft Stresemanns geschaffen worden sind, die sind ohne ihn in der Tat ernsthaft erschüttert.»[6]
Thomas Mann sollte zwölf Monate später unter völlig veränderten Bedingungen den Tod Stresemanns als ein echt deutsches Missgeschick beklagen, «ohne das uns vieles erspart geblieben wäre».[7] 1939 erinnerte sich Sebastian Haffner im englischen Exil an die «Stresemannzeit». Sie sei für jüngere Deutsche «die einzige Zeit» gewesen, «in der die Grundtonart des Lebens einmal nicht Moll, sondern ein, wenn auch etwas zages und verwaschenes, Dur war».[8] Der Tod des Außenministers galt ihm als «der Anfang vom Ende».[9]
Stresemann war wenige Wochen vor dem New Yorker Börsenkrach gestorben, also noch vor dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft, der Deutschland besonders hart traf. Verglichen mit dem, was dann kam, klangen die Befürchtungen Harry Graf Kesslers beinahe harmlos: Ein halbes Jahr nach Stresemanns Tod sollte die Regierungskoalition zerbrechen und einem Präsidialkabinett weichen, das am Reichstag vorbeiregierte und das parlamentarische System aushöhlte. Bereits im Herbst 1930 stellte die NSDAP, zu Lebzeiten Stresemanns eine Splitterpartei, die zweitstärkste Fraktion im Reichstag. Eine «ausschlaggebende Bürgerschicht» verließ das «Lager der Verfassung und des Friedens», während die Verteidiger der Republik die strategische Initiative nicht mehr zurückgewannen. Nur selten und punktuell fanden sie eine Antwort auf die Angriffe von rechts. Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die «deutsche Revolution» stieß auf überraschend wenig Widerstand.
Die Agonie der Republik begann in jenem Herbst 1929. Seit Monaten wuchs die Unruhe im Land, Bauern protestierten, bald waren über drei Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, rechte Parteien und nationalistische Verbände attackierten mit neuem Ingrimm die Verfassung, die Auslandsverschuldung war hoch, und ungewiss blieb, wie das Defizit im Reichshaushalt ausgeglichen werden sollte. Nun kulminierten lange schwelende Probleme. Jedes für sich hätte wohl gelöst werden können, ihr Zusammentreffen aber verstärkte bei einer wachsenden Zahl von Menschen den Eindruck, dass es so nicht weitergehen könne, ein Neubeginn notwendig sei. Das parlamentarische System wirkte wie gelähmt. «Die Sehnsucht nach Diktatur in irgendeinem Grade und in irgendeiner Form»[10] war weit verbreitet, wie der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Rüstow im Sommer 1929 in einer Diskussion mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt und dem liberalen Politiker Theodor Heuss festgestellt hatte. Sie grassierte nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas. Ungarn, Italien, Polen, Spanien, Jugoslawien wurden bereits autoritär regiert. Die Weimarer Republik konnte beinahe als Ausnahmefall einer funktionsfähigen parlamentarischen Demokratie gelten. Dass die Regierungen häufig wechselten, änderte an dem Befund wenig. Auch in Großbritannien und Frankreich folgten die Kabinette rasch aufeinander. Dort wie in Deutschland garantierten einzelne Minister, die immer wieder zum Zuge kamen, Kontinuität. Stresemann war das herausragende Beispiel dafür. Mit ihm hatte die deutsche Republik bedrohlichste Krisen, beinahe aussichtslose Situationen überstanden. Gerade seine Erfolge boten Grund genug für vernünftigen Optimismus. Dass einer wie er «Weimars größter Staatsmann» geworden war, sprach für die Lebensfähigkeit und die Integrationskraft der Republik, die sich von ihm mit einem großen Staatsakt verabschiedete.[11]
Stresemann war im August 1923 Reichskanzler geworden. Damals stand die Republik in der Tat am Abgrund.[12] Wegen ausbleibender Reparationszahlungen hatte Frankreich das Ruhrgebiet besetzt, der passive Widerstand dagegen ruinierte die Staatsfinanzen, die Hyperinflation vernichtete Vermögen und Vertrauen von Millionen. Das tägliche Überleben glich einem Hasardspiel, Normalität schien fern, alles in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik auf Treibsand gebaut. Separatisten riefen eine rheinische Republik aus, Kommunisten planten einen Aufstand. Im November putschte in München der Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff an der Seite des Bierkeller-Demagogen Adolf Hitler, um nach dem Vorbild Mussolinis mit einem Marsch auf Berlin die Regierungsgewalt zu okkupieren. Nur Uninformierte hätten auf den Bestand der Republik gewettet.[13]
Doch sie überlebte. In nur drei Monaten gelang es dem Kanzler Stresemann, den passiven Widerstand zu beenden, sich mit den Alliierten zu verständigen, die Angriffe der Extremisten abzuwehren, die Währung zu stabilisieren. Zwar unterlag er Ende November in einer Vertrauensabstimmung, aber er blieb von nun an Außenminister. Mit einer Reihe von Verträgen führte er die Weimarer Republik aus der außenpolitischen Isolation, erreichte eine Neuordnung der Reparationszahlungen, Frieden am Rhein, garantiert durch den Verzicht Deutschlands und Frankreichs auf die Anwendung von Gewalt, schließlich die Aufnahme des 1918 besiegten, in Versailles gedemütigten Landes in den Völkerbund. Dafür erhielten er und sein französischer Kollege Aristide Briand 1926 den Friedensnobelpreis....
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w-Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | 1933 • Babylon Berlin • Demokratie • Deutsche Geschichte • Diktatur • Faschismus • Goldene Zwanziger • Hindenburg • Hitler • Machtergreifung • Nationalsozialismus • NSDAP • Reichstagsbrand • Schwarzer Freitag • Weimarer Republik • Weltwirtschaftskrise |
ISBN-10 | 3-644-01068-4 / 3644010684 |
ISBN-13 | 978-3-644-01068-0 / 9783644010680 |
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Größe: 17,2 MB
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