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Essen als Ersatz (eBook)

Wie man den Teufelskreis durchbricht

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00938-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Essen als Ersatz -  Geneen Roth
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Geneen Roths Buch ist ein sehr praktischer, einfühlsamer, auch humorvoller Ratgeber für alle, die Essen in mehr oder weniger ausgeprätem Maße als 'Ersatz' benutzen - als Ersatz für andere, vermeintlich nicht zu befriedigende Bedürfnisse und Wünsche. Es hilft, Essverhalten positiv zu beeinflussen, den Teufelskreis des Essens als Ersatz als Ersatz zu durchbrechen und ein entspanntes, an den wirklichen Bedürfnissen des Körpers orientiertes Verhältnis zur Nahrungsaufnahme zu entwickeln.

Geneen Roth arbeitet als Therapeutin, u.a. mit Selbsthilfegruppen Essgestörter.

Geneen Roth arbeitet als Therapeutin, u.a. mit Selbsthilfegruppen Essgestörter. Gabriele Flessenkemper lebt und arbeitet in Köln und Italien als Buchautorin und Radiojournalistin. Neben zahlreichen Radiofeatures hat sie Sach- und Kinderbücher, Kurz- und Kriminalgeschichten veröffentlicht. www.gabriele-flessenkemper.de

1. Hungrig sein ist wie verliebt sein – wenn du es nicht spürst, bist du es auch nicht


«Während meines ganzen Erwachsenenlebens kann ich mich nur an zwei Male erinnern, wo ich wirklich hungrig war.»

Teilnehmerin eines Breaking-Free-Workshops

Vor ein paar Jahren, beim dritten oder vierten Treffen eines Breaking Free Workshops, erschien eine Teilnehmerin fast verzweifelt über sich, über die Arbeitsgruppe und über mich. Sie sagte: «Essen, wenn man hungrig ist – das ist wieder nur so eine Marotte, so eine Mode, wieder eine neue Diät, die irgendein Doktor erfunden hat. Es ist lächerlich.» Zustimmung und nervöses Gelächter im Raum, dann Stille. Sie fuhr fort: «Die erste Diät fordert, du sollst nur betimmte Kombinationen von Früchten essen. Die nächste verordnet Proteine, die übernächste dann jede Menge Kohlenhydrate. Nun erzählen Sie mir wieder etwas anderes. Ich sehe keinen Unterschied zu all den anderen Diäten, die ich in den letzten fünfzehn Jahren gemacht habe.» Und sie funkelte mich an, wütend und irritiert.

Ich konte ihr nicht verübeln, daß sie wütend war. Auch nicht, daß sie nach all den unterschiedlichen Informationen über Ernährung, die sie über so viele Jahre erhalten hatte, nicht mehr unterscheiden konnte, was sinnvoll war und was nicht. Sie war wütend, weil ich ihr geraten hatte zu essen, wann immer sie hungrig sei. Jahrelanges Diäthalten hatte sie gelehrt, nur ja nicht den Botschaften ihres Körpers zu trauen. Nach fünfzehn Jahren Diät hatte sie vergessen, daß Essen etwas mit Hungrigsein zu tun hat.

Sie und die übrigen 20 Millionen in den USA, die gerade wieder einmal eine Diät machen. Von dem Augenblick an, wo wir als Babies schreien und unsere Mütter, die nicht wissen, was uns fehlt, uns einen Keks geben, wird der Zusammenhang zwischen Essen und Hunger immer undeutlicher, so daß die natürlichste Art zu essen, nämlich dann, wenn wir hungrig sind, als eine neue Mode erscheint.

Die Diäten, die ich befolgte, waren überfrachtet mit Vorschriften: Iß niemals nach 10 Uhr abends, nasche nicht, iß zwei Scheiben Brot am Tag, iß kein Brot, Frühstück sollte die größte Mahlzeit sein, Frühstück sollte die kleinste Mahlzeit sein usw. Nicht eine der rund 25 ausprobierten Diäten erwähnte, daß ich essen sollte, wenn ich hungrig war.

Mit 28 Jahren kannte ich den Kaloriengehalt jedes einzelnen Nahrungsmittels, das mir vorgesetzt wurde. Ich wußte, wie man abnahm und wie man zunahm. Ich wußte, wie man sein Gewicht hielt. Ich kannte mich aus mit Diäten und Freßanfällen. Aber ich wußte nicht, wann ich hungrig war. Noch schlimmer: Ich wußte nicht einmal, daß es völlig normal ist, hungrig zu sein. Niemand hatte mir das je gesagt und wenn, dann hatte ich vergessen, daß Hungrigsein eine natürliche Sache war.

Mein Körper war mein Feind. Er war rund statt rank. Ich hatte kurze Beine, breite Hüften, meine Fesseln waren nicht der Rede wert. Dünn und lang an mir waren nur meine Haare, und die wünschte ich mir dick und lockig. Ich hatte ein rundes Mondgesicht; Augen, die zu eng beieinanderstanden; Augenbrauen, die keine Akzente setzten. Mein Körper hatte mich im Stich gelassen, und ich konnte seinen Botschaften nicht trauen.

Eine Frau aus einem Workshop erzählte:

 

«Ich war mit einem Freund zum Essen in einem mexikanischen Restaurant. Nach dem Abendessen – Enchiladas mit grüner Sauce, Avocadocreme, Tortillas und Bier – entschuldigte ich mich. Auf dem Weg zur Toilette lief wieder meine zwanzig Jahre alte Litanei ab: ‹Ich kann gar nicht fassen, daß du so viel gegessen hast. Und so viel, was dick macht. Wie viele Kalorien hat eine Enchilada? Und dann diese gebratenen Tortillas, warum mußtest du davon so viel essen? Du weißt doch, Gebratenes ist nicht gut für die Leber. Und als Krönung des ganzen trinkst du auch noch Bier! Wenigstens diese Extrakalorien hättest du dir sparen können! Deine Oberschenkel reiben sich schon aneinander.› Als ich zum Tisch zurückkam, schaute ich auf meinen vorgewölbten Magen und überlegte, wie voll ich war. Nicht, wie fett ich mich fühlte – in meiner Weight Watcher-Mentalität hatte ich jeden Bissen mitgezählt und mit dem verglichen, was ich hätte essen dürfen -, nein, nun sprach ich direkt zu meinem Körper und befragte ihn, wie er sich fühlte, wie er sich jetzt fühlte mit dieser Unmenge von Nahrung, die ich in ihn hineingestopft hatte. Ich blieb stehen, wo ich war – im Gang, neben zwei Leuten, die aussahen, als hätten sie ihrer Margarita schon reichlich zugesprochen- und stellte fest, daß mein Körper sich absolut wohl fühlte mit dem, was ich gegessen hatte. Er war nicht zu voll und nicht zu leer. Ich hatte nicht das Gefühl, als würde das Fett der Tortillas durch meine Adern schwappen. Ich hatte mich in der letzten halben Stunde auch nicht in einem Koloß verwandelt. Mein Körper quoll und waberte auch nicht durch die Nähte meiner Hose. Tatsächlich sang mein Körper nach diesem Mahl, mit dem ich ihn gefüttert hatte. Er war hungrig gewesen, ich hatte ihn satt gemacht, und er war sehr zufrieden.

Plötzlich erkannte ich, welche Erleichterung es bedeutete, mich beim Essen auf etwas Physisches, etwas Reales beziehen zu können, anstatt auf diese abstrakten Vorstellungen, wie mein Körper aussehen könnte, wenn ich nur mehr oder weniger von diesem oder jenem äße. Abstrakte Berechnungen beruhen auf dem Bild eines Körpers, den ich nie haben werde, egal, ob ich nun irgend etwas anderes gegessen hätte an diesem Tag, in dieser Woche, in einem Monat oder einem Jahr. Nicht das, was ich esse, bestimmt mehr oder weniger die Form meines Körpers. Ich hatte gelernt, daß mein Körper sich nicht entsprechend meinem geistigen Bild verändert.»

 

Meistens richtet sich unser Eßverhalten nach unseren Vorstellungen. Wir füttern unseren Körper, ohne ihn zu befragen. Essen hat in der Regel nichts mehr mit dem zu tun, worum es uns gehen sollte: uns physisch zu nähren, zu befriedigen, gesund zu bleiben. Essen aus Hunger schließt ein, daß wir der Weisheit unseres Körpers trauen. Letztlich erfordert es den Glauben daran, daß unser Körper sein angemessenes Gewicht besser kennt als wir.

Diejenigen von uns, die Monate, Jahre oder Jahrzehnte Diät gehalten haben, lernen, daß andere immer besser wissen, was wir essen sollen. Wenn wir auf ihre Ratschläge hören, dann bekommen wir auch den Körper, den sie uns versprechen. Selbst unappetitliche, unattraktive und langweilige Kombinationen von Nahrungsmitteln erscheinen uns schmackhaft, falls sie uns schlanke Arme und Beine versprechen.

Wenn wir dann zwangsläufig aus der einengenden Diät ausbrechen, sind wir dem Essen aus Hunger auch nicht näher, als wenn wir Diät halten. Nun essen wir etwas, weil wir es vorher nicht essen durften, weil wir es jemanden essen sahen, während wir Diät hielten, weil wir es als Kind nicht bekamen, weil es im Schaufenster so lecker aussieht. Wir essen auf Grund äußerer Hinweise, die wenig zu tun haben mit dem körperlichen Bedürfnis nach einem bestimmten Nahrungsmittel zu einer bestimmten Zeit. Wenn wir Diät halten, lernen wir, Hunger zu ignorieren. Wenn wir keine Diät halten, fühlen wir uns benachteiligt dadurch, daß wir unseren Hunger leugnen. Diese Benachteiligung versuchen wir auszugleichen, indem wir so viel essen, daß Hungergefühle gar nicht erst aufkommen können.

Der erste Schritt, sich vom zwanghaften Essen zu befreien, besteht darin zu essen, wenn man hungrig ist.

Denke an das letzte Mal, als du gegessen hast. Hast du auf die Uhr geschaut, um zu sehen, ob Essenszeit ist? Hattest du eine Verabredung zum Mittag- oder Abendessen? Kamst du zufällig an einem Schaufenster vorbei, in dem etwas besonders Leckeres ausgestellt war und konntest nicht daran vorbeigehen? Warst du hungrig? Woher wußtest du das?

Anfangs, als ich mich entschied, keine Diät mehr zu halten, führte ich Buch darüber, wann ich aß, was ich aß und ob ich hungrig war. Nach ein paar Tagen entdeckte ich voller Schrecken, daß ich nie aß, weil ich hungrig war. Es gab zu viele andere gute Gründe, um zu essen: weil ich aufgeregt war und etwas dagegen tun mußte, weil ich glücklich war und das feiern wollte; weil ich traurig war und Trost brauchte, weil ich wütend war und das nicht ausdrücken konnte, weil ich verliebt war und teilen wollte. Und wenn das alles nicht zutraf, dann aß ich, weil ich frustriert oder gelangweilt war und mir nichts Besseres einfiel. Essen, weil ich hungrig war, das klang ja ganz gut, aber am besten schmeckte es mir doch, wenn ich nicht hungrig war. Nahrung war der Klebstoff, der mein Leben zwischen dem Hunger zusammenhielt.

Ich wollte das Essen nicht aufgeben, ich war zu sehr darauf angewiesen. Andererseits war ich unzufrieden mit meinem Körper und mit der übermäßigen Bedeutung, die die Aufnahme von Nahrung in meinem Leben hatte. Ich wußte, daß ich auf keinen Fall eine neue Diät anfangen wollte, und so entschied ich mich für den Versuch, immer dann zu essen, wenn ich hungrig war. Ich sagte mir, daß ich ja jederzeit aufhören könnte, wenn es zu schwierig würde und ich mich noch unglücklicher fühlte.

Zunächst versuchte ich, so lange nichts zu essen, bis ich hungrig wurde. Das war nicht einfach. Nach so vielen Jahren des Diäthaltens (ohne zu essen, wenn ich hungrig war) und des Überessens (ohne zu essen, wenn ich hungrig war) war ich mir nicht sicher, ob mein Körper überhaupt noch wußte, was Hunger war.

Eine Diät aufzugeben und aus den Regeln, Ratschlägen und Richtlinien anderer...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2024
Übersetzer Gabriele Flessenkemper
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Ernährung / Diät / Fasten
Schlagworte Essstörung • Ratgeber • Therapie
ISBN-10 3-644-00938-4 / 3644009384
ISBN-13 978-3-644-00938-7 / 9783644009387
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