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Im Schatten der Sterne (eBook)

Eine jüdische Widerstandsgruppe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
496 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27761-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Schatten der Sterne - Regina Scheer
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»Die Geschwister Scholl und ihre Gruppe an der Münchner Universität, sie hatten Geistesverwandte.«
(der freitag)

Einige von ihnen waren erst neunzehn oder zwanzig Jahre alt, als sie angesichts der Verfolgung ihrer jüdischen Familien beschlossen, Widerstand gegen die Nazipropaganda zu leisten. Nach einem Brandanschlag im Mai 1942 auf die Ausstellung »Das Sowjetparadies« im Berliner Lustgarten wurden sie gefasst und zum Tode verurteilt. Die nach ihrem Leiter Herbert Baum benannte Widerstandsgruppe ist bis heute weit weniger bekannt als die Weiße Rose; in der DDR wurde sie zwar geehrt, aber als Teil des kommunistischen Widerstands instrumentalisiert, ihre jüdische Identität oft verschwiegen oder als nebensächlich angesehen.

Wie Mosaiksteine setzt Regina Scheer Briefe, Aktennotizen und Gespräche mit Überlebenden zusammen und nähert sich auf persönliche Weise den dramatischen Geschehnissen, die bis in die Gegenwart reichen. Einfühlsam zeichnet sie die Lebensgeschichten der jungen Menschen nach, die als Verfolgte ihr eigenes Leben zusätzlich gefährdeten, um ein Zeichen zu setzen.

Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972 bis 1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift «Forum». Danach war sie freie Autorin und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift «Temperamente». Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte, u.a. «Im Schatten der Sterne» (2004). Ihre ersten beiden Romane, «Machandel» (2014) und «Gott wohnt im Wedding» (2019), waren große Publikumserfolge. Ihr neuestes Buch, «Bittere Brunnen», wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Die vergessene Akte


In der weißen Aktenmappe lag ein rötlicher Pappdeckel, eine Art Schnellhefter, die Personalakte der Zuchthausgefangenen Fraenkel, Edith Sara, Gefangenenbuchnummer 761/42, Frauenzuchthaus Cottbus.1

Warum ich die bestellt hatte, weiß ich nicht mehr. Es war kurz nach der Öffnung der Archive, die jahrzehntelang verschlossen gewesen waren. Mit einer Freundin bereitete ich eine Ausstellung über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg vor. Wir befragten die noch lebenden Zeugen des Widerstands, stießen auf Namen, die wir noch nie gehört hatten, auf Geschichten, die tragischer, vielschichtiger, auch verwirrender waren als die uns bekannten. Jahrzehntelanges Schweigen schien aufgehoben, aber plötzlich wollten manche Gesprächspartner sich nicht mehr erinnern, vielleicht weil sie fürchteten, das bislang Unausgesprochene sei nun, nach dem Ende der DDR, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, erst recht nicht mehr zu verstehen. Manche hielten ihr Schweigen, an dem sie doch gelitten hatten, für den letzten Beweis von Treue gegenüber einer verratenen Idee. Andere kamen von selbst zu uns, redeten, zeigten Dokumente, waren froh, endlich ihre eigene Geschichte erzählen zu können. Monatelang lasen wir in Archiven die geheimen Berichte aus dem Widerstand und spätere Darstellungen, unveröffentlichte Erinnerungen, Untersuchungsprotokolle und bruchstückhaft erhaltene Akten der Gestapo und der nationalsozialistischen Justiz. In den Zuchthausakten suchte ich wahrscheinlich die Spur einer der Frauen, über die wir unsere Ausstellung vorbereiteten.

Aber nun lag diese Akte vor mir, ich blätterte darin und sah, daß es hier um Edith Fraenkel ging, deren Namen ich von der schwarzen Stele in Weißensee kannte, um das Mädchen aus der Baum-Gruppe, zu dem »nur äußerst spärliche Angaben erreichbar« gewesen waren.

Am 8. Januar 1943 um 10. 26 Uhr wurde sie in Cottbus eingeliefert. Ihre Straftat hieß: Vorbereitung zum Hochverrat. Das Ende der Strafzeit, so stand es auf der ersten Seite der Zuchthausakte, würde am 10. 9. 1947 sein. Jemand hatte das verbessert: 9. 9. 1947, 18 Uhr.

Ihre Mutter Olga Sara war »n. O. verzogen«. Das hieß wohl: nach Osten verzogen. Der Verlobte der Eingelieferten, so stand es dort, hieß Robert Mohn, er wohnte in Berlin W 15, Lietzenburger Straße 17, bei Lau.

Eine Zuchthausangestellte mit Namen Thiede hatte am 13. Januar 1943 ein Aufnahmeprotokoll aufgenommen.

Edith Fraenkel, deren Name mir schon so lange bekannt war, ohne daß ich hinter ihm ein Gesicht finden konnte, war nicht spurlos verschwunden. Hier, in diesem Archiv, aus dieser vergilbten, verstaubten Akte kam sie mir entgegen. Gleichzeitig wußte ich, daß es eine Akte der Gestapo, der Justiz und der Zuchthauswärter war, sie spricht nicht Ediths eigene Sprache. Aber ich versuchte, mir Ediths Bild aus all diesen Vordrucken und gestempelten Formularen zusammenzusetzen. Das Einlieferungsprotokoll bestand aus mehreren Fragebögen, auf denen die gewünschten Auskünfte angekreuzt waren. Daraus ging hervor:

Die Strafgefangene Edith Fraenkel, zwanzig Jahre alt, hatte kein unversorgtes Kind.

Sie überstand bereits Masern, Röteln, Keuchhusten, Windpocken, Ziegenpeter und eine chronische Mandelentzündung.

Bei der Einlieferung litt sie an Bronchitis.

Ihr Arbeitsbuch von den Siemens-Schuckert-Werken verwies auf ihre letzte Adresse in Berlin, in der Pfalzburger Straße 86.

Sie war für Einzelhaft geeignet.

Arbeitsfähig. Sogar moorarbeitsfähig.

Sie war 1,68 m groß, von kräftiger Gestalt, hatte dunkelblondes Haar und ein ovales Gesicht. Ihre Augen waren graublau, die Augenbrauen bogenförmig. Die Nase klein, Ohren, Mund unauffällig, die Zähne vollständig. Ihr Gang war aufrecht.

Bekleidet war sie bei der Einlieferung mit einem braunen Mantel und braunen, schadhaften Strümpfen. Mit schwarzen, kaputten Schuhen.

Diese Schuhe und diese Strümpfe muß sie schon monatelang getragen haben. In der Akte stand, daß sie schon seit dem 8. Juli 1942 in Haft war, zuerst im Berliner Polizeigefängnis, dann im Gerichtsgefängnis Charlottenburg. Einige der Unterlagen von dort waren auch in Ediths Cottbuser Akte gelangt. Ich fand die Sprechzettel, die nach jedem Besuch wieder abgegeben werden mußten. Ihr Verlobter Robert Mohn und ihre Mutter Olga hatten sie im September im Gerichtsgefängnis besucht. Robert Mohn durfte sie dann noch am 19. Oktober, am 2. und am 27. November sprechen, die Mutter am 8. Oktober. Da war Olga Fraenkel also noch nicht »n. O. verzogen«.

Am 10. Dezember 1942, morgens um 9 Uhr, fand vor dem Volksgerichtshof in der Bellevuestraße 15 die Verhandlung statt, in der Edith und elf ihrer Kameraden verurteilt wurden. Es war die »Strafsache gegen den Hilfsmechaniker Heinz Israel Rothholz und andere«, verhandelt vor dem 2. Senat, der zweite von ingesamt drei Prozessen, in denen über den Anschlag auf die Ausstellung »Das Sowjetparadies« verhandelt wurde. In Ediths Akte lag eine Kopie der Urteilsverkündung. Ich las sie und stieß auf Namen, die ich auf dem schwarzen Stein gelesen hatte:

Heinz Rothholz. Heinz Birnbaum. Hella Hirsch. Hanni Meyer. Marianne Joachim. Lothar Salinger. Helmut Neumann. Hildegard Loewy. Siegbert Rotholz.

Sie waren zwischen 19 und 23 Jahren alt. Sie alle wurden zum Tode verurteilt. Nur drei der jungen Angeklagten aus diesem Prozeß erhielten Zuchthausstrafen. Edith fünf Jahre, Alice Hirsch und Lotte Rotholz, beide 19 Jahre alt, acht und drei Jahre. »Wegen Nichtanzeige eines Vorhabens des Hochverrats«, stand in der Urteilsbegründung für Edith.

Ich blätterte weiter in der Akte und fand ihren Lebenslauf, am 13. Dezember, drei Tage nach dem Prozeß, für diese Akte von ihr selbst auf ein Formular geschrieben. Es ist ein kurzer Lebenslauf, geschrieben mit Tinte in einer klaren, mädchenhaften Schrift ohne Schnörkel. Der Federhalter scheint nicht gut gewesen zu sein, es war wohl nicht ihr eigener, sondern der ihr von den Wärtern oder der Gestapo für das Beschreiben des Formulars zugewiesen. Sie mußte ihn öfter eintauchen, man sieht es an den Buchstaben.

Ich erfuhr daraus, daß sie zehn Jahre lang die private Rudolf-Steiner-Schule besucht hatte, dann in einem Geschäft für Mäntel und Kostüme gearbeitet und einen Kurs für Modezeichnen und Zuschneiden besucht hatte. Seit dem Mai 1940 hatte das Arbeitsamt sie zu der Firma Siemens & Schuckert, ElMo-Werk in Spandau, geschickt, wo sie bis zu ihrer Verhaftung arbeitete.

Dort, bei Siemens, in der sogenannten Judenabteilung 133, waren auch Herbert und Marianne Baum als Zwangsarbeiter eingesetzt, das war bekannt. Ob Edith sie dort kennengelernt hatte?

Auf Blatt 18 in Ediths Zuchthausakte stand ein Vermerk über ein »Hausstrafverfahren«. Am 16. Februar hatte sie in der Freistunde geredet. Sie gab es zu und wurde verwarnt. Hatte sie mit ihrer Mitangeklagten Lotte Rotholz gesprochen? Mit Alice Hirsch? Die waren mit ihr nach Cottbus gekommen, wahrscheinlich im selben Sammeltransport, wie aus einem Schreiben des Reichsanwalts Dr. Barnickel hervorging.

Der Charlottenburger Gefängnisarzt bescheinigte am 6. Januar 1943, die Strafgefangene Fraenkel sei frei von Hautkrankheiten und Ungeziefer, transport- und arbeitsfähig.

Da war sie längst in Cottbus, die ärztliche Bescheinigung über die Transportfähigkeit war nur eine Formsache. In Edith Fraenkels Zuchthausakte lagen Anträge des Verlobten Robert Mohn, der mehrmals versuchte, in Cottbus eine Sprecherlaubnis zu bekommen. Ein Oberwachtmeister Krause teilte ihm mit, daß das erst nach sechs Monaten möglich sei. Endlich erhielt Robert Mohn die Erlaubnis, sie am Sonntag, dem 4. Juli 1943, um 10 Uhr für eine Viertelstunde zu sprechen. »Im Sprechzimmer der Anstalt unter Aufsicht eines Beamten«. Er dürfe kein Essen mitbringen.

Er war aus Berlin nach Cottbus gekommen, er hatte sie besucht, der abgezeichnete Sprechzettel in der Akte beweist es.

Am 8. September wandte sich Ediths Verlobter an den Vorstand des Zuchthauses, weil er Ediths Unterschrift benötigte für eine Vollmacht, die ihr Abstammungsverfahren betraf.

Abstammungsverfahren?

In Ediths Lebenslauf aus der Akte las ich, sie sei die Tochter der Olga Fraenkel, geborene Marx, und des Kaufmanns Leo Fraenkel. Aber der sei nicht ihr richtiger Vater, sie habe 1940 erfahren, daß ihr Erzeuger ein »Arier namens O. Racker« gewesen sei.

Aus anderen Lebensgeschichten wußte ich, daß, nachdem die Nürnberger Gesetze galten, ungewöhnlich viele Frauen, deren Männer Juden waren, einen Ehebruch behaupteten. Zumindest für die Dauer des »Abstammungsverfahrens«, das ein »Erbbiologisches Rasseamt« nach scheinwissenschaftlichen Kriterien durchführte, galt das Kind dann nicht als »volljüdisch«.

Olga Fraenkel war selbst Jüdin, in Ediths Akte ist sie mit dem Zwangsnamen Sara angeführt. Edith aber wäre, hätte man diesen »Arier« O. Racker als ihren Vater anerkannt, nur »Mischling I. Grades« gewesen. Das hätte Hafterleichterungen bewirkt, ihr vielleicht das Leben gerettet. Es war abzusehen, daß auch die Zuchthaushäftlinge nicht verschont werden würden von den Deportationen »n. O.«. Offenbar hat Robert Mohn versucht, ein »Ehelichkeitsanfechtungsverfahren« beim Landgericht durchzusetzen, um die Bearbeitung durch dieses Rasseamt zu beschleunigen. Wahrscheinlich hatte er das schon versucht, als Edith noch in Berlin war, denn bereits am 29. Januar hatte der Oberreichsanwalt nach Cottbus geschrieben, Edith sei nicht Volljüdin, sondern Mischling I. Grades. Am 4. Februar 1943 nahm er das zurück und teilte mit diabolischer Korrektheit mit, daß die »Ermittlungen bezüglich der Feststellung, ob die Verurteilte Mischling I....

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Zusatzinfo Mit 24-seitigem Bildteil
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte 2023 • eBooks • Geschichte • Gestapo • Hans Scholl • Holocaust • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • NS-Herrschaft • Opposition • Rote Kapelle • Shoah • Sophie Scholl • Untergrund • Weiße Rose • Widerstand
ISBN-10 3-641-27761-2 / 3641277612
ISBN-13 978-3-641-27761-1 / 9783641277611
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