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Herbstlicht (eBook)

Eine Wanderung nach Italien
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00895-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herbstlicht -  Willi Winkler
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Ein unstillbarer Drang zieht die Deutschen seit je nach Süden, dorthin, wo angeblich die Zitronen blühen und die Pizza herkommt. Pilger, Landsknechte und Provinzfürsten, die unbedingt Kaiser werden wollten, sind über die Jahrhunderte nach Italien gereist; Goethe natürlich auch, aber der wollte bloß malen. Willi Winkler hat sich auf eine Wanderung durch einen einzigartigen Kulturraum begeben - mehr als tausenddreihundert Kilo­meter zu Fuß. Er ist alten und neuen Pilgerpfaden gefolgt und hat zwischen Autobahnen und Weinbergen eine unbekannte Welt erlebt. Wie Martin Luther bricht er in Wittenberg auf, Rom im Sinn und nicht ohne Angst vor den Alpen, die sich ihm in den Weg stellen werden. Unterwegs begegnet er thüringischen AfD-Sympathisanten, fränkischen Brauereibesitzerinnen, schwäbischen Corona-Leugnern, württembergischen Hochzeitern, Vorarlberger Bäckern und Schweizer Rheintöchtern. Er entdeckt verlassene Barockkirchen und die Poesie von Industrieruinen und wundert sich, wie geduldig ihn seine Füße tragen. Italien begrüßt ihn mit einem Eissturm und weitet sich dann zum traumschönen Comer See. Im Rücken die schneebedeckten Gipfel, geht es, wie es bei Eichendorff heißt, hinunter ins blühende Mailand. - Eine abenteuerliche Reise, die scheinbar Vertrautes mit neuen Augen sehen lässt. Für hartnäckige Daheimbleiber ebenso wie unheilbar Fernwehkranke.

Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der «Zeit», Kulturchef beim «Spiegel» und schreibt seit vielen Jahren für die «Süddeutsche Zeitung». Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen «Luther. Ein deutscher Rebell», «Das braune Netz» und «Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien». Über sein Reisebuch «Deutschland, eine Winterreise» sagte Sonia Mikich: «Solch unverbrauchte Gedanken in schöner Sprachmacht sind selten geworden.» Willi Winkler wurde mehrfach für sein Schreiben ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ben-Witter-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus und dem Michael-Althen-Preis.

Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der «Zeit», Kulturchef beim «Spiegel» und schreibt seit vielen Jahren für die «Süddeutsche Zeitung». Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen «Luther. Ein deutscher Rebell», «Das braune Netz» und «Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien». Über sein Reisebuch «Deutschland, eine Winterreise» sagte Sonia Mikich: «Solch unverbrauchte Gedanken in schöner Sprachmacht sind selten geworden.» Willi Winkler wurde mehrfach für sein Schreiben ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ben-Witter-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus und dem Michael-Althen-Preis.

1


Italien ist bereits am ersten Abend erreicht, aber das Gelände ist schwierig. Gelbrote Schilder warnen: «Allergiegefahr! Verlassen Sie die Wege nicht!» In der Luft ein durchdringender Geruch von Mottenkugeln, und vielleicht hilft’s ja gegen den Sägehörnigen Werftkäfer, den Eichenprozessionsspinner, den Eschenbastkäfer und den gefürchteten Borkenkäfer. Das Viehzeug tut sich weitgehend ungestraft an den über Jahrhunderte sorgfältig gepflegten Bäumen gütlich. Die Wege führen durch den Wörlitzer Park, ausgiebig bevölkert von Ausflüglern, die hier dem Wunsch des ersten Försters Folge leisten und lustwandeln. Es ist alles, wie es sein soll, und könnte ein heiterer Sonntagnachmittag sein, obwohl es doch Mittwoch ist oder Donnerstag. Auf dem Wasser Seerosen, weiter weg weiße Säulen, ein Haus im italienischen Stil, ein Tempelchen. Eine junge Frau schützt sich mit einem Schirm gegen die bereits tiefer stehende Sonne. Trieben jetzt noch Boote auf dem See, es könnte die Szene aus «Barry Lyndon» sein, in der Ryan O’Neal mit Marisa Berenson im Boot schaukelt, dazu die Sarabande von Händel. Mehr Italien geht nicht.

Italien war zuerst kaum mehr als ein Gedanke, eine spinnerte Idee, der Wunsch, an Ort und Stelle aufzubrechen und loszugehen. Wohin? Einfach nach Süden und möglichst weit. In Italien müsste man jetzt sein, aber wie kommt man dahin? Fahren kann jeder Depp, und jeder zweite tut es auch. Selbst so gänzlich unsportliche Menschen wie ich schaffen es, umdröhnt von Motorrädern, mit dem Fahrrad über die Berge nach Südtirol. Gehen ist etwas ganz und gar anderes, Gehen ist langweilig, hat keine Höhepunkte, es dauert doch schon verdammt lang, um auch nur von einem Ort zum anderen zu gelangen. Goethe, Vorbild aller anakademisierten Italienfahrer, nutzte selbstverständlich eine Postkutsche, als er in Karlsbad aufbrach, um von Charlotte von Stein wegzukommen und so schnell wie möglich alles Deutsche hinter sich zu lassen. Atemlos vor Stolz meldet er den Zurückgebliebenen, dass er «vierundzwanzig und eine halbe Meile» in einunddreißig Stunden geschafft hat, und nach fünf Tagen ist er bereits auf dem Brenner.

Also gehen, fortgehen, immer weitergehen. Am besten wäre der kürzeste Weg, querfeldein. Anfangen müsste es in Wittenberg, wo denn sonst, mitten im deutschen Irgendwo. Die Richtung wäre dann grob Südsüdwest, beim Taugenichts ging es doch auch, und der sang noch dazu. Es gibt noch ein anderes großes Vorbild: Im Herbst 1510, vielleicht auch ein Jahr später, ist Martin Luther in Gesellschaft eines Mitbruders nach Rom gereist, gepilgert, jedenfalls zu Fuß gegangen, von Wittenberg aus, von Erfurt, vielleicht auch von Nürnberg, auch das weiß man nicht sicher, über die Alpen in die Hauptstadt der Christenheit, eintausendzweihundert oder dann doch eintausendsechshundert Kilometer auf einer Pilgerroute, die erst kurz davor, im Jahr 1500, von dem Nürnberger Drucker Erhard Etzlaub in die Welt und zu Papier und auf eine Land- und Wanderkarte gebracht worden war: Erffurt, Arnstet, ylmeno, eysfelt, koburg, pāberk, Forchem, erlang, Nurenberg …

Martin Luther muss sich von Kloster zu Kloster vorangearbeitet haben, der eine oder andre Heustadel dazwischen, aber gab es vor fünfhundert Jahren überhaupt so viele Klöster und Heustadel an dieser Route? Sie wurde vornehmlich von Kaufleuten genutzt, die für einen transalpinen Warenverkehr zwischen Deutschland einschließlich Skandinavien und Italien sorgten und deshalb Schutzleute zumindest an den Wegmarken postierten. Die Wege waren jedenfalls ziemlich sicher, womöglich aber gar nicht so leise, wie es sich ein meditatives Gemüt wie der magere Luther gewünscht hätte. Es gibt ein Gedicht von Lars Gustafsson mit dem märchenhaften Titel «Die Stille der Welt vor Bach», in dem er den ausschließlich poetischen Lärm der früheren Welt registriert: «Weite sanfte Landschaften, / wo nichts zu hören ist als die Äxte der Holzfäller, / das muntere Bellen starker Hunde im Winter / und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken; / die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren.» Ich kann nicht glauben, dass es so friedlich war damals, eher dürfte lautes Wagenrasseln, das Brüllen der Zugochsen und das Geschrei der Gespannkutscher die Welt erfüllt haben, durch die der fromme Luther da wandelte, Rom im Sinn.

Aber schnell muss er gewesen sein: Wenn er wirklich von Mitte Oktober bis ungefähr Weihnachten unterwegs war, dann wären das (wie freundlicherweise schon jemand ausgerechnet hat) achtundzwanzig Kilometer am Tag – durchschnittlich, was ja nur heißen kann, dass er im weitgehend flachen Deutschland noch viel mehr hätte vorlegen müssen, um die Alpen und danach den Apennin auszugleichen.

Von seinem Weg ist, wie sich schnell herausstellt, so gut wie nichts zu sehen oder, je nach Betrachtungsweise, viel zu viel: Nicht nur der Lärm hat weiter zugenommen, aus der Pilgerrouten-Vorarbeit im Mittelalter sind Straßen geworden, die Ebenen durchkreuzen, Hügel umgehen, über Pässe führen und an begradigten Flüssen entlang, alles Exklusivbesitz der Autos. Aus den Straßen sind Autobahnen oder mindestens ebenso heftig befahrene Bundesstraßen geworden, ein durch und durch mechanisiertes Reisen. Wie soll man dem ausweichen? Ein Querfeldeinwanderer ist hier kaum von einem Patienten zu unterscheiden, der aus einer Heilanstalt entflohen ist. Hier trotzdem zu gehen, ist böser Aristokratismus, es braucht Zeit und ziemlich viel Nerven und gute Schuhe.

Die Autobahn, nein: das Auto ist der natürliche Feind des Wanderers, auf der Straße hat er in Wirklichkeit nichts verloren. Das muss schon angefangen haben, als es das Auto noch gar nicht gab. «Gelaufen und auch geritten wurde meist nicht in den Hohlwegstrecken, deren Sohlen durch die tiefen Radspuren und Erosionsrinnen ausgefurcht waren, sondern am Rande der Fahrtrassen», schreibt der Geograph Dietrich Denecke. Er hat die geologische Beschaffenheit der möglichen Route untersucht und bietet zwei Erleichterungen, die im Zweifel auch Luther genutzt hat: über den Bodensee und dann über den Comer See zu Schiff, was doch ein paar Tage und Kilometer einsparen würde.

Und dann auch das noch: Luther lief in den Herbst hinein. In den Bergen beginnt der Almabtrieb bereits Ende August, Anfang September, wenn manchmal schon der erste Schnee fällt und liegen bleibt. Die Tage werden kürzer. Es ist tiefer September, als ich endlich losgehe. Welcher Pass ist dann noch schneefrei oder überhaupt passierbar? (Um für heute von Bergluchsen und den neuerdings wieder aufgetauchten Wölfen zu schweigen.) Und, das alte Lied, denn sie sind das Wichtigste, die Schuhe. Luther machte sich keine Gedanken darum, es gab ja nichts Gescheites. Er muss in den lumpigsten Sandalen gelaufen sein: kein Fußbett, keine Dämpfung, kein – verdammtnochmal rede ich jetzt wirklich schon wie ein Outdoor-Ausstatter? – grip. Achtundzwanzig Kilometer Durchschnitt am Tag. Der Mann muss ein Laufwunder gewesen sein.

Zu Hause das bekannte Problem: Wie sag ich’s, und wem soll ich es sagen? Es soll doch niemand wissen, was man da vorhat, sonst schauen sie einem doch bloß beim Scheitern zu, diese Stubenhocker. Bin ich trainiert genug, machen die Beine noch mit? An die Existenz greift die Frage: Wir könnten doch eine Weltreise machen, warum läufst du durch unwirtlichste Gegenden, holst dir Blasen? Aber gut, lass die Sorgen zu Haus, wie der Dichter sagt, höchste Zeit, dass es losgeht. Geht, geht und nicht fährt.

Eine große blaue Stoffbahn bläht sich vor einer Kirche in Wittenberg. Die wunderweiße Wolke zeigt einen herzförmigen Ausschnitt, und ein weiteres kleines Herz fliegt ihm zu: «Gott – Du bist etwas Besonderes!» Wenn Gott wider Erwarten doch nichts Besonderes sein sollte, ist er wenigstens ein Herzchen. Die Protestanten werden langsam sentimental.

In Wittenberg sind die Feiern zum Reformationsjubiläum vorbei, die Touristen fort, die Collegienstraße ist aber noch immer wie frisch gespült. Vom Kopfsteinpflaster könnte man fast essen. Die Stadt ist Ausflugsziel von Berlin aus, keine Stunde mit dem ICE, und der Braten schmeckt hier besser als in der Stadt. Luther ist natürlich immer noch da, im Hotel beim Frühstück als Platzdeckchen, auf dem er bereits ans Abendessen denkt. Aber, hey, Leute, das ist für euch, heute Abend bin ich nicht mehr hier, sondern weit weg von Wittenberg, draußen auf der Landstraße.

 

Über die Elbe, es geht los. Die Sonne scheint, wie es sich für den Altweibersommer gehört, mit all der Kraft, an der sie es in den Monaten davor fehlen ließ. Am ersten Tag wollte ich nicht zu viel gehen, fürchtete auch, in der Dübener Heide nichts zum Übernachten zu finden, deshalb gleich die erste Abweichung von der stramm südwestlichen Richtung und fast parallel zum Fluss ins Überschwemmungs- und folglich Naturschutzgebiet. Die Strecke wird damit mutwillig verlängert, und vermutlich werden sich die fünf Kilometer mehr am Ende rächen.

Wittenberg oder jedenfalls Luther kommt mit. Draußen an der Landstraße muss er werben, ist ja noch Wahlkampf: «Ich würde NPD wählen. Ich könnte nicht anders.» Ist das so? Sachsen-Anhalt ist so grundatheistisch, dass ihnen bei Luther vermutlich auch schon egal ist, was er wählen würde. Warum der Juden- und Türkenhasser Luther aber die NPD wählen sollte und nicht die AfD, die Basis oder doch die FDP, die wegen ihrer revolutionären Umtriebe («Wie es ist, darf es nicht bleiben») längst vom Verfassungsschutz beobachtet werden müsste, bleibt...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Deutschland
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Alpen • Augsburg • Bayern • Bergamo • Deutschland • Italien • Italien Reiseführer • Katholizismus • Kirche • Kloster • Konfessionen • Kultur • Kulturraum • Landschaft • Lugano • Luther • Mailand • Meine italienische Reise • Mönche • Natur • Papst • Pilgern • Protestantismus • Reformation • Reise • Reisebericht • Reiseberichte • Religion • Religionskriege • Rom • Sachsen-Anhalt • Schweiz • Siena • St. Gallen • Süden • Teilung Deutschlands • Vatikan • Wandern • Wiedervereinigung • Wittenberg
ISBN-10 3-644-00895-7 / 3644008957
ISBN-13 978-3-644-00895-3 / 9783644008953
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