Mein Schwaben (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01684-2 (ISBN)
Vincent Klink, geboren 1949, betreibt in Stuttgart das Restaurant Wielandshöhe. In der verbleibenden Zeit musiziert er, widmet sich Holzschnitten, malt und pflegt seine Bienen. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter «Sitting Küchenbull» (2009) , «Ein Bauch spaziert durch Paris» (2015) und «Ein Bauch lustwandelt durch Wien» (2019). Zuletzt erschien von ihm «Ein Bauch spaziert durch Venedig» (2022).
Vincent Klink, geboren 1949, betreibt in Stuttgart das Restaurant Wielandshöhe. In der verbleibenden Zeit musiziert er, widmet sich Holzschnitten, malt und pflegt seine Bienen. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter «Sitting Küchenbull» (2009) , «Ein Bauch spaziert durch Paris» (2015) und «Ein Bauch lustwandelt durch Wien» (2019). Zuletzt erschien von ihm «Ein Bauch spaziert durch Venedig» (2022).
Knochenflöten in Blaubeuren
Während des Lockdowns besann ich mich auf das Naheliegende und begann, mich in die Frühgeschichte meiner Region hineinzuschaffen. Jetzt, im Sommer 2023, bin ich vollends auf dem urgeschichtlichen Trip. Bei sonnigem Wetter setze ich mich ins Auto und fahre Richtung Ulm auf die Hochfläche der Alb. Nach ungefähr 40 Kilometern geht es vom dichten Verkehr fort in die liebliche Gegend des Blautopfs. Am Wasser angelangt, trinke ich einen Cappuccino und genieße den Blick ins tiefe Blau und den dahinter liegenden Wald mit dem Stauwehr. Die Riesenquelle ist wirklich topfrund und fließt ab in die Blau, die sich wenige Kilometer bis nach Ulm schlängelt. Das Wasser ist geradezu gespenstisch azur und kommt tief aus dem Berg. Die Höhle, häufig das Ziel tauchender Wissenschaftler, ist bis zwölf Kilometer ins Innere hinein erforscht. Mich würden da keine zehn Pferde reinbringen. Meine große Stärke ist das Rasten, und so genieße ich weiter meinen Kaffee und ein Törtchen.
Unweit mündet der Fluss Aach in die Blau, und seinem Verlauf folgen wir nun westlich auf der Straße nach Schelklingen. Dort gib es den «Hohle Fels» zu bestaunen, wo zahlreiche frühgeschichtliche Schätze ausgegraben wurden: ein Pferdekopf aus Elfenbein, ein Wasservogel, eine menschliche Gestalt, Flöten aus der Speiche eines Gänsegeiers, Perlen, Mühlsteine zum Zermahlen von Farbpigmenten. Kürzlich habe ich gelesen, dass ein Lochstab aus Mammutelfenbein gefunden wurde, mit dem man Fasern zu Seilen verdrillen kann.
In der Nachbarhöhle, im «Geißenklösterle», wurde der berühmte «Adorant» freigelegt, eine stehende, die Hände zur Anbetung erhobene Gestalt, ein Mischwesen wie der Löwenmensch, dem an der Hinterseite ein Tierschwanz herabzubaumeln scheint. Die kleine Relieffigur ist im Landesmuseum in Stuttgart anzugucken. Die ebenso im Geißenklösterle gefundenen Flöten aus Mammutelfenbein und aus Schwanen-Flügelknochen sind die ältesten Musikinstrumente der Welt, und man kann sie im URMU, dem Urzeitmuseum Blaubeuren, bewundern. All diese Artefakte sind unglaubliche 35000 bis 42000 Jahre alt.
Ich fahre wieder zurück an den Blautopf, der auch als Schauplatz von Eduard Mörikes Kunstmärchen Historie von der schönen Lau (1853) bekannt ist. Die Geschichte handelt von einer langhaarigen, blauäugigen Wasserfrau, die auf den Grund des Blautopfs verbannt ist, weil sie keine Kinder zur Welt bringen kann. Die Erlösung der Lau wird nach einigen Irrungen und Wirrungen durch zwischenmenschliches Erleben herbeigeführt, durch das gemeinsame Lachen mit einer freundlichen Schwäbin. Mörikes Geschichte und Blaubeuren gelten überhaupt als sehr schwäbisch. Hermann Hesse soll nach einem Besuch hier gesagt haben: «Überall roch es nach Schwäbisch, nach Roggenbrot und Märchen. ( …) und ich sage, überall duftete es nach Jugend und Kindheit, Träumen, Apfelküchle und nach Zauberdichtung, nach Hölderlin und Mörike.» Zur Zeit Eduard Mörikes (1804–1875) erlebten Kunstmärchen eine große Blüte. Sie kommen zunächst harmlos daher, aber es ließ sich in einer schönen Geschichte auch durchaus viel Kritik an der Biedermeierzeit verstecken.
Das Kloster Blaubeuren darf ich mir ebenfalls nicht entgehen lassen. Von Benediktinermönchen im Jahr 1085 gegründet, dient es seit der Reformation als evangelisches Elitegymnasium, ähnlich dem Kloster Maulbronn. Mich interessiert hier besonders die künstlerische Ausführung des Hochaltars. Im spätgotischen Stil erbaut, fiel er fast dem reformatorischen Bildersturm anheim, wurde aber von dem lutherischen Abt Matthäus Alber Mitte des sechzehnten Jahrhunderts gerettet. Es ist ein Wandelaltar, bei dem man die Seitenteile ausklappen kann wie bei einem Leporello. Sind die Seitenteile in der Mitte geschlossen, wird auf den großen Tafeln die Passionsgeschichte gezeigt. Geöffnet tun sich sechzehn Tafelbilder mit der Lebensgeschichte Johannes’ des Täufers auf. Sind alle Teile nach außen bewegt, wird ein Schrein mit geschnitzten Figuren sichtbar, die Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf einer Mondsichel stehend, daneben Johannes der Evangelist und Johannes der Täufer. Links außen der Ordensgründer Benedikt, rechts außen seine Schwester Scholastika.
Ich erfreue mich daran, wie diese Künstler mit der Perspektive zwar noch nicht gut vertraut waren, aber trotzdem durch die Anordnung der Personen und der Landschaft im Hintergrund räumliche Tiefe erzeugen konnten. Das wird noch verstärkt durch die enorme Schnitzkunst, die der Malerei vorgeordnet ist.
Das Ensemble zu erklären, würde fast ein ganzes Buch füllen. Nur so viel: Die Malerei von Jörg Syrlin dem Jüngeren (um 1455–1521) und die Statuen und Reliefs von Michel Erhart (um 1440/45–1522) wurden gegen Ende des Quattrocentos geschaffen. Beide gehörten der Ulmer Schule an, die maßgeblich von dem genialen Maler Hans Multscher (1400–1467) beeinflusst, wenn nicht sogar begründet wurde. Wegen meiner Zahlenprobleme bin ich schon in der Grundschule mit einfacher Rechnerei kollidiert, deshalb nenne ich gern die italienischen Ausdrücke für die Jahrhunderte, das fällt mir leichter: Quattrocento gleich vierzehnhundert, auf Deutsch sprechen wir vom 15. Jahrhundert.
Der Hohle Fels, weltberühmter Fundort
Aber zurück zur Frühgeschichte. Man darf nicht glauben, dass man auf der Alb nun als Laie einfach in Höhlen hineinklettert und dort auf dem Boden überall uralte Flöten und kleine Mischwesen herumliegen, nein, diese Schätze sind unter meterhohen Ablagerungen auszugraben. Mein ganz besonderer Held, der bereits erwähnte Nicholas Conard von der Uni Tübingen, ist hier mit seiner Truppe von Mitarbeitern und Studierenden am Werk. Sie knien auf dem Boden und pinseln geduldig jedes Steinchen frei. Es sind hauptsächlich Frauen, die meiner Ansicht nach über wesentlich mehr Ausdauer verfügen, als etwa mein Beruf als Koch je erfordern wird. Sie suchen nach Knöchelchen in Kieselsteingröße, das ist für mich wirkliche Knochenarbeit.
Auch das Lonetal nördlich von Ulm, bei Niederstotzingen, gab die eindruckvollsten Kunstwerke frei. In der Stadel-Höhle am Hohlenstein wurde etwa mein verehrter Löwenmensch gefunden, der aus 800 kleinen Bröckelchen zusammengesetzt wurde. In einem Film konnte ich verfolgen, wie die Tübinger Restauratorin dabei mit einem Mikroskop zu Werke ging. Dass man da nicht die Nerven verliert, ist mir nahezu unvorstellbar.
Der Hohle Fels, der übrigens nicht zu verwechseln ist mit dem eben genannten Hohlenstein nördlich von Ulm, wurde 2008 sehr berühmt, weil dort nicht nur die Geierknochenflöte, sondern auch «die Venus vom Hohle Fels» gefunden wurde. Beide Kunstwerke sind jeweils ungefähr 40000 Jahre alt. Die Hohle-Fels-Lady ist die älteste figürliche Darstellung einer Frau, auffällig sind die überdimensional gestalteten großen Brüste und Vagina. Die Figurine war sehr wahrscheinlich eine Art Talisman.
Wenig später bin ich zurück am nordöstlichen Rand von Blaubeuren, wo die Württembergische Leinenindustrie AG angesiedelt war. Das verlassene Gemäuer haben nach dem Niedergang der Textilerzeugung Künstler und kleine Werkstätten übernommen, und heute bin ich hier mit einem Archäotechniker verabredet, der an gleicher Stelle eine Schmiede betreibt. Der Mann ist ein echter schwäbischer Tüftler und beherrscht jeden Umgang mit Metall, Holz und Elfenbein. Die Originalkunstwerke aus den Höhlen dürften in Tresoren liegen, aber was wir im Museum anschauen, sind in der Regel Nachbildungen, die von solchen Experten gefertigt werden. Um mich erstmal gehörig einzuschleimen, kaufe ich dem Knochenflöten-Spezialisten rasch ein handgeschmiedetes Küchenmesser ab, das trotz Sympathierabatt völlig berechtigt einige hundert Euro kostet. So verstehe ich Nachhaltigkeit, dass man sich etwas zulegt, an dem sich noch die Nachkommen erfreuen können.
Ein ganzes Sortiment von Knochen- und Elfenbeinflöten werden nun neben meinem Küchenmesser aufgereiht. Vielleicht habe ich meinen Besuch zu wichtigtuerisch angemeldet, denn der Handwerker hat eigens eine Museumsmitarbeiterin, die mit diesen Flöten sogar Konzerte gegeben hat, für mich einbestellt. So bekomme ich eine erste Einweisung und tatsächlich auch den Beweis, dass man mit den Flöten wirklich Musik machen kann. Ich gehe gleich in die Vollen, setze das Knochenrohr an die Lippen, genauso, wie man einer Colaflasche einen tiefen Ton entlockt. Ein hoher Pfeifton quietscht, endet jedoch unvermittelt in Geröchel. Schnell kapiere ich, dass es mit meiner Hauruckmethode nicht funktioniert, und kapituliere. Ich plaudere noch etwas mit der Musikerin, der Handwerker bekommt einen kräftigen Handschlag, und dann fahre ich wieder der Heimat zu.
Der Blautopf in Blaubeuren, Romantik pur
Wieder kann ich festhalten und muss aufpassen, dass ich keinen «Graddel» (Größenwahn) bekomme: Die ältesten Instrumente der Welt sind made in Schwabenland, und unsere Vorfahren waren offenbar musische Menschen. Sie bauten aus Schwanen-Flügelknochen ihre Flöten oder spalteten einen Mammutzahn, um diesen dann in unendlicher Akribie mit Steinwerkzeugen der Länge nach auszuhöhlen. Das musste mit jeder Hälfte getan werden. Die Ränder wurden parallel abgeschliffen, und zwar so präzise, dass beide Teile luftdicht zusammenpassten. Wie oft muss ihnen wohl alles unter den Händen zerbrochen sein? Auf Erfahrungswerte konnten die Damaligen nicht zurückgreifen. Die Beharrlichkeit und Präzision, die bei der Anfertigung an den Tag gelegt werden mussten, stellen diese Ur-Instrumente für mich auf einen Rang mit...
Erscheint lt. Verlag | 12.11.2024 |
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Zusatzinfo | 4-farb.; zahlr. Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Deutschland |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Baden-Württemberg • Bestsellerautor • Fernsehkoch • Geschichte • Koch • Kulinarischer Reiseführer • Kulturgeschichte • literarischer Reisebericht • Maultaschen • Rezepte • Schwaben • Schwäbische Alb • Spätzle • Spaziergänge • Sternekoch • Stuttgart • Vincent Klink • Wielandshöhe |
ISBN-10 | 3-644-01684-4 / 3644016844 |
ISBN-13 | 978-3-644-01684-2 / 9783644016842 |
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