Vielleicht können wir glücklich sein (eBook)
368 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1063-6 (ISBN)
ALEXA HENNIG VON LANGE, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman >Relax< (1997) zu einer der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Seitdem hat sie mehr als 25 Romane veröffentlicht. Bei DuMont erschienen u. a. >Risiko< (2007), >Peace< (2009), >Kampfsterne< (2018), >Die Weihnachtsgeschwister< (2019), >Die Wahnsinnige< (2020), >Die karierten Mädchen< (2022), >Zwischen den Sommern< (2023) und >Vielleicht können wir glücklich sein< (2024). Die Autorin lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Berlin.
2
September, 1944
Noch vor einiger Zeit hätte Klara gesagt: »Wir leben auf einer unberührten Insel.« Mit Insel war das ländliche Frauenbildungsheim gemeint, das eingebettet in ein idyllisches Tal des bewaldeten Löhberges am Rand des Städtchens Sandersleben lag. Hier bewohnte sie mit ihren vier kleinen Kindern das ehemalige Hausmeisterhäuschen, das sie vor fünf Jahren als Leiterin der Lehranstalt mit ihrem Mann Gustav bezogen hatte. Nur einen Steinwurf entfernt stand das große Hauptgebäude, in dem die Lehrerinnen, Erzieherinnen, die Schülerinnen und die Kurkinder untergebracht waren, die aus allen Teilen des Großdeutschen Reichs ihren Weg zu ihnen nach Anhalt suchten. Aus dem Rheinland, aus Ostpreußen, aus Schleswig-Holstein und sogar aus Österreich kamen sie, um hier für eine gewisse Zeit Heimat zu finden. Unerlässlich war allerdings, dass alle, die hier lebten, nachweislich arischer Abstammung waren. Ein schmaler Schotterpfad führte aus dem Ort zu ihnen herauf. Für die hohen Herren aus dem Staatsministerium in Dessau gab es natürlich auch eine gepflasterte Straße. In regelmäßigen Abständen ließen sie sich von ihren Chauffeuren in ihren großen schwarzen Limousinen herauffahren, um zu überprüfen, ob diese Bildungsanstalt auch anständig nach den nationalsozialistischen Prinzipien geführt wurde. Doch alle, die hier oben zu Hause waren, nahmen die steile Abkürzung durch den Wald hinunter ins Städtchen.
Klara stand ein Stück von ihrem Wohnhaus entfernt auf der Wiese neben dem Wasserbecken, in dem in den Sommermonaten eine Fontäne plätscherte und wo die Schülerinnen vom Tanzlehrer Walter Borschel im Volkstanz unterrichtet worden waren, bis er in den Krieg ziehen musste und bald darauf in Stalingrad gefallen war. Klara atmete tief ein. Sie alle hatten den feinsinnigen Walter Borschel in seinem knappen schwarzen Bolerojäckchen und seinen schwarzen Anzughosen gemocht; es waren immer besonders losgelöste Stunden gewesen, wenn er mit den Mädchen unter den Kirschbäumen die Schrittfolgen geübt hatte.
Der September neigte sich dem Ende zu und das Laub der Bäume färbte sich langsam gelblich. Die Sonne schickte ihre letzten warmen Sommerstrahlen zu Klara und ihren Kindern hinunter, die im Schutzgraben, der sich seit Kurzem wie eine klaffende Wunde durch den weitläufigen Garten zog, Fangen spielten. Klara sah vom Rand aus zu ihnen hinab. Es machte den Kleinen Spaß, da unten herumzulaufen und sich zu jagen. Der Graben war schmal und die Wände waren hoch; und ihr glucksendes Lachen schallte bis zu ihr herauf. Sie sah die rote Mütze von Hilli, die Georg-Friedrich immer dicht auf den Fersen war. Ihr Ältester war nun schon fünf Jahre alt. Inge wackelte tapfer hinterher, mit ihren knapp zwei Jahren war sie noch lange nicht so schnell wie ihre großen Geschwister. Aber sie war wild entschlossen mitzuspielen. Sie stolperte, fiel auf alle viere, rappelte sich wieder auf und wackelte weiter. Was für ein kleines, unverwüstliches Persönchen.
»Hab dich!«, rief Hilli triumphierend und klammerte sich an Georg-Friedrichs Arm. »Hab dich!«
Klara lächelte. Georg-Friedrich hatte sich wieder einmal erbarmt und von seiner vierjährigen Schwester fangen lassen. Es war gut, dass die Kinder sich hatten. Geschwister waren wichtig. Sie hielten einen ein Leben lang in der Welt. Klaras Blick glitt über die zu Wällen aufgeworfene Erde, die von jungen Rekruten beim Grabenbau hinaufbefördert worden war. Weiter über die Rasenfläche und die Kirschbäume hinweg, hinüber zum zweigeschossigen Hauptgebäude des Frauenbildungsheimes. Quer dazu lag das niedrige Schulgebäude aus Fachwerk, in dem sich die Werkräume und eine Lehrküche befanden. Versteckt dahinter gab es noch einen Viehstall mit zwei Kühen und einem Schwein. Hühner gackerten und im großen Gemüsegarten wiegten sich die hochstehenden violetten Kohlrabiblätter. Auf der Säuglingsstation lernten die Schülerinnen alles über Säuglingspflege. Das Jugendamt brachte ihnen kränkelnde und unterernährte Kinder jeden Alters, die von den Schülerinnen und Kinderschwestern gepäppelt wurden. Für alles gab es klare Anweisungen aus dem Dessauer Staatsministerium. Alles diente dem einzigen Zweck: dass aus den Schülerinnen erdverwurzelte, das Volk stützende Mütter wurden. Denn angeblich gab es keinen größeren Adel für die deutsche Frau, den sie sich überhaupt erwerben konnte. Der Propagandaminister Goebbels hatte kürzlich in einer seiner frenetischen Reden sogar gesagt: »Das Überleben des deutschen Volkes liegt in ihren Händen.«
Vor einem Jahr hatte Klara ihre Arbeit als Leiterin des Heimes aufgegeben, nachdem sie kurz hintereinander drei Kinder zur Welt gebracht hatte. Gustav, dessen Einheit sich inzwischen aus Weißrussland nach Südpolen zurückziehen musste, kam nur selten nach Hause. Die Doppelbelastung durch Haushalt, Mutterschaft und Heimleitung war kaum noch zu bewältigen gewesen. Doch eigentlich hatte Klara endlich nach einer klaren Linie leben wollen. Der Zwiespalt zwischen dem, was von ihr als Angestellte des Staates gefordert wurde, und dem, was sie menschlich für richtig hielt, war schließlich unüberwindbar geworden. Ihre Abscheu den Nazis gegenüber hatte sie vor ihren Vorgesetzten aus Dessau kaum noch verbergen können. Die ihr ans Herz gewachsenen Schülerinnen hatten ihre Abschlüsse gemacht und waren in alle Himmelsrichtungen entschwunden. Susanne, Klaras engste Vertraute, war nach Rom gegangen, in der Hoffnung, in Italien ungezwungener leben zu können. Denn dort hatte der Faschismus mit dem Sturz Mussolinis, wie es schien, bereits sein Ende gefunden. Fritzchen Trensinger, die gute Seele des Hauses, war geblieben, hatte kommissarisch die Leitung des Heimes übernommen und versuchte nun ihrerseits, den Spagat zwischen der eigenen und der nationalsozialistischen Weltanschauung unauffällig zu meistern.
Klara seufzte. Über ihr spannte sich der wolkenlose, tiefblaue Septemberhimmel, die Luft war noch warm, aber um ihre Waden schlich die erste herbstliche Kälte. Neben ihr stand der Kinderwagen, in dem ihre kleine Gudi warm eingepackt mit wachen Augen die Umgebung bestaunte. Vor drei Monaten war sie auf die Welt gekommen, ihren Vati hatte sie noch nie gesehen.
»Mama, dürfen wir hinauf zu den Obstgärten laufen und gucken, ob schon ein paar Äpfel von den Bäumen gefallen sind?«, rief Georg-Friedrich und sah aus dem Erdreich zu ihr hinauf.
Klara blickte zu ihren drei Kindern hinunter, deren helle Gesichter im dunklen Schacht schimmerten. Wie die Orgelpfeifen standen sie nebeneinander. Georg-Friedrich mit seinem weißblonden Haar, Hilli mit ihrer roten Häkelmütze und Inge mit ihrer dunkelblauen Mütze. »Macht nur«, rief Klara zurück und beobachtete, wie ihre Kinder eins nach dem anderen die hohe Leiter zu ihr heraufkletterten. Georg-Friedrich war so ein lieber, vernünftiger Junge. In seiner grauen Strumpfhose und seinem Mäntelchen stand er unten und wartete, bis seine jüngeren Schwestern die Sprossen erklommen hatten. Schließlich stieg er als Letzter hoch.
»Kommt!« Er nahm Inge an die Hand. Die beiden waren einander so nah, während Hilli sich überhaupt nicht vereinnahmen ließ. Als wäre sie allein unterwegs, lief sie zielstrebig die Wiese hügelaufwärts, direkt auf das Gatter zu, das auf die weiten Felder hinausführte. Hinter den gelb schimmernden Stoppeln lagen die Gärten des Obstgutes. Apfel- und Birnenbäume standen dort. Klara hatte mit dem alten Pächter vereinbart, dass die Kinder heruntergefallenes Obst auflesen durften. Vielleicht würde es heute genug sein, um daraus ein Kompott für den Nachtisch zu kochen.
Nun stand Klara allein neben dem rechteckigen Wasserbecken, mit ihrer Kleinsten im Wagen. Vor fast genau einem Jahr hatte sie hier mit Inge gestanden, die aus dem Kinderwagen in die für sie so unergründliche und neue Welt geschaut hatte, während Hilli sich von Georg-Friedrich im Holz-Lastwagen die breite Auffahrt hinauf und hinunter hatte schieben lassen.
Mit einem Mal hatte sie jemanden ihren Kosenamen rufen hören. »Klärchen!« Erstaunt hatte sie sich umgedreht. Gustav war vollkommen unerwartet aus dem Wäldchen auf sie zugekommen. Seine steingraue Uniform hing lose um seinen mageren Körper, sein sonst so fröhliches Gesicht war um Jahre gealtert. Fast hätte sie ihren Mann nicht erkannt. Sie war ihm entgegengelaufen, hatte ihn umarmt und auf seine unrasierte Wange geküsst. Zwei Tage war er mit dem Zug aus Weißrussland zu ihnen unterwegs gewesen. Vor lauter Glück und Überraschung hatte sie kein Wort herausgebracht. Sein sonst so offener Blick war verschleiert gewesen. »Ihr habt mir gefehlt«, hatte er mit brüchiger Stimme gesagt und dabei ganz fahrig gewirkt, als müsste er gleich wieder los. Sie hatte nach seiner rauen Hand gegriffen und geflüstert: »Du fehlst uns auch sehr.« Und so hatten sie, dicht nebeneinanderstehend, hinübergeschaut zu den mit ihrem Lastauto spielenden Kindern. Ganz leise hatte Gustav gesagt: »Der Krieg frisst auch am Leben der Lebenden.«
Ja, so war es wohl. Und der Krieg wurde immer gefräßiger. Er fraß und fraß am Leben der Lebenden, und doch entstand überall neues Leben, das beschützt werden musste, damit der Krieg nicht auch das noch fraß. Ihrer kleinen Tochter, die jetzt so ahnungslos im Kinderwagen saß und mit den Fäustchen wackelte, durfte nichts passieren. Keinem ihrer Kinder durfte etwas passieren. Ihre anderen drei liefen hintereinander den Weg zum Gatter hinauf. Georg-Friedrich war inzwischen an Hilli vorbeigesprintet. Er war so eine Sportskanone. Wild entschlossen wetzte Hilli hinterher. Sie krähte: »Ich hebe die Äpfel auf! Ich hebe die Äpfel auf!« Auf ihren kurzen Beinen gab sie alles, um ihren Bruder wieder einzuholen. »Warte, Gerg-Fiedlich!« So nannte...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Reihe/Serie | Heimkehr-Trilogie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Alliierte • Besatzung • Deutsche Geschichte • Die karierten Mädchen Band 3 • Die karierten Mädchen Trilogie • Familie • Historische Geschichte • Judenverfolgung • Jüdisches Mädchen • Mutter • Nachkriegsjahre • Nachkriegszeit • Neuanfang • Tonband • Trümmer • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-7558-1063-8 / 3755810638 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1063-6 / 9783755810636 |
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