Die Kriminalistinnen. Acht Schüsse im Schnee (eBook)
320 Seiten
Emons Verlag
978-3-98707-137-9 (ISBN)
Mathias Berg wurde 1971 in Stuttgart geboren und schreibt seit seinem 14. Lebensjahr. Nach dem Studium der Soziologie in Bamberg und London wurde er PR-Redakteur und arbeitete in der Werbung und im Marketing. Mathias Berg ist verheiratet und lebt in Köln.
Mathias Berg wurde 1971 in Stuttgart geboren und schreibt seit seinem 14. Lebensjahr. Nach dem Studium der Soziologie in Bamberg und London wurde er PR-Redakteur und arbeitete in der Werbung und im Marketing. Mathias Berg ist verheiratet und lebt in Köln und in der Vulkaneifel.
1
Freitag, 27. Februar 1970
Der Himmel über dem Friedhof war bleistiftgrau und schwer. Ich stand mit meinen Kolleginnen von der Kripo auf dem Düsseldorfer Zentralfriedhof und war für einen Augenblick von einer Bewegung abgelenkt. Einem Schatten. Mein Blick wanderte über die Reihen der schwarz gekleideten Menschen, der uniformierten Schultern und gesenkten Köpfe zu dem ausgehobenen Grab. Zu dem Pfarrer mit der roten Nase, der beim Sprechen Wolken ausspuckte, und zu den Sargträgern und Friedhofsgärtnern, die in ihre Fäuste pusteten. Von dort schweifte mein Blick weiter über die Reihen der Grabsteine, die wie alte Zähne in der Erde steckten, zu den unteren Zweigen einer Tanne. Und während ich den Sermon des Pfarrers nur noch entfernt wahrnahm, entdeckte ich dort drei Krähen.
Große Tiere. Schwarz und unheimlich. Todesboten. Unglücksbringer.
Mit ihrem glänzenden Gefieder und ihren spitzen Schnäbeln standen sie dicht beieinander, hüpften auf der Stelle und blickten in unsere Richtung. Legten ihre Köpfe schief, als wollten sie sagen: Den beerdigt ihr hier? So einer war das?
Die drei Krähen taten so, als sei das mühsame Auffinden von Nahrung in diesen kalten Tagen ihre einzige Beschäftigung. Aber ich glaubte ihnen nicht. Selbst Krähen gegenüber war ich nach meinem ersten Jahr als angehende Kriminalwachtmeisterin misstrauisch geworden.
Ihr führt doch was im Schilde, wie ihr da zusammensteht.
Es war an dem Tag wieder knapp über null Grad, und ich spürte meine Zehen nicht mehr. Auch mein Herz war kalt, denn ich stand am Grab eines Menschen, für den ich nichts empfand, und heuchelte Ergriffenheit. In mir war nur eine Erinnerung an einen alten tiefen Schmerz, und der galt meiner Mutter, die vor über zehn Jahren vor meinen Augen zu Tode gekommen war. Aber für die Person, die an diesem Februartag beerdigt wurde, war nichts da, und ich schämte mich, weil ich mir gefühlskalt vorkam.
Jürgen Potthoff war allein gestorben. Er hatte es so gewollt.
Niemand aus dem Präsidium hatte Potthoff in den letzten Monaten seines Lebens mehr besuchen dürfen. Aber sie erzählten sich, es gäbe ein Foto von ihm, wie er auf dem Sterbebett lag und aussah wie eine reife Pflaume, die auf dem Fensterbrett in der sengenden Sonne vergessen worden war. Klein und zusammengeschrumpelt. Auf einem weißen Betttuch, in seitlicher Lage, wie ein Embryo. Alle Kraft und Energie herausgepresst, in einem langen, ermüdenden Prozess, der unumkehrbar war. Und das musste das Schlimmste für Potthoff gewesen sein, für diesen zähen und unerbittlichen Leiter der Mordkommission, der seine Untergebenen streng ausbildete und nichts dem Zufall überließ. Er musste jegliche Kontrolle abgeben. Sein eiserner Wille brachte ihm gar nichts. Der Krebs hatte sich wie ein Parasit in seinen Körper eingenistet und ihn aufgefressen. Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Potthoff hatte nur noch ein knappes halbes Jahr gehabt, und als ich vergangenen Sommer mit ihm in der Mordkommission gearbeitet hatte, wusste er es bereits. Er hatte es mir an meinem letzten Tag zugeflüstert, als sei es ein Abschiedsgeschenk. Eine Losung. Als würde es rückwirkend die Dinge in ein anderes Licht stellen. Aber das tat es nicht. Ich hatte die Zeichen bemerkt, aber für mich behalten. Vor einer Woche war Potthoff also gestorben. Allein. In dem Moment, als seine Frau aus dem Sterbezimmer ging, um die Schnittblumen wegzuwerfen, die er nicht mehr sehen wollte. So erzählten sie es sich.
»Wahre Helden«, sagten die Männer, »sterben allein.«
Wir sechs Frauen standen frierend in einer Reihe, eng beieinander, die sechs Kriminalistinnen in Ausbildung vom Polizeipräsidium Düsseldorf. Ich in der Mitte, mit einem dunkel gemusterten Kopftuch auf dem blonden Schopf und in dem hellen Wintermantel, den ich mir geleistet hatte. Links von mir Ruth, mit streng aus dem Gesicht gekämmten dunklen Haaren, in einem aschefarbenen Mantel, und daneben Mieze, deren rote Locken so lebendig leuchteten, dass es fast unanständig war. Rechts von mir, Schulter an Schulter, stand Lilli, in einen großen Schal gehüllt, mit der ich gerade im Sittendezernat arbeitete, und daneben die große Renate, die sich eine schwarze Baskenmütze tief ins Gesicht gezogen hatte. Am rechten äußeren Rand stand Petra, die Älteste von uns, mit einem Damenhut mit Schleier auf dem Kopf wie bei einer Hollywoodbeerdigung, worüber wir uns bereits auf dem Weg lustig gemacht hatten.
Ein helles Glöckchen erklang.
Die vier Sargträger ließen den glänzenden schwarzen Sarg an den Bändern langsam in die Erde nieder. Ein Schluchzen ertönte, während der Pfarrer einen Segen sprach. Potthoff hatte Glück, dass sie ihn heute beisetzen konnten. Der Boden war durch den lang anhaltenden schneereichen Winter so gefroren gewesen, dass sie nur mit größter Mühe und unter Einsatz eines Baggers ein Loch ausheben konnten. Kurz war überlegt worden, seinen letzten Willen zu ignorieren und ihn einzuäschern, aber seine Frau hatte eisern an dem Wunsch festgehalten. Es sollte genau so sein, wie er es befohlen hatte. Selbst über den Tod hinaus reichte sein langer Arm.
Ruth knuffte mich in die Seite. Ein Mann mit langen weißen Haaren, die er in einem Pferdeschwanz trug, trat in einem schwarzen Mantel aus der Menge hervor, stellte sich neben das Grab, klemmte eine Geige unter sein Kinn und begann eine traurige Melodie zu spielen.
»Das auch noch«, flüsterte Ruth mir zu und verdrehte die Augen.
»Den Geiger bestellen sie für jede Beerdigung, kostet fünfundzwanzig Mark«, raunte ich ihr zu. »Elke hat es mir verraten. Ist ein ehemaliger Polizist. Ist über einen Mordfall verrückt geworden. Jetzt spielt er nur noch Geige.«
»Das werde ich überprüfen«, erwiderte Ruth.
»Schschscht«, machte Lilli und strafte uns mit Blicken, zog ein weißes Taschentuch hervor und tupfte sich die Nase.
Ich blickte über die Reihen der Trauernden vor mir und lauschte der Melodie, die der Geiger spielte, und da öffnete sich in mir eine Tür, und eine alte Trauer kam wie eine Welle angerollt. Ich schluckte hohl, starrte zu Boden, und mit einem Mal war ich bei der Beerdigung meiner Mutter vor elf Jahren.
»Das ist zu groß für dich«, hatte Tante Hedwig, Mutters ältere Schwester, am Morgen der Beerdigung zu mir gesagt, als ich in einem schwarzen Kleid meiner Mutter in die Küche kam, das ich unten mit der Schere abgeschnitten hatte, weil es zu lang war. Das Kleid, das mein Vater mir besorgt hatte, wollte ich nicht anziehen, weil mich der Stoff kratzte.
»Du bleibst besser zu Hause«, sagte Hedwig in strengem Ton und mit missbilligendem Blick auf das Kleid und murmelte ein »leeve Jott« auf Kölsch hinterher. Da schrie ich los, dass meinem Vater angst und bange wurde.
»Lass das Kind in Ruhe, es ist schon schlimm genug«, flehte er, am Ende seiner Kräfte, von tiefer Traurigkeit beschattet, die ihn nie wieder verlassen sollte, außer wenn er trank und mit dem Phantasiebild meiner Mutter in der Küche tanzte und gegen Tisch und Stühle rumpelte. Und er trank und tanzte oft.
Ich brüllte Tante Hedwig an, dass sie mir gar nichts zu sagen hätte, und begann mit Fäusten auf sie einzuschlagen, und sie hob nur abwehrend die Hand und kreischte, und mein Bruder Henning ging dazwischen und schlug mir auf die Finger, und dann war Ruhe, und alle sahen sich betroffen an.
»Lucia kommt mit zur Beerdigung, und damit Schluss«, sprach mein Vater ein Machtwort und stampfte mit seinem gesunden Bein auf.
Mutters Beerdigung auf dem Friedhof Segeroth in Essen war ein einziges Geheule, mit einer großen Traube Menschen, die hinter uns gingen. Die Sargträger waren Kumpel meines Vaters, kräftige Jungs, die den Sarg schulterten. Vater humpelte, wir Kinder folgten. Henning neben mir, er hatte seine Mütze abgenommen und knibbelte mit den Fingern an deren Innenseite. Ich setzte einen Schritt vor den anderen und presste die Zähne aufeinander. Ich war mir sicher, dass meine Mutter woanders war, aber mit Sicherheit nicht in dieser dämlichen Holzkiste, hinter der wir herschritten. Wut packte mich, Schimpfwörter fluteten mein Hirn, weil ich nicht glauben wollte, dass sie tot war. Mein Vater stolperte und fiel der Länge nach hin. Ein Raunen ging durch die Trauergemeinde, und wir wollten ihm aufhelfen.
»Legt mich doch zu ihr«, flüsterte er.
Er hatte seinen rechten Unterschenkel im Krieg verloren. Meine Mutter, ein kölsches Mädchen, war während des Kriegs ins Ruhrgebiet geflüchtet, und dort hatten die beiden sich kennengelernt. Verliebt. Verlobt. Verheiratet. Er arbeitete in der Zeche als Aufzugführer, mein Bruder folgte ihm später und schuftete unter Tage bei zweiundvierzig Grad. Ein begehrter Arbeitsplatz mit einer ordentlichen Bezahlung im jungen Nachkriegsdeutschland.
In dem Moment wurde mir schlagartig bewusst, dass ich meinen Vater auch noch verlieren könnte, und das durfte nicht sein.
»Wir dürfen jetzt nicht aufgeben«, presste ich unter Tränen hervor, die mir die Wangen herunterliefen. »Mama würde uns auslachen, wie wir hier am Boden liegen.«
Das wirkte.
»Recht haste«, sagte er leise, und stumme Tränen liefen sein Gesicht hinab. Wir packten ihn unter der Achsel und zogen ihn hoch. Vater legte seine schwere Hand auf meinen Kopf. »Kommt«, sagte er mit brüchiger Stimme, »geben wir eurer Mutter das letzte Geleit.«
Tränen fluteten meine Augen, und ich sah den Friedhofsboden nicht mehr scharf. Der Geiger spielte die letzten Töne für Potthoff, und ich blickte durch den Tränenschleier auf die Gestalt, die da plötzlich neben seinem Grab stand. Bildschön. Makellos. Mama. Sie trug das dunkelblaue Sommerkleid mit den weißen Punkten, wie auf dem...
Erscheint lt. Verlag | 21.3.2024 |
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Reihe/Serie | Die Kriminalistinnen | Die Kriminalistinnen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Auftragsmord • Düsseldorf • Facettenreich • Frauen • Geheimnisse • Historischer Bezug • Kriminalroman • Kunst • Liebe und Leidenschaft • Lügen • Mord • Mordermittlung • spannend • Spannung • Weibliche Protagonistinnen |
ISBN-10 | 3-98707-137-0 / 3987071370 |
ISBN-13 | 978-3-98707-137-9 / 9783987071379 |
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