Eine grenzenlose Welt – Schicksal (eBook)
448 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-30088-3 (ISBN)
Amerika 1899: Seit einem tragischen Zerwürfnis haben die junge Auswanderin Marga und ihre Cousine Rosie kein Wort miteinander gesprochen. Marga arbeitet mittlerweile als Journalistin in San Francisco, wo sie ihren Sohn Nicky allein großzieht. Doch in Gedanken ist sie immer wieder in New York - und bei Rosie. Da greift das Schicksal in ihr Leben ein: Marga erhält einen Hilferuf von Rosie, als deren Mann, der Zeitungsverleger Simon, nach einem Überfall im Koma liegt. Der Morning Herald, den Marga und Simon einst gemeinsam gegründet hatten, steht vor dem Ruin. Marga eilt nach New York, um ihrer Cousine beizustehen. Es ist ihre Chance zu kämpfen: um Vergebung, um den Morning Herald und um ihre Familie. Dabei trifft sie auch den Fotografen Nando wieder, dem schon lange ihr Herz gehört.
Sonja Roos, 1974 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf im Westerwald auf. Sie studierte Germanistik und Anglistik und arbeitete als Redakteurin und Kolumnistin bei der Rhein-Zeitung. Sonja Roos lebt heute mit Mann, drei Töchtern und einem Hund in ihrer alten Heimat, dem Westerwald.
1
San Francisco, 1899
Irgendwelche Neuigkeiten bezüglich des vermissten Mädchens?«, rief Gunnar Lensky über die Köpfe der anderen Reporter hinweg, als Maggie die Redaktion des San Francisco Call betrat. Betrübt schüttelte sie den Kopf.
»Von Hattie Waltham fehlt jede Spur«, sagte sie, während sie zügig zu ihrem Schreibtisch lief, ihre Tasche über den Stuhl hängte und den Block mit ihren Notizen auspackte. Sie war gerade erst von ihrer Recherchereise aus Covelo zurückgekehrt, wo die sechzehnjährige Hattie Waltham seit einigen Tagen auf mysteriöse Weise verschwunden war. Zuletzt wurde sie nahe ihrem Elternhaus gesehen, von da an fehlte jede Spur. Maggie hatte sich in der Nachbarschaft umgehört und mit der Familie gesprochen, wobei sie die Verzweiflung des Stiefvaters jedoch für gespielt hielt. Der Mann verbarg etwas und betonte für Maggies Geschmack etwas zu oft, dass seine Stieftochter sehr melancholisch sei und zu Anfällen von Hysterie neige. Er hatte sie an ihren Stiefonkel Xaver Hubert erinnert. Groß, grobschlächtig, jemand, der etwas Dunkles ausstrahlte. Die Mutter hingegen wirkte wie eine welke Pflanze in ihrer bodenlosen Trauer.
Die drei Tage in Covelo hatten Maggie zugesetzt. Sie vermisste ihren Sohn Nicky und musste zudem wegen der Parallelen des Falls dauernd an ihre Cousine Rosie denken. Daran, wie sehr Rosie unter dem Missbrauch durch ihren Stiefvater Xaver gelitten hatte. Vermutlich heute noch litt, was Maggie jedoch nicht beurteilen konnte, da sie seit ziemlich genau zwei Jahren und zehn Monaten keinerlei Kontakt mehr hatten. Ein Umstand, der ihr schwer auf der Seele lag. Sie vermisste Rosie jeden Tag, denn ihre Cousine war nicht nur die einzige Familie, die sie in Amerika hatte, sie war auch ihre beste Freundin, Vertraute, Seelenverwandte gewesen. Dass sie davon in der Vergangenheit sprechen musste, war auch noch ihre eigene Schuld. Noch heute verfluchte sie diesen blöden Kuss mit Rosies Ehemann Simon, diesen einen unbedachten Moment, der alles zerstört hatte.
Sie seufzte und zwang sich, ihre Konzentration wieder auf den Artikel über Hattie Waltham zu richten. Suchtrupps hatten die ganze Gegend rund um Covelo durchkämmt, Leuchtfeuer waren aufgestellt worden, einerseits, um dem Mädchen im Dunkeln eine Orientierung zu bieten, falls es sich in dem bergigen Gelände verlaufen hätte. Andererseits, um Panther, Bären und Berglöwen fernzuhalten. Maggie war mit dem Zug nach Covelo gereist und hatte in einer Pension nahe der Ranch der Eltern gewohnt. Dort hatte sie einige Gerüchte aufgeschnappt, die ihren Verdacht erhärteten, dass der Stiefvater etwas mit Hatties Verschwinden zu tun haben könnte.
Maggies Kollege Gunnar Lensky riss sie aus ihren Gedanken. Er war neben sie an den Schreibtisch getreten und starrte auf das Foto, das sie gerade aus ihren Unterlagen gezogen hatte.
»Hübsch, die Kleine«, stellte er fest, während sein erloschener Zigarrenstummel zwischen seinen Lippen hin und her tanzte.
»Sie wird nicht umsonst die Rose vom Tal genannt«, pflichtete sie ihm bei, während sie ein leeres Papier in ihre Underwood-Schreibmaschine spannte und die Walze mit einer entschlossenen Handbewegung nach rechts schob. Gunnar lehnte sich mit seinem breiten Hinterteil an ihren Schreibtisch und kreuzte die Arme.
»Simpson hat deine Geschichte zurückgestellt, er will jetzt doch mit dem Newman-Zugunglück aufmachen.«
Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Simpson hat mir für Hattie die Seite eins versprochen«, presste sie zornig hervor.
»Hat er wohl vergessen.« Gunnar zuckte ratlos seine massigen Schultern.
»Das Zugunglück ist seit Tagen die Titelstory, warum also noch einmal damit aufmachen?«, bohrte sie ungehalten nach.
Gunnar blickte sich kurz um, dann beugte er sich zu ihr und sah sie aus seinen von zu viel Bourbon und zu wenig Schlaf stets geröteten Augen an, die sie an die eines Bassets erinnerten.
»Maggie-Mäuschen, du weißt, dass Ernest Simpson nicht viel von Frauen als Reporterinnen hält«, flüsterte er, damit ihn niemand an den umliegenden Tischen hören konnte.
»Nenn mich nicht Mäuschen, Gunnar«, fauchte sie und starrte ihn aufgebracht an. Auch wenn Gunnar ein alter Freund aus New Yorker Tagen war und ihr den Job hier besorgt hatte, gab ihm das nicht das Recht, herablassend zu sein. »Du weißt, dass ich die beste Schreiberin in dieser verdammten Redaktion bin«, fügte sie vehement an. Lensky machte eine beschwichtigende Geste.
»Ich weiß das, und du weißt das, aber wir treffen hier nicht die Entscheidungen. Vermutlich weiß es Simpson sogar auch, aber er ist eben ein Arschloch.« Wieder zuckte er die Schultern, als hätte er sich mit den Ungerechtigkeiten, die tagtäglich in dieser Redaktion stattfanden, längst abgefunden.
»Ein Arschloch, das zufällig der Neffe des Verlegers und deshalb Chief Editor ist«, entfuhr es Maggie eine Spur zu laut. Nigel Cunnings warf ihr über den Raum hinweg einen tadelnden Blick zu, während er mit dem Kopf nach hinten in Richtung Chefbüro deutete. Natürlich, gerade jetzt musste Simpson aus seinem Glaskasten kommen. Maggie drückte den Rücken durch und reckte ihr Kinn vor. Sie würde jetzt nicht klein beigeben. Ihr Fall wäre morgen der bessere Aufmacher. Nach mehreren Tagen – und ohne neue Erkenntnisse – hatten die Leser sich an dem Zugunglück abgearbeitet, zumal es nur zwei Todesopfer gegeben hatte. Simpson bestand trotzdem darauf, dass sie weiterhin von einem Desaster schrieben. Der Mann war ein Idiot und kostete dem San Francisco Call mit seinen dummen Entscheidungen jeden Monat mehrere Hundert Stück Auflage. Trotzdem hielt sein Onkel John D. Spreckles stur an Simpson fest. Vermutlich, weil Spreckles, der sein Geld mit Zuckerrohr gemacht hatte, nicht wesentlich mehr Ahnung vom Zeitungsmachen hatte als sein frauenfeindlicher Neffe.
Maggie wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass sie wieder unter Simon arbeiten könnte, doch diese Tür war vor mehr als zweieinhalb Jahren zugeschlagen.
Wie sehr sie ihn und den Herald vermisste, wie sehr Rosie und ihr altes Leben in New York – und natürlich Nando. Wobei, nein, sie vermisste ihn nicht nur, sie sehnte sich absolut grundlegend nach ihm. Es fühlte sich an, als hätte er damals mit seinem Fortgang ihr Herz herausgerissen, das nun außerhalb ihres Körpers existieren und schlagen musste, irgendwo fern von ihr. An der verwaisten Stelle gab es nur Sehnsucht, Leere und Traurigkeit. Der Schmerz gehörte mittlerweile zu ihr wie ihre Stupsnase und die Sommersprossen. Erneut holte Gunnar sie aus ihren Gedanken.
»Zieh dich warm an, Maggie, Simpson hat dich im Visier.« Er stieß sich von ihrem Schreibtisch ab und machte auf halbem Weg dem Chief Editor Platz, indem er sich zur Seite drehte und seinen wuchtigen Bauch einzog. Simpson beachtete ihn nicht einmal, während er wichtigtuerisch heraneilte. Der Blick seiner kalten grauen Augen lag geringschätzig auf ihr, sein Mund war zu einer schmalen, missbilligenden Linie verzogen. Als er an ihrem Platz haltmachte, verschränkte er seine dürren Arme vor seinem noch dünneren Brustkorb.
»Sind Sie mit etwas nicht zufrieden, Mrs. Steele?«, fragte er gereizt, wobei seine Brille wie immer auf seiner viel zu spitzen Nase herabrutschte. Er schob sie unwirsch an ihren Platz und starrte Maggie dann herausfordernd an.
»Es ist ein Fehler, schon wieder mit dem Zugunglück aufzumachen. Es gibt nichts Neues zu berichten, außer, dass die Särge in der Heimatstadt der beiden Frauen angekommen sind.«
»Und dass man nun ganz offiziell den Stationsagenten und den Ingenieur beschuldigt«, blaffte er sie an.
Maggie spürte, wie ihre Schläfe zu pochen begann.
»Das hatten wir gestern schon im Blatt, neu ist lediglich die Tatsache, dass es nun von Southern Pacific bestätigt wird«, gab sie nicht minder scharf zurück.
»Mrs. Steele, wenn Sie unzufrieden damit sind, wie ich diese Redaktion führe, hält Sie niemand davon ab, zu gehen. Ohnehin verstehe ich nicht, warum Sie meinen, sich unbedingt in dieser Domäne beweisen zu müssen. Gehen Sie nach Hause zu Ihrem Kind, widmen Sie dem Kleinen mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Eine Frau sollte danach streben, eine gute Mutter zu sein, nicht eine gute Reporterin. Der Junge hat doch schon den Vater verloren«, fügte er in gespielt mitleidigem Ton an. Sie schluckte hörbar. Er hatte recht, und es war ihre Schuld, dass Nicky seinen Vater nie kennengelernt hatte, auch wenn Simpson nichts davon ahnte, dass sie nicht verwitwet, sondern verlassen worden war. Einen toten Ehemann verziehen die Menschen einer alleinerziehenden Mutter, doch ein uneheliches Kind wäre ihr Ausstoß aus der Gesellschaft gewesen. Zornig schluckte sie ihre Replik herunter und nickte knapp.
»Sie haben meine Geschichte um sechs Uhr auf dem Tisch«, gab sie zwischen zusammengebissenen Zähnen klein bei.
Ein arrogantes Lächeln breitete sich auf Simpsons hageren Zügen aus. »Und bleiben Sie bei den Tatsachen, Mrs. Steele. Ich will keine wüsten Theorien, sondern Fakten – und ein bisschen Drama drum herum. Die gebrochene Mutter, der verzweifelte Vater. Das können Sie als Frau doch gut.«
»Ich kann weitaus mehr als das«, zischte sie, weil ihre Wut auf Simpson wie kochendes Wasser unter einem losen Topfdeckel brodelte.
»Sie sollten den Mund nicht so voll nehmen, Mädchen. Ich habe Ihnen die Stelle gegeben, weil Lensky sich für Sie starkgemacht hat und ich durchaus Mitgefühl für Ihre prekäre Lage habe. Es ist sicher nicht leicht, als junge Witwe allein ein Kind zu erziehen. Aber strapazieren Sie meine...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Reihe/Serie | Eine grenzenlose Welt | Eine grenzenlose Welt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 2024 • Amerika 19. Jahrhundert • Auswanderer • Cousinen • dramatisch • eBooks • Fotograf • gefühlvoll • Historische Liebesromane • Historische Romane • Immigration • Jahrhundertwende • Jeffrey Archer • Liebesgeschichte • Liebesromane • Miriam Georg • morning herald • Neuanfang • Neuerscheinung • New York • Schuld und Vergebung • Verlegerin • Zeitung |
ISBN-10 | 3-641-30088-6 / 3641300886 |
ISBN-13 | 978-3-641-30088-3 / 9783641300883 |
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