Für immer, dein August (eBook)
450 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3116-4 (ISBN)
Barbara Leciejewski wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen »richtigen« Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen ist sie Bestsellerautorin und glücklich in ihrem Traumberuf.
Barbara Leciejewski wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen »richtigen« Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen ist sie Bestsellerautorin und glücklich in ihrem Traumberuf.
1
Isle of Man im Winter 1914
Fritz Koch hustete. Es war der Beginn eines längeren Anfalls, wie so oft in den letzten Tagen. Wenn es erst einmal bei ihm losging mit dem Husten, hörte es so schnell nicht wieder auf.
Dann kniete sich August neben ihn und stopfte ihm alles, was er im Zelt fand, unter den Rücken, damit er aufrechter sitzen konnte, weil er sich so leichter tat, und manchmal klang der Husten dann auch ab.
Fritz Koch hatte sich um August gekümmert, als die Musikanten im Sommer in Gefangenschaft geraten waren. »Halt dich an mich, Junge«, hatte der Kapellmeister zu ihm gesagt. »Ich passe auf dich auf.« Und das hatte er getan. Man hatte sie über die Irische See zur Isle of Man gebracht. Auf dem Schiff hatte ein großes Durcheinander geherrscht, ein noch größeres bei der Ankunft auf der Insel. Die Mitglieder der Kapelle hatten sich im Gedränge zumeist aus den Augen verloren, nur Fritz Koch hatte August immer am Arm oder am Ärmel oder an irgendeinem anderen Teil seiner Kleidung festgehalten.
Nach Cunninghams Camp hatte man sie gebracht, ehemals ein Ferienlager für junge Männer, wie es hieß, nun umfunktioniert zu einem Gefangenenlanger für die Feinde Englands. Deutsche, Österreicher, Ungarn – lauter Zivilisten. Männer, die man in England festgenommen und interniert hatte, damit sie nicht als Soldaten für ihre Heimatländer in den Krieg ziehen konnten.
Die Gefangenen hausten in Zelten, die auf groteske Weise an die frühere Bestimmung des Camps erinnerten. Eng war es darin und feucht und kalt trotz der Decken, die man ihnen gegeben hatte. Dicht drängten sich die Zelte aneinander, so weit das Auge reichte. Ein Meer von Zelten, eine Unmenge Gefangener.
August Schönborn, der Musikant aus der Westpfalz, war einer von ihnen, der Jüngste von allen.
You better stay here, you are here in safety.
An diesen Worten hielt er sich fest, wenn er an seiner Verzweiflung zu ersticken drohte. Sie hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt, obwohl er die Sprache gar nicht beherrschte, die Worte eines englischen Offiziers, die ihn hatten trösten sollen, als seine beiden wenig jüngeren Kameraden bei Kriegsausbruch nach Hause durften und er nicht, weil er ein paar Tage zu alt war. Ein paar Tage nur entschieden über seine Freiheit. Doch wenn es stimmte, was man ab und zu über den Krieg drüben auf dem Kontinent hörte, dann hatten diese Tage über sein Leben entschieden. August war jetzt siebzehn Jahre alt, er wäre eingezogen worden. Vielleicht wäre er schon schwer verwundet, hätte einen Arm oder ein Bein oder das Augenlicht verloren. Vielleicht wäre er schon tot.
You better stay here …
Doch auch im Lager konnte man sterben. Auf andere Weise zwar, aber sterben war sterben. Unterkühlung, Hunger, Krankheit, Dreck, Trostlosigkeit, Langeweile. Heimweh …
Die Wachleute verhielten sich zum größten Teil anständig, besonders gegenüber August, wohl weil er so jung war, aber sie konnten das Essen nicht besser machen und auch die erbärmlichen Zustände im Lager nicht ändern. Den Gang zu den schauerlichen Latrinen vermied man so lange wie nur irgend möglich.
Ein Vierteljahr nachdem man sie in das Lager gebracht hatte, am 19. November, als es kälter und immer kälter wurde und das Essen zu wenig und zu schlecht war, als das untätige Dahinvegetieren und die Hoffnungslosigkeit die Männer schier zerriss, da ergriffen einige von ihnen bei der Essensausgabe ihr Besteck und gingen damit auf das Wachpersonal los. Immer mehr Gefangene schlossen sich an, wurden zu einer rasenden Meute. Die Wachleute schossen in ihrer Not wahllos in die anstürmende Menge. Sechs Männer starben an diesem Tag. Der Schock über die Revolte und ihren Ausgang saß tief bei den Gefangenen, aber auch bei den Wachleuten, man sah es ihnen an. Sie wurden vorsichtiger, kühler, hielten ihre Gewehre fester in Habtachtstellung, und die Gefangenen lernten: Auch so konnte man im Ernstfall im Lager sterben: erschossen werden.
Und doch schienen die Engländer einzusehen, dass der Angriff aus tiefer Verzweiflung heraus entstanden war, und letztlich hatte er etwas bewirkt.
»Sie bauen jetzt ein richtiges Lager«, hieß es kurz darauf. So sah die Hoffnung aus in jenen Tagen: ein richtiges Lager.
Sobald es ihnen erlaubt war, schrieb August seiner Familie einen Brief, in dem er ihnen versicherte, dass es ihm gut ging. Er war in Gefangenschaft, ja, aber er war in Sicherheit. Man behandelte sie gut. Normalerweise und im Rahmen der Möglichkeiten.
Macht euch keine Sorgen um mich. Ich denke immer an euch und hoffe, dass der Krieg bald aufhört, schrieb er und achtete darauf, dass seine Tränen nicht auf das Papier fielen.
Am Tag danach und nach einer weiteren Nacht, in der er heimlich unter seiner Decke geweint hatte, schrieb er einen zweiten Brief, diesmal an seine beste Freundin Charlotte Schäfer in Bremen. Auch sie sollte beruhigt sein und erfahren, dass es ihm gut ging, doch als er die Worte zu Papier bringen wollte, zum wiederholten Male »Es geht mir gut« schreiben, da krampfte sich alles in ihm zusammen. Es ging ihm nicht gut. Keinem in diesem Camp ging es gut. Nicht annähernd.
August starrte auf das Blatt Papier und erinnerte sich daran, wie er und Charlotte als Kinder, die Füße im Glan, Zuckerstangen lutschend, zum ersten Mal ein Geheimnis teilten. Und auch später hatten sie alles geteilt, einander alles erzählt, das Wichtige und das Unwichtige, Gutes und Schlechtes. Er senkte die Feder aufs Papier und schrieb: Es geht mir gut so weit, man ist anständig zu uns, aber ich vermisse meine Familie so sehr, dass mir alles wehtut, Lotte. Sag es keinem, bitte.
Es musste aus ihm raus, weil er spürte, dass ihn das Heimweh sonst umbringen würde. Lotte würde ihn verstehen. Man weiß erst, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat, schrieb er. Früher wollte ich nur aus Mühlbach weg, jetzt will ich nichts anderes mehr als dorthin zurück.
August wusste nicht, ob seine Briefe ankamen. Vielleicht gingen sie verloren, vielleicht verließen sie England nie. Gar nichts wusste er. Würde er sie alle je wiedersehen? Seine Eltern, seine Geschwister. Seine Großmutter war schon so alt. Und war die Pfalz nicht viel zu nah an der Front? Überhaupt: die Front! Was war das eigentlich, die Front, von der alle immer sprachen? Dort wurde der Krieg ausgetragen, ja, das wusste er, aber was genau passierte dort? Was passierte in Mühlbach, in Bremen? Und wer musste alles dorthin, zur Front? Sein Vater sicher nicht. Oder doch?
Wenn Fritz Koch hustete, riss der Gedankenfaden in Augusts Kopf ab, und er hatte etwas zu tun. Sachen in Fritz Kochs Rücken stopfen. Hoffen, dass der Anfall bald vorüberging. Danach nahm der Kapellmeister August an der Hand, sagte ihm, dass er ein guter Junge sei, und bat ihn, ihm etwas auf der Geige vorzuspielen. Manchmal hörten die Wachleute zu und waren gerührt. Dann gab es, wenn sie Glück hatten, eine Extrascheibe Brot oder einen Becher lauwarmen Tee. Und dann zwinkerte Fritz Koch August zu, so als hätte das von Anfang an zu seinem Plan gehört.
Zwei andere Männer aus der Kapelle waren noch bei ihnen im Zelt. Hannes Weber und Wilfried Stumm. Ein Klarinettist und ein Trompeter. Die beiden saßen tagsüber häufig zusammen auf ihren Pritschen und tuschelten leise. August hatte mitbekommen, dass sie gemeinsam darüber nachdachten, wie sie fliehen konnten. Es war ihre Art, mit der Gefangenschaft umzugehen und nicht daran zu verzweifeln. Sie bezogen weder August noch Fritz Koch in ihre Pläne ein, wahrscheinlich, dachte August, hielten sie ihn für zu jung und Fritz für zu krank. Nur am Abend, wenn es dunkel wurde und die Verzweiflung und die Kälte sie zu zermürben drohten, da unterhielten sie sich alle miteinander, erzählten einander Geschichten, sangen Lieder, dachten an schöne Dinge, und manchmal lachten sie sogar. Das Lachen war ihre mächtigste Waffe, jedenfalls gegen die Verzweiflung. Gegen die Kälte war kein Kraut gewachsen, deswegen war Fritz Koch schließlich krank geworden.
Er hustete noch bis kurz vor Weihnachten, dann starb er, und ein anderer nahm seinen Platz im Zelt ein. An diesem Tag wäre August vermutlich endgültig zerbrochen, hätte man nicht kurz darauf seinen Namen bei der Postverteilung ausgerufen. Gleich zwei Briefe überreichte man ihm. Später machte August sich Gedanken über diesen seltsamen Zufall: ausgerechnet am Tag nach dem Tod des Kapellmeisters, ausgerechnet in dem Moment, in dem er es am dringendsten gebraucht hatte. Ein Brief aus Mühlbach und einer aus Bremen.
August kehrte zurück in sein Zelt, in dem Hannes und Wilfried wieder ihre Ausbruchspläne schmiedeten und der Neue auf Fritz’ ehemaliger Pritsche lag, den Kopf auf den untergeschlagenen Armen, in die Luft starrend. Neben diesen dreien und August schliefen noch zwei weitere Männer im Zelt, Josef Sichl und Herbert Prader, beide waren jung und kräftig und halfen tagsüber dabei, ein neues Lager aufzubauen. »Ein richtiges, mit Baracken statt Zelten«, erzählte der eine mit österreichischem Zungenschlag, das i gedehnt und akzentuiert und statt des e ein ö. Wären sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit zusammengekommen, hätte sich August darüber...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2024 |
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Reihe/Serie | Mühlbach-Saga | Mühlbach-Saga |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 1. • 2. • bewegend • Dorf • Familie • gefühlvoll • Großstadt • Heimat • Kaiserzeit • Landleben • Liebe • Liebesroman • Nationalsozialismus • Paar • Schicksal • Weltkrieg • Zusammenhalt |
ISBN-10 | 3-8437-3116-0 / 3843731160 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3116-4 / 9783843731164 |
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