Wie Sterben geht (eBook)
448 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77755-8 (ISBN)
»Kaum ein Autor kennt die Gesetze und inneren Strukturen der internationalen Geheimdienste so gut wie Andreas Pflüger - und kann so brillant darüber schreiben.« Hans-Ludwig Zachert, Ehemaliger Chef der Spionageabwehr des BKA
Winter 1983. Auf der Glienicker Brücke ist alles bereit für den spektakulärsten Agentenaustausch der Geschichte. KGB-Offizier Rem Kukura - Deckname Pilger - soll gegen den Sohn eines Politbüromitglieds ausgetauscht werden. Mittendrin: Nina Winter, die Kukura als Einzige identifizieren kann. Doch auf der Brücke wird Nina in ein Inferno gerissen, und das Schicksal von ihr und Rem wird zu einer Frage von Krieg und Frieden zwischen den Supermächten.
Drei Jahre zuvor: Nina ist Analystin beim BND und wertet Spionage-Informationen aus. Eine Schreibtischagentin. Bis man ihr mitteilt, dass Pilger, der geheimnisvolle Moskauer Top-Agent des BND, seine weitere Zusammenarbeit von ihr abhängig macht: Er will, dass Nina als seine Führungsoffizierin nach Russland kommt. Sie weiß, dass es die Chance ihres Lebens ist. Doch Nina ahnt nicht, dass sie beim KGB einen Todfeind haben wird. Um zu überleben, muss sie zu einer anderen werden, zu einer Frau, die mit dem Tod tanzt.
Wortgewaltig und mit Lust an virtuoser Action nimmt uns Andreas Pflüger mit in die Welt der Spionage und Gegenspionage auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Auf jeder Seite zittert man um seine Protagonistin Nina Winter, folgt ihrer Verwandlung zur Top-Agentin und kämpft mit ihr ums Überleben.
Andreas Pflüger wurde 1957 in Thüringen geboren. Er wuchs im Saarland auf und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Zu seinen Werken zählen Theaterstücke, Hörspiele, Drehbücher, Dokumentarfilme und Romane. Nach dem Spionagethriller <em>Operation Rubikon</em>, seiner preisgekrönten Bestseller-Trilogie um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron und <em>Ritchie Girl</em> legt Pflüger nun seinen sechsten Roman vor.
Stop Making Sense
Sie wollte immer ewig leben, aber nie unsterblich sein. Bis zu jener Nacht, in der sie geglaubt hatte, sie sei die Frau, um die sich die Erde drehte. Die über kochende Meere tanzte und sie zu Eis erstarren ließ. Weil ihr danach war. Die jedem Wind befehlen konnte, zum Hurrikan zu werden. Oder sich zu legen. All das war ihr wie nichts erschienen, kinderleicht.
Für die Herrin über den Atem der Welt.
Doch jetzt kam die Angst.
Sie stießen durch dichte Wolken. Es wurde dunkel, mitten im Sonnenaufgang, und sie sah Berlin. Gegen sieben waren sie in München-Riem gestartet, wo sie von den Panzerlimousinen direkt vor der Falcon Mystère abgesetzt wurden, laut Kennung Eigentum eines internationalen Logistikunternehmens, einer Tarnfirma. Zum Schutz vor einem möglichen Terrorangriff der RAF hatten Polizeifahrzeuge ihre Maschine auf beiden Seiten mit Blaulicht eskortiert, bis sie in der Luft gewesen waren. Für die drei anderen Passagiere bloß Routine, keinen Blick wert.
Nina saß hinten in einem der dicken Ledersessel, vorne der Präsident, Akten lesend. Neben ihm Julius Boehnke, Chef der Aufklärung, in die FAZ vertieft.
Sie sanken rasch. Unter Nebelfetzen ein amorpher Klumpen Häuser. Schwarze Gewässer, kackbraun hingeschmierte Parks. Schon glaubte Nina, den fauligen Braunkohlemief in der Nase zu haben, den die Stadt ausdünstete. Nichts war trostloser als Berlin im November. Und doch hatte sie sich hier frei gefühlt, ihre Träume ein Sack Flöhe.
Sie war von einer Landung in Tempelhof ausgegangen, aber statt nach Westen abzudrehen, blieben sie beständig auf Kurs, jetzt in allenfalls zweihundert Metern Höhe. Da war die Mauer, dieser offene Cut in der Fresse eines Boxers, der zigmal auf die Bretter gegangen war und doch noch stand. Ihr Pilot gewährte ihnen eine tadellose Aussicht auf den Todesstreifen. Grenzer rissen die Ferngläser hoch, Hunde zerrten an Leinen. Jetzt die Spree, die Oberbaumbrücke, der Landwehrkanal. Kreuzberg, ihr alter Kiez. Panoramablick übers Ost-Berliner Zentrum mit Gendarmenmarkt und Linden. Preußen gähnte grau.
Boehnke wandte kurz den Kopf und schaute zu Nina nach hinten. Sie sah die Schatten über seinem Gesicht, Augen wie Scheinwerfer, nach einer schlaflosen Nacht. Heute war der Tag.
Boehnke hatte nicht daran geglaubt.
Aber Nina.
»Etwas Sightseeing«, sagte Simone Weller, die links von ihr saß. »Der Präsident liebt den antifaschistischen Schutzwall, er motiviert ihn.« Das süffisant, jedoch leiser. Ihre Haare hatten die Farbe von Teakholz nach Sommern in der Sonne. Sie war ungeschminkt, abgesehen von einem Hauch Bienenwachs auf den Lippen, und dünner, als eine Frau ihres Alters sein sollte. Aber sie zählte zu den Menschen, die nicht älter werden, weil sie schon mit dreißig fünfzig gewesen waren.
Weller richtete erst zum zweiten Mal das Wort an Nina. Und die Premiere war hässlich gewesen. Sie leitete die Abteilung SI, der die Sicherheit des Dienstes oblag. Ihren wirklichen Namen kannte Nina nicht, lediglich dieses Pseudonym. So wie sie für Weller Elsa Opel war. Bei der Aufnahme in den Dienst erhielten sie alle eine neue Identität. Niemand wusste, wie der andere in Wahrheit hieß. Bis auf den Präsidenten und Boehnke natürlich. Ninas Pseudonym war vor fünfeinhalb Jahren offenkundig von einem Filmfan ausgesucht worden. Elsa Opel hatte ihr jedoch gefallen. Sie war in Marathon Man so, wie Nina damals gerne gewesen wäre: undurchsichtig und gefährlich. Sie besaß einen kompletten Satz Papiere mit diesem Alias, vom Führerschein bis zum Pass. Elsa Opel war etwas jünger, da Ende Mai auf die Welt gekommen, nicht im Februar.
Nina Winter war sie bloß noch in Gedanken.
Das Brandenburger Tor flutschte unter ihnen weg. Auf der Westseite Ramschbuden, die Mauerplattform leer, der Pariser Platz ein Aufmarschgelände. Die Falcon kippte scharf über die linke Tragfläche, ging auf Westkurs.
»Wir landen in Gatow, auf dem Flugplatz der Briten. Als ob KGB und Stasi nicht wüssten, dass wir da sind«, sagte Weller.
Sie nickte bloß. Die Frau war ein Miststück. Das hatte Nina auf die harte Tour gelernt.
Weller senkte ihre Stimme noch einmal. »Noch nie war das Geschlechterverhältnis in diesem Jet ausgeglichener als heute. Natürlich ist das ein Skandal, immerhin haben wir 1983. Haben Sie je darüber nachgedacht, wie viele Frauen beim Dienst sind, die nicht tippen, übersetzen oder Schnittchen servieren? Die können Sie an einer Hand abzählen. Und dann so jung wie Sie, so schnell. Na, wir zwei wissen ja, was es kostet.«
»Sie müssen keine Schnittchen servieren?« fragte Nina.
Weller lachte leise. »Sie gefallen mir.«
»Sonst bin ich lustiger.«
»Dass Sie nervös sind, verstehe ich, Frau Opel. Ich stelle mir vor, wie es für Sie sein wird, wenn Kukura heute diesen Strich überquert. Sicher sind Sie wahnsinnig stolz.«
»Später vielleicht. Falls alles gutgeht.«
»Sie trauen den Russen nicht?«
»So fragt jemand, der nie dort war.«
Weller zündete sich eine Lord an. »Unsere erste Begegnung verlief leider unerfreulich. Sie werden das professionell sehen, hoffe ich.« Sie rauchte wie eine, die es hasste.
Der Gestank der Rieselfelder war ihre Begrüßung. Die Berliner Knochenbrecherkälte schlug zu. Als sie in der ersten der drei Panzerlimousinen saß, war sie bereits durchgefroren. Boehnke und der BND-Präsident stiegen in die zweite; die Sherpas des Personenschutzkommandos bildeten die Nachhut. Sie fuhren durch Spandau, dann über den fast leeren Kaiserdamm. Nina bekam Kopfschmerzen; sie war die Lichtbrechung des dicken Sicherheitsglases nicht gewohnt. Neben ihr tat Simone Weller, als würde sie dösen. Doch ihr rechter Zeigefinger hatte einen nervösen Tick, tippte Morsezeichen aufs Sitzpolster.
K. U. K. U. R. A.
Das Hotel war in der Budapester, beim Tiergarten. In Ninas Zimmer hätte ihre ganze Münchner Wohnung Platz gefunden. Die anderen hatten Besprechungen beim Innensenat und mit der Berliner Polizei. Nina würde erst abends gebraucht werden. Und nur für eine einzige Sache. Sie zog die Sportklamotten an, lief zweimal die große Parkschleife, ohne sich zu verausgaben. Hinterm Sowjetischen Ehrenmal hängte ein Kilometerfresser sich an sie ran, stieg aus, pumpte. Auf den letzten fünfhundert sprintete sie, duschte im Hotel.
Nina nahm am Zoo die U-Bahn Richtung Schlesisches Tor. Im Abteil der Ausschuss der Nacht. Pennende Punker, Frauen mit Glitzerwimpern und Schmierschminke. In den Gesichtern die Leere danach. Wieder alles gewollt und nichts gekriegt.
In der Wiener war die Gärtnerei schon auf oder immer noch, ihre alte Schorletankstelle nach dem Training auf der Görlitzer Brache. Hard Rock, ein Dutzend Besetzer hingen ab. Sie waren drauf. Jedoch nicht, weil Sonntag war. Die waren immer drauf. Die blaupinkorangehaarige Bedienung tänzelte an Ninas Tisch. Sie studierte vermutlich Soziologie im neunzehnten Semester und träumte von einer Dissertation über Cindy Lauper und das amerikanische Trauma. Nina nahm das Hausfrühstück. Kaffee, Schrippe, steinhart gekochtes Ei.
Sie sah sich in dem großen, halb blinden Wandspiegel. Ihre braunen Locken waren von der Wollmütze plattgedrückt, das Gesicht mit diesem leidigen Ernst, den sie nicht loswurde. Die Wangen zu hoch, der Mund zu klein. Sie mochte ihre Augen, aber hübsch war sie nicht. Interessant vielleicht, das redete sie sich manchmal ein. An einem der Tische wurden Heldenverse deklamiert: der schwarze Block gegen eine Armee von Bullen, vorher im Cheetah guten Stoff eingeschmissen, der Ku’damm ein geiler Steinbruch.
Sie fragte sich, warum sie hergekommen war. Um Abschied zu nehmen? Von welchem Leben? Das hier war lange vorbei. Eine Zukunft hatte sie nicht in der Tasche.
»Willste noch’n...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
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ISBN-10 | 3-518-77755-6 / 3518777556 |
ISBN-13 | 978-3-518-77755-8 / 9783518777558 |
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