Unter dem Blutmond (eBook)
190 Seiten
Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-96215-436-3 (ISBN)
1. Kapitel
Ich war ein wildes und abenteuerlustiges Kind, sehr zum Missfallen meiner Eltern.
Sie hätten sich ein fügsames kleines Mädchen gewünscht, das die Erwartungen seiner Umwelt penibel erfüllte: brav, sittsam und unauffällig. Aber das war ich nicht. Schon früh in meinem Leben vermochte ich nicht einzusehen, warum mein jüngerer Bruder Tyson alle Rechte in Anspruch nehmen durfte und dafür auch noch Anerkennung erhielt, weil er ein richtiger Junge war. Ich hingegen wurde dafür getadelt, wenn ich mich laut und ungeduldig gebärdete.
Besonders für meine Mutter schien ich eine Enttäuschung gewesen zu sein. Schon seit langer Zeit war sie kränklich, hielt sich oft in ihrem Zimmer auf und nahm dort auch die Mahlzeiten ein. Ich hatte die Angewohnheit, ohne anzuklopfen in ihre Räume zu stürzen, wenn ich sie sehen wollte. Da nahm ich dann auch keine Rücksicht auf knallende Türen, was meine Mutter zusammenzucken ließ.
Meist stürmte ich auf sie zu, krabbelte auf ihren Schoss und begann zu erzählen. Dabei wurde ich immer lauter, je länger ich deklamierte. Für sie muss das jedes Mal eine Tortur gewesen sein, denn sie wurde in dieser Zeit immer geräuschempfindlicher und niemand durfte in ihrer Gegenwart laut reden oder irgendwelchen Lärm machen. Mein Gepolter hielt sie aus, ohne etwas zu sagen. Aber welche Qualen muss sie dabei gelitten haben?
Meistens strich sie mir dann nach einer Weile über die Haare und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Das war das Signal zu gehen. Da ich dann aber meistens sowieso mit meinem Redefluss am Ende war, fiel es mir leicht, sie wieder zu verlassen.
Wie ich von den Dienstboten hörte, bekam sie nach meinen Besuchen bei ihr oft schlimme Migräneanfälle und musste dann tagelang im abgedunkelten Schlafzimmer liegen und ich durfte nicht zu ihr. Aber das fand ich dann auch nicht schlimm.
Meine Nanny Frieda versuchte immer wieder, mich zu bändigen. Aber sie war damals schon eine nicht mehr ganz junge Frau und kam bei meinem kindlichen Überschwang schnell an ihre Grenzen. Wenn sie mich zu sehr erziehen wollte, schrie ich einfach ganz laut und hielt den Ton, solange ich konnte. Dann gab sie in der Regel auf. Es muss sich wirklich schaurig angehört haben. Ansonsten liebte ich Frieda innig. Sie war die Mutter für mich, die meine leibliche Mutter nicht sein wollte und nicht konnte.
Frieda stammte aus Deutschland. Nach England kam sie gemeinsam mit meiner Mutter. Eigentlich wollte sie damals nur ein paar Monate in England bleiben, dann aber wurde ein Leben daraus. Und das lag eindeutig an mir. Sie musste Geld verdienen, um sich die Rückfahrt nach Deutschland leisten zu können. Und da ich gerade geboren war und meine Eltern eine Nanny für mich suchten, erfüllte sich das Schicksal und sie blieb bei mir. „Schließlich konnte ich dich hier nicht zurücklassen, Liebchen. Ohne mich wärst du garantiert weggelaufen.”
Damit hatte sie wohl recht. Sie war meine Familie in dem alten Schloss.
Mein Vater beschäftigte sich nur mit mir, wenn er musste. Ansonsten war er auf Tyson fixiert, der sein ganzer Stolz war. Und da der sich zu einem Sohn entwickelte, den jeder Lord in der Upperclass sich nur wünschen konnte, blieb für mich nicht viel.
Aber ich liebte meinen Vater, denn er erfüllte mir fast alle Wünsche, die ich ihm vortrug. Das empörte Frieda oft, da sie ein eher strenges Regiment führte, aber schließlich konnte sie gegen ihren Arbeitgeber nicht aufbegehren. Und das wusste ich schon früh und nutzte es aus, wann immer ich es für richtig hielt. Wie frech war ich oft zu ihr, was ich heute bereue. Aber ich war ein Kind, und Kinder wissen nichts.
Vor meiner Tante Henrietta hatte ich noch am meisten Respekt. Sie war die unverheiratete Schwester meines Vaters und lebte schon seit Jahren auf Millhouse. Sie war eine respekteinflößende Matrone, jedoch sehr eigenbrötlerisch und kauzig. In der Küche behaupteten sie immer, von ihr hätte ich mein aufsässiges Wesen, denn Tante Henrietta tat grundsätzlich auch nur das, was sie für richtig hielt. Mein Vater hatte es wohl ganz schnell aufgegeben, ihr Grenzen zu setzen, denn sie war die Vertraute meiner Mutter und ließ sich von niemandem etwas sagen.
Und da sie mit den Jahren etwas schwerhörig geworden war, sprach sie laut und polternd. Ich fand das großartig, denn so war ich nicht die einzige Person, die man schon von Weitem kommen hörte oder die bei Tisch die Gespräche dominierte.
Frieda hatte Angst vor ihr, worüber ich immer lachen musste. Ich mochte Tante Henrietta, auch wenn sie mit Kindern nicht umgehen konnte. Sie hatte selbst nie welche gehabt und besaß einfach nicht den Draht zu ihnen. Trotzdem kamen wir bestens miteinander aus, indem wir uns in Ruhe ließen. Wenn ihr doch mal der Kragen platzte, dann raunzte sie Frieda an, die daraufhin ängstlich zusammenzuckte.
Tyson liebte ich abgöttisch. Aber hat nicht jedes Mädchen diese Empfindungen für ihren Bruder? Er wusste jedoch nicht viel mit mir anzufangen. Im Kopf hatte er ganz andere Dinge. Vor allem die Jagd, was meinen Vater entzückte, der selbst ein leidenschaftlicher Jäger war.
Ich finde es noch heute furchtbar, Tiere einfach so zu hetzen und sie abzuschlachten.
Bei schlechtem Wetter kam Tyson ab und zu in mein Spielzimmer und setzte sich zu mir, um mitzuspielen. Frieda war darüber immer entzückt und ließ uns dann allein.
Am meisten liebte ich es, wenn Frieda mir Geschichten aus ihrer Heimat, der Grafschaft Bodenstein in Süddeutschland, erzählte. Es gab dort viele gruselige alte Sagen und Legenden, die Frieda mit der Muttermilch eingesogen hatte und von denen ich nicht genug bekommen konnte, so furchteinflößend sie auch teilweise waren. Immer wieder nötigte ich sie, mir eine oder zwei vor dem Schlafengehen zu erzählen. Anfangs hatte sie noch befürchtet, ich könne nicht schlafen, wenn sie die grausamen Geschichten erzählte, aber sie begriff sehr schnell, dass das Gegenteil eintrat. Je mehr sie mir von Trollen, Elfen, Zwergen und Drachen erzählte, desto schneller schlief ich selig ein.
„Du bist schon ein merkwürdiges Kind”, sagte sie dann und küsste mich.
Und jedes Mal, kurz bevor ich einschlief, nötigte ich ihr das Versprechen ab, mit mir nach Bodenstein zu reisen, wenn ich alt genug sein würde.
Dann gab sie mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Aber ja. Du wirst es lieben.”
Wenn wir allein waren, sprach sie nur Deutsch mit mir. „Schließlich ist unser Prinzgemahl ja ein Deutscher, warum sollst du die Sprache nicht auch lernen? Wer weiß, vielleicht begegnest du ihm einmal und dann könnt ihr euch auf Deutsch unterhalten. Das wäre doch ein Spaß, oder?”
Ich nickte dann heftig, obwohl mir Prinz Albert erst später ein Begriff wurde.
„Und unsere Königin ist schließlich auch deutscher Abstammung. Aber ob sie Deutsch spricht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber Albert bringt es ihr vielleicht bei.”
„So wie du mir.” Dann nickte sie.
Schon früh in meinem Leben streifte ich am liebsten durch die Natur. Millhouse war von einer hohen Mauer umgeben, sodass niemand Angst haben musste, ich würde abhandenkommen. Also ließ mir Frieda meinen Willen.
Es gab in dem großen Park immer Neues zu entdecken, und wenn ich zurückkam, hatte ich Frieda viel zu erzählen, was sie sich geduldig anhörte.
Als ich sechs Jahre alt war, entdeckte ich im hintersten Teil der Mauer einen kleinen Durchgang.
Als ich davorstand, sah ich gleich, dass durch diese Pforte schon sehr lange kein Mensch mehr gegangen war. Die Tür hing schief in den Scharnieren und ließ sich kaum bewegen. Aber so klein wie ich war, passte ich hindurch.
Jetzt stand ich in einem anderen Park, der sehr verwildert wirkte. Das Gras stand hoch und war durchdrungen mit Unkraut, das fast noch höher als das Gras wucherte.
Wo ich mich befand, wusste ich. Nur dort war ich noch nie.
Es war der Park von Behringhouse, dem Herrenhaus, das an Millhouse angrenzte.
Seit vielen Jahren wohnte dort niemand mehr. Die letzten Bewohner von Behringhouse hatten keine Kinder, und als sie kurz hintereinander starben, verwaiste das Anwesen.
Wenn ich etwas darüber aufschnappte, war ich immer ganz aufgeregt. Ein leerstehendes Herrenhaus, das verfiel. Etwas Spannenderes konnte ich mir nicht vorstellen. Und jetzt hatte ich plötzlich die Gelegenheit, dorthin zu gelangen. Es durfte nur niemand merken, sonst konnte ich meine Erkundungsgänge dorthin gleich wieder vergessen.
Ich kämpfte mich langsam durch das Gras und dachte dabei an die Geschichten von Frieda. Ganz ähnliche Dramen spielten sich bestimmt in Behringhouse ab, besonders, da jetzt keine Menschen dort wohnten, welche die Fabelwesen gestört hätten.
Als ich schon fast umkehren wollte, weil es mir zu anstrengend wurde, das hohe Gras niederzutreten, erblickte ich Behringhouse. Ich war fasziniert.
Millhouse war ein typisches elisabethanisches Schloss. Wahrscheinlich hatten es schon die Normannen angelegt, das wusste man nicht mehr so genau. Ich war mir nicht sicher, ob ich es mochte oder nicht. Es war so verwinkelt, dass man sich dort schnell verlief, auch wenn man dort aufgewachsen war. Weite Teile wurden nicht bewohnt. Und es war in den alten Mauern immer kalt. Die Kamine mussten ständig brennen, selbst im Sommer. Und im Dämmerlicht oder der Dunkelheit konnte man sich nur noch ängstigen. Furchteinflößende Schatten huschten über die Wände, und man konnte die Geister flüstern hören. Frieda ängstigte sich in manchen Nächten zu Tode und meinte, das sei wie auf Burg Bodenstein, auf der sie als junges Mädchen in Stellung gewesen...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Historischer Roman • Viktorianischer Roman • YA • Young Adult |
ISBN-10 | 3-96215-436-1 / 3962154361 |
ISBN-13 | 978-3-96215-436-3 / 9783962154363 |
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