Das Mädchen mit dem blauen Stern (eBook)
384 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3296-0 (ISBN)
Eine bewegende Geschichte über die Macht der Freundschaft.
Krakau, 1942: Als die Nazis im jüdischen Ghetto eine Razzia durchführen, bleibt Sadie und ihrer Familie nur die Flucht in die Kanalisation. In der Finsternis unterhalb der Stadt sehnt sich Sadie nach Licht und den glücklichen Tagen ihrer Kindheit. Auf einem ihrer Streifzüge in den Tunneln schaut sie durch ein Gitter hinauf nach draußen und entdeckt ein Mädchen, das auf dem Markt Blumen kauft. Eine Freundschaft scheint nahezu unmöglich, doch allen Gefahren zum Trotz beschließt die 18-jährige Ella, Sadie zu helfen ...
Inspiriert von wahren Begebenheiten - der neue Roman der New-York-Times-Bestsellerautorin.
Pam Jenoff hat jahrelang in Krakau als Vizekonsul der amerikanischen Botschaft gelebt. Als Expertin für den Holocaust in Polen war sie im Pentagon tätig und wurde für ihre Arbeit von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ausgezeichnet. Ihre Romane sind internationale Bestseller. Heute arbeitet sie als Anwältin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Philadelphia. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Romane »Töchter der Lüfte« und »Die Frauen von Paris« vor. Gabriele Weber-Jari? lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah, Imogen Kealey und Allison Pataki ins Deutsche.
Kapitel 1
Sadie
Krakau, März 1942
Nach dem Tag, an dem sie die Kinder holen wollten, wurde vieles anders.
Wir wohnten im Ghetto, in einem dreistöckigen Haus, das wir uns mit einem Dutzend Familien teilen mussten. Dort verbarg ich mich tagsüber im Kriechraum des Dachbodens. Bevor meine Mutter sich morgens auf den Weg in die Schuhfabrik machte, begleitete sie mich nach oben, überreichte mir einen sauberen Eimer als Toilette und ermahnte mich mit strengen Worten, mich bis zum Abend nicht von der Stelle zu rühren.
Doch in der noch immer winterlichen Kälte meines Verstecks, in dem ich weder herumlaufen noch mich überhaupt großartig bewegen oder gar stehen konnte, fror ich nicht nur, ich wurde auch rastlos. Jede Minute schien sich endlos zu dehnen, und die Stille wurde nur hin und wieder von kleinen Geräuschen unterbrochen. Sie kamen von den Kindern, die jünger als ich waren und sich auf den Kriechböden der Nachbarhäuser verbargen. Auch sie konnten weder herumlaufen noch sich beschäftigen. Zum Ausgleich verständigten sie sich bisweilen durch Klopfen und Kratzen, hatten ihre eigenen Morsezeichen entwickelt. Wenn mir allzu langweilig wurde, machte ich mit.
»Die Freiheit ist da, wo man sie findet«, sagte mein Vater gern, wenn ich mich über mein eingeschränktes Leben beklagte. Er neigte dazu, die Welt so zu sehen, wie er sie sich wünschte. »Das größte Gefängnis steckt in unseren Köpfen.« Er hatte gut reden. Zwar verrichtete er im Ghetto körperliche Arbeit, die weit von der des Steuerberaters entfernt war, der er vor dem Krieg gewesen war, aber er kam wenigstens vor die Tür und begegnete anderen Menschen. Niemand pferchte ihn auf einem Kriechboden ein. Ich hingegen hatte das Haus kaum einmal verlassen dürfen, seit wir vor einem halben Jahr hierherziehen mussten.
Zuvor hatten wir nahe dem Stadtzentrum im jüdischen Viertel Kazimierz gewohnt, nun waren wir südlich des Weichselufers im Ghetto von Podgórze gelandet. Ich wollte ein normales Leben führen, ein eigenes Leben, wollte aus dem Ghetto hinaus zu den Orten laufen, die ich kannte. Manchmal malte ich mir eine Straßenbahnfahrt zum Rynek aus, bummelte im Geist an den Geschäften entlang, ging ins Kino, streifte über die grünen Hänge am Stadtrand.
Wenn wenigstens Stefania, meine beste Freundin, bei mir oder den Kindern oben im Nachbarhaus gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mich dann nicht so allein gefühlt. Doch Stefania wohnte auf der anderen Seite des Ghettos in dem Bereich, der für Familien der jüdischen Polizei vorgesehen war.
Diesmal war es jedoch weder die Langeweile noch die Einsamkeit oder die Kälte, die mich aus meinem Versteck trieb. Ich war einfach hungrig. Ich hatte zum Frühstück an diesem Morgen nur eine halbe Scheibe Brot bekommen, noch weniger als bisher. Meine Mutter hatte mir ihre halbe Scheibe angeboten, die ich aber nicht angenommen hatte. Sie brauchte Kraft für den langen Tag in der Fabrik.
Irgendwann im Laufe des Vormittags begann mein leerer Magen zu schmerzen. Ich musste an die Gerichte denken, die es vor dem Krieg bei uns gegeben hatte, schmeckte eine sämige Pilzsuppe, einen herzhaften Borschtsch, die wunderbaren Piroggen, die meine Großmutter gemacht hatte. Zu guter Letzt fühlte ich mich vor Hunger so geschwächt, dass ich mein Versteck verließ und hinunter ins Erdgeschoss stieg, zu der Gemeinschaftsküche, die aus nicht mehr als einer Kochplatte bestand, und einem Spülbecken aus dessen Hahn lauwarmes, bräunliches Wasser tropfte.
Ich suchte nicht nach Brot – selbst wenn welches da gewesen wäre, ich hätte es niemals gestohlen. Ich wollte nur nachsehen, ob irgendwo Krümel lagen, und gegen den Hunger ein Glas Wasser trinken.
An einem Brotmesser hafteten ein paar Krümel, die ich ableckte. Danach trank ich mein Glas Wasser.
Und dann fing ich an, das abgegriffene Exemplar von Der Graf von Monte Christo zu lesen, und blieb länger unten, als ich vorgehabt hatte. Das Schlimmste an meinem Versteck auf dem Kriechboden war nämlich, dass es dort zu dunkel zum Lesen war. Ich war eine Leseratte, und mein Vater hatte so viele Bücher wie möglich aus unserer alten Wohnung mitgeschleppt, obwohl meine Mutter dagegen gewesen war und gesagt hatte, wir bräuchten den Platz in unseren Koffern für Kleidung und Nahrungsmittel.
Mein Vater war auch derjenige gewesen, der mir gezeigt hatte, dass Lernen etwas Schönes ist, und der mich ermutigt hatte, von einem Medizinstudium an der Jagiellonen-Universität in Krakau zu träumen. Inzwischen hatten die Deutschen mit ihren Rassengesetzen ein solches Studium für Juden unmöglich gemacht. Und dann hatten sie die Universität ganz geschlossen.
Stattdessen konzentrierte mein Vater sich nun auf meine Allgemeinbildung oder ging, trotz seines langen, harten Arbeitstags, abends mit mir naturwissenschaftliche Problemstellungen durch.
Vor ein paar Tagen hatte er irgendwo Der Graf von Monte Christo für mich aufgetrieben, und ich hatte mich darauf gestürzt. Dummerweise konnte ich auch abends, wenn ich nicht mehr in meinem Versteck war, nicht lange lesen, denn mit Beginn der Sperrstunde mussten wir das Licht löschen.
Nur noch ein bisschen, sagte ich mir nun und blätterte die Seite um. Welche Rolle spielten schon ein paar Minuten?
Mit einem Mal hörte ich draußen Reifen quietschen. Wagentüren schlugen zu, Befehle wurden gebrüllt. Ich erstarrte. Als ich einen Blick aus dem Fenster wagte, sah ich, wer gekommen war – SS, Gestapo und Angehörige der jüdischen Polizei, die stets das taten, was die Deutschen von ihnen verlangten. Offenbar planten sie eine Razzia, um den nächsten Schub Juden festzunehmen und in eines der Lager zu deportieren.
Ich rannte aus der Küche über den Flur und die Treppe hinauf. Unten wurde die Eingangstür aufgebrochen und die Deutschen stürmten ins Haus. Dass ich es noch rechtzeitig zum Kriechboden schaffte, war ausgeschlossen.
Stattdessen hetzte ich in unsere Wohnung im dritten Stock. Panisch und mit hämmerndem Herzen blickte ich mich um und wünschte, wir hätten einen Schrank oder eine Anrichte, in denen ich mich verbergen konnte. Doch in dem winzigen Raum standen nur eine Kommode und zwei Betten.
Allerdings gab es noch andere Verstecke, etwa hinter der Gipswand, die eine Familie vor einer Woche im Nachbarhaus eingesetzt hatte. Nur würde es mir nicht mehr gelingen, dort noch unbemerkt hinzugelangen.
Mein Blick fiel auf den Überseekoffer am Fußende meines Betts. Kurz nachdem wir hier eingezogen waren, hatte meine Mutter mich auf ihn als Versteck hingewiesen, und wir hatten ausprobiert, ob ich hineinpasste. Was ich mit Ach und Krach tat.
Dennoch war der Koffer viel zu auffallend, um ein gutes Versteck abzugeben. Doch etwas Besseres hatte ich nicht. Und so krabbelte ich hinein und zog den Deckel zu. Dabei dankte ich dem Himmel, dass ich ebenso klein und zierlich wie meine Mutter geraten war. Normalerweise hasste ich meine Körpergröße, die mich zwei Jahre jünger aussehen ließ, aber in diesem Augenblick war sie ein Segen. Darüber hinaus war ich aufgrund der Mangelernährung im Ghetto noch dünner geworden.
Allerdings hatten wir uns, als wir den Koffer als Versteck getestet hatten, vorgestellt, dass meine Mutter, sobald ich darin wäre, eine Decke oder Kleidungsstücke darüberlegen würde. Damit konnte ich nun nicht dienen. Ich konnte mich lediglich einrollen und die Arme um mich schlingen, woraufhin mein Blick genau auf die weiße Armbinde mit dem blauen Stern fiel, die alle Juden tragen mussten.
Aus dem Nachbargebäude war ein lautes Krachen zu hören. Es klang, als wäre die Gipswand mit einem Hammer oder einer Axt eingeschlagen worden. Demnach hatten die Polizisten das Versteck gefunden, vielleicht hatte die frische Farbe es ihnen verraten. Geschrei ertönte, also hatten sie auch ein Kind entdeckt. Hätte ich mich dorthin geflüchtet, wäre es mir nicht anders ergangen.
Schritte näherten sich unserer Wohnung. Die Tür flog auf, und mein Herz verkrampfte sich. Ich hörte jemanden atmen, spürte den Blick, der durch das Zimmer wanderte. Tut mir leid, Mama. Ich wartete darauf, dass der Koffer geöffnet wurde, und wappnete mich. Dann überlegte ich, ob man nachsichtiger wäre, wenn ich...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | Gabriele Weber-Jarić |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Woman With The Blue Star |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Die Frauen von Paris • Erlösung • Flucht • Freundschaft über Grenzen hinweg • Holocaust • Judenverfolgung • Jüdisches Kind • Kanalisation • Krakauer Ghetto • Kristin Hannah • Menschlichkeit • New York Times Bestseller • Rettung • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8412-3296-5 / 3841232965 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3296-0 / 9783841232960 |
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