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»Die Welt möge Zeuge sein« (eBook)

Erzählungen

(Autor)

Sabine Koller (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
350 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-77627-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Die Welt möge Zeuge sein« -  Dovid Bergelson
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Dovid Bergelson, 1882 in Ochrimowo in der heutigen Ukraine geboren, prägte über vier Jahrzehnte die moderne jiddische Literatur. Ob in Kiew, Berlin, New York oder Moskau - Bergelsons literarische Stimme wurde gehört. Er gilt als Erneuerer der jiddischen Prosa zwischen Moderne und Sozialistischem Realismus, bis mit dem Zweiten Weltkrieg und der versuchten Judenvernichtung Bergelsons Schreiben schließlich eine neue, existenzielle Dimension erreichte. Am 12. August 1952 wurde Dovid Bergelson in der sogenannten »Nacht der ermordeten Dichter« in Moskau hingerichtet.

Der vorliegende Band versammelt erstmalig ausgewählte Prosa sowie einen Dramenausschnitt aus Dovid Bergelsons umfänglichem Schaffen. Ergänzt sind die Texte um einen Anmerkungsapparat, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort zum Leben und Werk Dovid Bergelsons.



Dovid Bergelson, geboren 1884 in Ochrimowo, gehörte zu den führenden Vertretern der jiddischen Literatur während der Zeit der jüdischen Kulturrenaissance im östlichen Europa. Nach ersten Erfolgen als Prosaautor lässt er sich angesichts des Bürgerkrieges 1921 in Berlin nieder. 1934 kehrt er in die Sowjetunion zurück, um sich dort unter den Vorzeichen des Sozialismus literarisch neu zu erfinden. Dovid Bergelson wird im Januar 1949, unter Stalins totalitärer Hand, verhaftet und nach einem Geheimprozess gemeinsam mit zwölf weiteren ehemaligen Mitgliedern des Jüdischen Antifaschistischen Komitees am 12. August, an seinem 68. Geburtstag, hingerichtet.

Der Taube


1


Anfang Herbst spielte sich wieder etwas ab zwischen Mendel, dem großen, schönen Sohn Vove Biks, und Esther, der zweiundzwanzigjährigen Tochter des Tauben, die bei Bik Köchin war. Man redete darüber in der Stadt bei den Marktbuden und bei Vove Bik in der großen Getreidemühle, wo der Taube überall seine angestrengten verstopften Ohren hinhielt und jeden misstrauisch ansah, der in seiner Umgebung lächelte, und trotzdem gelang es ihm lange Zeit nicht, ein Wort aufzufangen.

Mendel schwatzte auch weiter fröhlich mit den jungen Getreidehändlern, die Weizen in die Mühle brachten, und stippte sie mit dem Ellenbogen leicht in die Seite:

– Hör mal, weißt du, was Max Nordau1 sagt?

Damit meinte er wie immer:

Weißt du, wie viele Kopeken in einem Rubel sind?

Man merkte ihm überhaupt nichts an.

Kürzlich kam er in neuen glänzenden Stiefeln aus der Kreisstadt zurück, und wenn er im Mühlhof umherging, spiegelte er sich in ihnen. Immer wieder hielt er den jungen Müller Schulz an und zwinkerte ihm zu:

– Nun, wie gefallen dir meine Stiefel?

Und Schulz, ein ernster Deutscher, wurde es nicht leid, jedes Mal in die Knie zu gehen, um die neuen Stiefel an Mendels Füßen zu streicheln.

Große Lust erregten die glänzenden Stiefel in Schulz und eiserne Besitzgier wuchs in ihm von Tag zu Tag.

Einmal machte er sich sogar die Mühe, Mendel auf der Stelle einen der Stiefel abzuziehen und ihn selbst anzuprobieren.

Das alles sah der Taube durch das Fenster im obersten Stockwerk der Mühle, wo er damals den Lastenaufzug bediente, er beobachtete heimlich und sah sich ständig um, ob nicht ein Mitarbeiter ihn bemerkte.

Esther brachte Mendel jeden Tag Essen aus der Stadt. Danach begleiteten Schulz und Mendel sie mit den Augen aus dem Mühlhof; Mendel schwieg und lächelte verklärt, und Schulz, der Müller, zeigte mit dem Finger auf Esthers Rücken und kitzelte Mendel gar an einer obszönen Stelle. Und sahen es Mühlarbeiter von irgendwo, so hingen sie schon bald alle in den Fenstern der Mühle:

– Lass mich, lass mich auch …

Ihn, den ungeschlachten Tauben, mit dem erschrockenen, angestrengten Gesicht, peinigte das enorm und es drängte ihn sehr, zu erfahren, weshalb die Arbeiter lachten. Er war aber furchtbar taub und schämte sich vor allen Menschen und vor sich selbst, konnte niemandem in die Augen sehen, und dachte ständig an das gemeinsame schwere Vergehen von Mendel und Schulz an einem schwangeren Bauernmädchen aus dem nahen Dorf Rybnize2.

Sie hatten doch damals das Bauernmädchen wirklich für eine Weile weggeschickt.

Danach kam einmal in einer stillen Ecke Jossele Babzis auf ihn zu, der dürre gebeugte Aufseher der Mühle, und schrie lange in sein taubes Ohr. Er hörte nur jedes zehnte Wort, und doch nickte er Jossele immerfort zu.

– Ja, ja, er höre.

So verschämt war er, der Taube, in seinem Wesen schon geworden, dass er den Menschen zunickte und ihnen versicherte:

– Ja, was denn, er höre nicht?

Zwei Wochen lang behielt er Josseles Wortfetzen in seinem tauben Kopf und erst dann begann er, die ganze Geschichte zu begreifen:

Eine Geschichte von zwei entlassenen Mühlarbeitern, die Mendel verprügeln wollten und an dunklen Abenden um Biks Haus herumschlichen. Und da hatten die beiden Arbeiter also etwas gesehen … Er wusste noch immer nicht, was die Arbeiter gesehen hatten, also hielt er Jossele vor der Mühle an und winkte ihn heran:

– Was bedeutet sie eigentlich, diese Geschichte von Mendel und Esther?

Das Herz klopfte damals so heftig in seiner breiten Brust und er atmete langsam und schwer. Er schämte sich vor Jossele.

– Sie hat ihn lieb, schrie Jossele in sein taubes Ohr, sie, Esther, hat ihn, Biks Sohn, lieb.

– Sie hat ihn lieb? fragte er bei Jossele leise nach.

Er glaubte, der dürre, gebeugte Jossele mache Spaß, er öffnete den Mund und lachte:

– He, he, he …

Aber man vernahm keine Stimme, nur ein seltsam wildes Brummen entkam seinem aufgerissenen Mund. Seine bleifarbenen Augen blickten spöttisch und absonderlich. Erst als er merkte, dass Jossele im Ernst gesprochen hatte, begann er auf seine taube, zerrissene Art zu reden, indem er mit rund gebogenem Arm eine vage Bewegung machte und gewaltsam einzelne Wörter aus seiner breiten, kräftigen Brust hervorstieß:

– Da solle sie sich zuerst bei ihm, dem Tauben, erkundigen … Er kenne sie doch in- und auswendig, den Bik und seinen Sohn … Ein Spielchen? Seit zwanzig Jahren arbeite er schon bei ihnen in der Mühle.

– Und Jossele solle selbst sagen, er wisse doch, ja?

Jossele nickte mit seinem boshaften Kopf:

– Er wisse. Warum sollte er nicht wissen?

Und er, der Taube, wollte unbedingt wissen, was gesunde Menschen, jene, die nicht taub waren, dazu sagten. Er ging von der Mühle weg und redete unterwegs zu sich mit den Händen.

– Nun, wenn zu beiden Seiten seines großen Kopfes nicht wie zwei Fetzen diese großen tauben Ohren hingen, könnte er hier und dort ein Wort aufschnappen.

Er hatte vor, einmal zu ihr zu gehen, sie in Biks Küche aufzusuchen, um ihr dort ein notwendiges Wort zu sagen. Doch gerade in jener Zeit stieß ihm das böse Unglück zu. Es war ihm wohl, scheint es, gerade so bestimmt.

2


Lang verweilten damals die kurzen, tränenreichen Cheschvan3-Tage.

Närrisch verdüsterte Himmel zogen Fratzen, sahen auf die nasse, schwarze Erde hinunter und weinten, als betrauerten sie einen Sterbenden:

– Oh weh, … was ist aus dir geworden? …

Und dort, im einsamen Tal, außerhalb der Stadt, in Biks Mühle brannten nun schon den ganzen Tag lang die elektrischen Lampen, leuchteten Tag und Nacht in die Tiefe des grauen Nebels und blinzelten wie ermattete, gelbe Augen hinüber zur nahen, schon dem Cheschvan verfallenen Stadt.

– Wir mahlen Mehl … Wir mahlen Mehl …

Die vierstöckige Mühle war in feuchten Nebel gehüllt. Ruhig und wie verklärt brummte sie ihr uraltes, monotones Gebrumm und bebte im Einklang mit ihren vierzig menschlichen Arbeitern. Im Lärm und Tumult arbeiteten Menschen mechanisch und ernst schweigend wie die Maschinen und Räder, die sich um sie herum drehten, ohne zu sprechen und zu denken, als stünden in ihren Hirnen die großen, mit Weizen angefüllten Mühlschuppen und brachten sie um den Verstand.

– Die Schuppen sind so vollgepackt mit Weizen … Haben sie eine Wahl? Man muss mahlen.

Doch von Zeit zu Zeit erzitterte plötzlich der Mühlenlärm und eine traurige himmlische Stimme durchschnitt ihn:

– Halt! … Halt! …

Aber niemand reagierte darauf und es schien, als käme die verlorene himmlische Stimme von weit her und hatte sich nur hierher verirrt, in eine fremde unbekannte Welt, suchte jemanden und konnte ihn nicht finden.

Barfuß und mit gleichgültigem, staubigem Gesicht saß der Taube im voll beladenen Lastenaufzug und ließ sich vom dritten Stock herab. Jemand bemerkte im Vorbeilaufen etwas am Lastenaufzug und erhob ein furchtbares, wildes Geschrei:

– Abstellen! Abstellen!

Im Herz des Tauben brach etwa los, schoss rasend schnell in sein Gehirn und blitzte auf im Schreckensgedanken:

– Das...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Judentum • Jüdisches Leben • Moderne Jiddische Literatur • »Nacht der ermordeten Dichter« • Neuerscheinungen • neues Buch • Sozialistischer Realismus • Ukraine
ISBN-10 3-633-77627-3 / 3633776273
ISBN-13 978-3-633-77627-6 / 9783633776276
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