Zeit der Schuld (eBook)
688 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-27590-7 (ISBN)
Als sein Dienstherr stirbt, findet Ajay Arbeit in einem Café - und dort macht er eine schicksalsweisende Bekanntschaft: Sunny Wadia, Abkömmling des einflussreichen Wadia-Clans, verbringt dort mit seinen Freunden das Wochenende.
Ajay wird Sunnys rechte Hand und nicht nur in die politischen Machenschaften der Wadias, sondern auch in die verbotene Liebesbeziehung zwischen Sunny und der Journalistin Neda hineingezogen. Er würde für Sunny alles tun - ohne zu ahnen, dass sein größter Loyalitätsbeweis Sunny, Neda und ihn selbst in eine Spirale der Gewalt verstricken wird ...
Deepti Kapoor, geboren 1980 in Moradabad, Uttar Pradesh, studierte Journalismus in Neu Delhi und arbeitete zehn Jahre lang als Journalistin. 2014 erschien ihr Romandebüt A BAD CHARACTER über weibliches Begehren in einer restriktiven, konservativen, zutiefst frauenfeindlichen Gesellschaft. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Goa lebt Kapoor nun in Portugal. ZEIT DER SCHULD ist das erste Buch der Autorin, das auf Deutsch erscheint.
NEU-DELHI, 2004
Fünf Obdachlose liegen tot am Rande von Delhis Inner Ring Road.
Das klingt wie der Anfang eines schlechten Witzes.
Wenn es einer ist, hat ihnen das niemand gesagt.
Sie starben, wo sie schliefen.
Fast.
Zehn Meter hat sie der Mercedes noch mitgeschleift, nachdem er mit Vollgas über den Bordstein gesprungen war.
Es ist Februar. Drei Uhr morgens. Sechs Grad.
Fünfzehn Millionen Seelen kuscheln sich in ihre Betten.
Ein blasser Schwefeldunst hängt in den Straßen.
Und eine der Toten, Ragini, war achtzehn Jahre alt. Sie war im fünften Monat schwanger. Ihr Mann Rajesh, dreiundzwanzig, schlief neben ihr. Beide mit dem Bauch nach oben, dicke Tücher um Kopf und Füße gewickelt, sodass sie ohnehin wie Leichen aussahen, abgesehen von dem Rucksack unter ihrem Nacken, den ordentlich neben den Armen aufgereihten Sandalen.
Eine grausame Laune des Schicksals: Das Paar kam erst gestern in Delhi an. Fand Zuflucht bei Krishna, Iyaad und Chotu, drei Wanderarbeitern aus demselben Distrikt von Uttar Pradesh. Jeden Tag standen diese Männer vor dem Morgengrauen auf und marschierten zur Arbeits-mandi beim Company Bagh, um den Tagelohn zu ergattern, der gerade aufzutreiben war – als dhaba-Koch, Hochzeitskellner, Bauarbeiter –, um Geld in ihr Dorf zu schicken, für die shaadi einer Schwester, die Schulgebühr eines Bruders, das Medikament eines Vaters. Lebten von einem Tag auf den anderen, einer Stunde auf die andere, arm trotz Arbeit, ums Überleben kämpfend. Kehrten nach Einbruch der Dunkelheit zum Schlafen an diese unwirtliche Stelle zurück, neben der Ring Road, unweit der Nigambodh Ghat. Unweit des abgerissenen Slums vom Yamuna Pushta, in dem sie gewohnt hatten.
Aber die Zeitungen halten sich mit diesen drei Männern nicht weiter auf. Ihre Namen verblassen im Morgengrauen wie die Sterne.
Ein Mannschaftswagen mit vier Polizisten trifft an der Unfallstelle ein. Sie steigen aus und sehen die Leichen und die heulende, wütende Menge, die jetzt das Auto umringt. Es sitzt noch jemand drin! Ein junger Mann, kerzengerade, die Arme auf das Lenkrad gestützt, die Augen fest geschlossen. Ist er tot? Ist er so gestorben? Die Polizisten schieben das Gesindel beiseite und spähen hinein. »Schläft der?«, sagt einer von ihnen zu seinen Kollegen. Diese Worte veranlassen den Fahrer dazu, den Kopf zu drehen und, wie ein Ungeheuer, die Augen zu öffnen. Der Polizist macht vor Schreck beinahe einen Satz. Das glatte, ebenmäßige Gesicht des Fahrers hat etwas Groteskes an sich. Sein Blick ist herausfordernd und wild, aber abgesehen davon ist alles an ihm akkurat. Die Polizisten ziehen die Tür auf, fuchteln drohend mit ihren lathis, befehlen ihm auszusteigen. Zu seinen Füßen liegt eine leere Flasche Black Label. Er ist ein schlanker Mann, durchtrainiert, in einem Safarianzug aus grauer Gabardine, messerscharf gescheiteltes und tadellos eingeöltes Haar. Unter den Whiskygestank mischt sich ein anderer Geruch: Davidoff Cool Water, nicht, dass diese Polizisten es erkennen würden.
Was sie erkennen, ist Folgendes: Er ist kein reicher Mann, beileibe kein reicher Mann, eher ein Faksimile, er erinnert nur an Wohlstand, dient ihm. Der Anzug, das gepflegte Gesicht, das Auto, all das kann die essenzielle Armut seiner Herkunft nicht verbergen; ihr Geruch ist stärker als jeder Schnaps, jedes Parfüm.
Ja, er ist ein Dienstbote, ein Chauffeur, ein Fahrer, ein »Boy«.
Eine wohlgenährte und stubenreine Version dessen, was da tot auf der Straße liegt.
Und der Mercedes gehört ihm nicht.
Man kann also mit ihm machen, was man will.
Er schluchzt selbstvergessen, als die Polizisten ihn herauszerren. Zusammengekrümmt übergibt er sich auf seine Lederslipper. Einer schlägt ihn mit seiner lathi, zieht ihn hoch. Ein anderer durchsucht ihn, findet seine Brieftasche, findet ein leeres Schulterholster, findet eine Streichholzschachtel aus einem Hotel namens Palace Grande, findet eine Geldklammer mit zwanzigtausend Rupien.
Wem gehört das Auto?
Woher hast du das Geld?
Wem hast du es geklaut?
Wolltest mal eine Spritztour machen, was?
Wem gehört der Schnaps?
Chutiya, wo ist die Waffe?
Wichser, für wen arbeitest du?
In seiner Brieftasche befinden sich ein Wählerausweis, ein Führerschein, dreihundert Rupien. Laut Ausweis heißt er Ajay. Der Name seines Vaters lautet Hari. Er wurde am 1. Januar 1982 geboren.
Und der Mercedes? Er ist auf einen Gautam Rathore zugelassen.
Die Polizisten beratschlagen: Der Name kommt ihnen bekannt vor. Und die Adresse – Aurangzeb Road – spricht für sich. Nur die Reichen und Mächtigen wohnen dort.
»Chutiya«, blafft ein Beamter und hält den Fahrzeugschein hoch. »Ist das dein Chef?«
Aber dieser junge Mann namens Ajay ist zu betrunken zum Sprechen.
»Arschloch, hast du ihm das Auto geklaut?«
Einer der Polizisten tritt zur Seite und betrachtet die Toten. Die Augen der jungen Frau sind offen, die Haut in der Kälte bereits blau geworden. Sie blutet aus dem Bereich zwischen ihren Beinen, wo Leben war.
Auf der Wache wird Ajay nackt ausgezogen und in einen kalten und fensterlosen Raum gesperrt. Er ist so betrunken, dass er das Bewusstsein verliert. Die Polizisten kehren zurück, um Eiswasser über ihm auszugießen, und er wacht mit einem Schrei auf. Er wird aufgesetzt, und sie drücken seine Schultern an die Wand, ziehen seine Beine auseinander. Eine Beamtin stellt sich auf seine Oberschenkel, bis sie nicht mehr durchblutet werden, und er brüllt vor Schmerz und wird erneut ohnmächtig.
Am nächsten Tag nimmt der Fall Fahrt auf. Die Medien sind empört. Anfangs wegen der Schwangeren. Nachrichtensender betrauern sie. Allerdings war sie weder fotogen, noch gab sie Anlass zu großen Erwartungen. Also richtet sich das Interesse auf den Mörder. Eine Quelle bestätigt, dass der Wagen ein auf Gautam Rathore zugelassener Mercedes ist, und das ist eine Schlagzeile – er gehört zum festen Inventar der Gesellschaft von Delhi, ein Polospieler, ein Anekdotenlieferant und ein Fürst, echter Adel, der erste und einzige Sohn eines Parlamentsabgeordneten, Maharaja Prasad Singh Rathore. Saß Gautam Rathore am Steuer? Das ist die Frage, die jeder sich stellt. Aber nein, nein, sein Alibi ist wasserdicht. Am vergangenen Abend war er im Urlaub, gar nicht in Delhi. Er war in einem Fort Palace Hotel bei Jaipur. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Aber er hat eine Erklärung abgegeben, sein Entsetzen geäußert und den Verstorbenen und ihren Angehörigen sein Beileid ausgesprochen. Der Fahrer, heißt es darin, arbeite erst seit Kurzem für ihn. Offenbar habe er sich den Mercedes ohne Gautams Wissen genommen. Habe sich Whisky und den Mercedes genommen und unerlaubterweise eine Runde gedreht.
Eine Verlautbarung der Polizei bestätigt das: Ajay, Angestellter Gautam Rathores, stahl eine Flasche Whisky aus Rathores Haus, während sein Arbeitgeber verreist war, fuhr mit dem Mercedes los, verlor die Kontrolle.
Diese Geschichte wird zur Tatsache.
Sie nistet sich in den Zeitungen ein.
Und der Polizeibericht kommt zu den Akten.
Ajay, Sohn Haris, wird gemäß Abschnitt 304A des indischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Fahrlässige Tötung. Höchststrafe: zwei Jahre.
Er wird in das überfüllte Gericht gebracht und dem Bezirksrichter vorgeführt, der Richter braucht zwei Minuten, um eine Kaution zu verweigern und Untersuchungshaft anzuordnen. Er wird mit den anderen Häftlingen in einem Bus ins Tihar-Gefängnis gefahren. Sie müssen zur Abfertigung eine Schlange bilden; in mürrischen Reihen sitzen sie auf Holzbänken im Aufnahmeraum, umgeben von in den feuchten, löchrigen Putz der Wände genagelten Plakaten mit Vorschriften. Als Ajay dran ist, wird er in ein vollgestelltes Büro gebracht, wo ein Verwaltungsbeamter und ein Gefängnisarzt mit ihrer Schreibmaschine und ihrem Stethoskop warten. Seine Habseligkeiten werden ein weiteres Mal ausgebreitet: Brieftasche, Geldklammer mit zwanzigtausend Rupien, die Streichholzschachtel mit dem Aufdruck Palace Grande, das leere Schulterholster. Das Geld wird gezählt.
Der Verwaltungsbeamte nimmt seinen Bleistift und beginnt, das Formular auszufüllen.
»Name?«
Der Häftling starrt ihn an.
»Name?«
»Ajay«, sagt er kaum hörbar.
»Name des...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Übersetzer | Astrid Finke |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Age of Vice |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Der Pate • Die Sopranos • eBooks • Erlösung • Familie • Gangster • Geld • Gier • Indien • Intrige • Loyalität • Macht • Mafia • Neuerscheinung • Roman • Romane • Saga • Schuld • Verbotene Liebe • Verrat |
ISBN-10 | 3-641-27590-3 / 3641275903 |
ISBN-13 | 978-3-641-27590-7 / 9783641275907 |
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