Geschichte eines Kindes (eBook)
224 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77232-4 (ISBN)
In einer US-amerikanischen Kleinstadt wird 1953 ein Junge geboren und noch in derselben Nacht von seiner ledigen Mutter zur Adoption freigegeben. Der Skandal: Das Baby scheint nicht »weiß« zu sein. Als die junge Frau sich weigert, die Identität des Vaters preiszugeben, beginnt eine Sozialarbeiterin mit akribischen Nachforschungen, um die wahre ethnische Herkunft des Kindes zu ermitteln.
Klug und berührend erzählt der Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht, wie wir aufeinander schauen und was wir glauben, im anderen zu sehen, und wie die fatale Idee von »Rasse« bis heute nicht nur die Gesellschaft prägt, sondern auch tief in private Lebenswege eingreift.
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schließlich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane <em>Anatomie einer Nacht</em> (2012) und <em>Die große Heimkehr</em> (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.
Im Jänner 2013, kurz nachdem Barack Obamas zweite Amtsperiode begonnen hatte, reiste ich in den Mittleren Westen der USA, nach Wisconsin. Ich war vom St. Julian College eingeladen worden, das Sommersemester als Writer in Residence in Green Bay zu verbringen. Untergebracht war ich in der Gästewohnung der Universität, die sich im Erdgeschoss des Verwaltungsgebäudes befand, in einem Betonquader aus den siebziger Jahren; die Einrichtung stammte aus den Achtzigern, die Klimaanlage aus den Neunzigern. Seit den Nullerjahren konnte man die Fenster nicht mehr öffnen, sie aus den Angeln zu heben oder gewaltsam herauszureißen waren die einzigen Optionen, um der Luft zu entgehen, die unaufhörlich durch das Gitter geblasen wurde, gemeinsam mit Staub, Rost und fein zerfallenen Rattenexkrementen. Manchmal hörte sich das Rauschen der Klimaanlage an wie Autolärm, selten wie das Tosen von Wellen, meistens fraß sich der monotone Gesang in meinen Gehörgang, attackierte von dort aus mein Gehirn. Nur im Badezimmer war es leise, ausgerechnet hier hatte die Belüftung ihren Geist aufgegeben.
Nach einem Monat beschloss ich, dem Hinweis einer mir wohlgesinnten Kollegin folgend, eine gewisse J. Truttman aufzusuchen, die angeblich Zimmer vermietete –
ausschließlich wochenweise.
Seit Tagen schneite es ohne Unterlass. Der Schnee fiel unermüdlich, unerbittlich, überdeckte das von Menschenhand Erbaute, löschte es aus. Die breiten Straßen waren verlassen, die sporadische Anwesenheit von Leben schien unbeabsichtigt, einmal nur brummte ein Schneepflug an mir vorbei.
Ich war zu Fuß unterwegs; ich hatte mich nicht dazu durchringen können, ein Auto zu mieten. Da sämtliche Markierungen von einem dichten Weiß geschluckt worden waren, konnte ich es mir aussuchen, wo ich mich bewegen wollte, ob auf der Fahrbahn oder auf dem Gehsteig; ich setzte meine Fußspuren stets auf unberührte Flächen. Neben den vom Himmel schwebenden, gleitenden und rieselnden Flocken waren mein Stapfen und Atmen die einzig vernehmbaren Geräusche, keine Menschen, keine Tiere, keine Autos, nicht einmal der Wind regte sich. Mir kamen die Worte Bachelards in den Sinn: Von allen Jahreszeiten ist der Winter die älteste. Ich wandelte sie ab in: Von allen Jahreszeiten ist der Winter die jüngste. Sie bringt Kindheit in die Erinnerung, setzt alles auf Anfang.
Ich brauchte lange, um J. Truttmans Haus zu finden. Unter den zweistöckigen Betonbauten mit flachen Dächern und großer Einfahrt, denen die Holzhäuser, Farmhäuser, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten weichen müssen – man hatte die family homes eigens für die aus dem Krieg heimgekehrten Veteranen gebaut –, stach es zwar heraus mit seiner hellblau getünchten Holzverkleidung, dem Wintergarten, der einst eine Veranda gewesen war, und dem Mansardenzimmer, das auf dem Dach thronte wie eine Krone. Die Hausnummer aber versteckte sich hinter einem Ahorn, weshalb ich die Woodlawn Avenue mehrere Male auf und ab schreiten musste, um sicherzugehen, dass ich den Pfad, der zum Haus führte, auch mit gutem Grund betrat. Ich fühlte mich beobachtet, glaubte, obwohl ich niemanden dabei ertappte, überwacht zu werden; zudem war das Grundstück der Truttmans das einzige, das umfriedet war, ein Jägerzaun und ein Schild zeigten dessen Grenzen an: No Trespassing.
Ich hatte mich verspätet. Als ich an der Tür klingelte, verfluchte ich den Schnee, jegliche winterliche Romantik war verflogen. Ich dachte, Sie kommen nicht mehr, sagte J. Truttman statt einer Begrüßung und mir die Hand reichend: I'm Joan; ihr you fühlte sich an wie ein Sie. Ich auch, brummte ich und stellte mich mit Franziska vor.
Can I call you Fran? Sie sah mich fragend an. Ich nickte und spähte an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wo es nach Butter, Vanille und Zimt duftete. Sie sind also die Autorin aus Österreich, sagte Joan. Wieder nickte, noch immer spähte ich. Sie grinste.
Dann kommen Sie mal rein.
Coffee Cake nannte sich das himmlisch duftende Gebäck, und es kam mit so vielen Tassen heißem Kaffee, wie ich trinken konnte. Nach der ersten fühlte ich meine Hände wieder, nach der zweiten meine Füße, auf die Zehen musste ich noch warten. Am Ende der dritten Tasse einigten wir uns darauf, dass ich noch am selben Tag einziehen würde, Joan versprach, mich hin und her zu chauffieren. Ich unterschrieb den Mietvertrag, ohne das Zimmer gesehen, ohne das Kleingedruckte gelesen zu haben. Es reichte mir zu wissen, dass es im Cuckoo's Nest wohltuend still war.
Die Stille war, wie ich bald nach meinem Einzug merkte, das Gestaltungsprinzip des Hauses: Nichts durfte laut, gar schrill sein, nichts hervortreten. Das Radio, das in der Küche stand, schwieg unter der Woche, nur am Wochenende war es ihm erlaubt zu sprechen. Das Gerät war so alt wie ich, funktionierte trotz allem einwandfrei, wenn man davon absah, dass die Musik gedämpft klang. Dem Plattenspieler im Wohnzimmer fehlte die Nadel und dem Kassettendeck die Kassette, Joan glaubte, sie weggeworfen zu haben, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern. Die einzigen Geräusche, die im Haus zu hören waren, kamen von draußen: das Zwitschern der Vögel, die in den Büschen und Bäumen im Garten lebten, das Brummen von Motoren, das aufgeregte Plaudern der Nachbarn (besonders Ada Berkins' unermüdlicher Sopran bohrte sich in die Stille).
Das akustische Ödland spiegelte sich im Farbschema der Innenräume wider. Die Einrichtung war grün, braun und beige, wobei die Teppiche grün waren, die Möbel braun (von Natur aus oder in einem Braunton lackiert) und sämtliche Textilien und Tapeten beige. Die Tische, Stühle und Regale schienen alterslos, da sie keine Verzierungen aufwiesen, sie waren zusammengezimmerte Holzbretter. Die Teppiche und Vorhänge wiesen ebenfalls keine Muster auf, sie wollten reine Flächen sein. Die Couch imitierte den Tisch in seiner Formlosigkeit, versuchte sich als braune Bank. Die Tapete war im Laufe der Jahre nachgedunkelt, ich vermutete von Polarweiß über Naturweiß zu Beige. Auch meine Vermieterin hielt sich an die Hausfarben, vergeblich war ich auf der Suche nach schillernden Farbtönen oder ausgefallenen Schnitten. Sie besaß offenbar bloß schlichte Hosen und Röcke, die sie mit den immer gleichen Blusen und Westen kombinierte.
Zuerst dachte ich, dass das Bauwerk seine Bewohnerin infiziert, sich Joan dem Diktat der Stille gebeugt habe. Mit der Zeit aber begann ich zu begreifen, dass es genau umgekehrt war: Sie war es, die dem Haus ihr Verständnis von Ordnung aufgezwungen hatte. Ihre zerbrechliche Gestalt, ihr dünner Hals, die mageren Arme und Beine, die feinen silbrig weißen Haare und ihre zarte blasse Haut standen im Gegensatz zu ihrer dunklen, kräftigen Stimme, die immun gegen jede Art von Widerspruch war und während des Sprechens sogar noch an Festigkeit gewann; in ihren Augen aber lag eine Unsicherheit, die mich überraschte und berührte.
Anfangs genoss ich die Stille. Ich entdeckte, dass sie aus Geräuschen und Tönen besteht, aus Klängen, die sich zu Melodien zusammenfügen und einem Rhythmus unterliegen; dass Vorhersehbarkeit wesentlich für ihre Genese ist und es möglich ist, dem Etwas zu lauschen, das dem Nichts verwandt ist. Dass sie der Ort ist, an dem sich das Flüchtige festhalten lässt, länger als einen Augenblick.
Ich fühlte mich frei, befreit, sobald ich das Kuckucksnest betreten, die Treppe in den ersten Stock erklommen hatte. Ich genoss es, der Welt den Rücken zuzukehren, sie auszusperren, und ich beschloss, mein Büro im Institut nicht länger aufzusuchen, es erschien mir absurd, ein solches Geschenk in den Wind zu schlagen. Drei Stunden pro Woche, jeden Dienstag von fünf bis acht Uhr abends verbrachte ich in der Universität, die restliche Zeit war ich im Kloster, wie ich Joans Haus bald nannte, die Anwesenheit der Klosterfrau hörte ich zwar nicht, fühlte sie aber; ich hätte wissen müssen, dass diese spezielle Art des Glücks nicht halten würde. Es dauerte nicht lange, und ich meinte, vom Stillstand erdrückt zu werden. Mich frei im Haus zu bewegen erschien mir nicht bloß ungehörig, sondern verboten, No Trespassing, die Worte hatten sich in mein Gehirn gebrannt. Ich meinte, die Wände kröchen beständig näher, mein Zimmer wäre ein Turmzimmer und das Fenster der einzige Ausgang; dass eine Tür existierte, entfiel mir. Wenn ich nun...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
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ISBN-10 | 3-518-77232-5 / 3518772325 |
ISBN-13 | 978-3-518-77232-4 / 9783518772324 |
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