Isidor (eBook)
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61304-9 (ISBN)
Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, ist in Westberlin aufgewachsen und hat Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften studiert. Sie ist Journalistin und moderiert für ?Deutschlandfunk Kultur? und ?RBB Kultur? diverse Sendungen zu Kultur und Gesellschaft. Shelly Kupferberg lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Nach und nach trudelten die Gäste in der Canovagasse ein, wurden von der Haushälterin Resi mit einem Glas Champagner empfangen. Auch an diesem Sonntag hatte sie den Hausherrn gebeten, ihre jüngere Schwester Mizzi als Verstärkung ins Haus holen zu dürfen.
Die Herren und Damen nahmen sich ein Glas von Resis Tablett, Wiener Kaufleute mit ihren Gattinnen, Persönlichkeiten aus dem Kulturleben der Stadt, Geschäftspartner und Klienten des Onkels und Bekannte, die an seinem Reichtum teilhaben wollten und ihn umwarben. Isidor begrüßte jeden, genoss die Aufmerksamkeit, die ihm und seiner schönen Geliebten zuteilwurde. Bald ertönte ein Glöckchen aus der Richtung des Esszimmers – der Tisch war reich gedeckt, das Mahl bereit. Walter wartete, bis sich die Gäste miteinander parlierend in Bewegung setzten. Der Onkel sorgte stets höchstpersönlich für die Tischordnung – durchdacht und strategisch. Oder war es etwa Zufall, dass Ilona neben dem Kammersänger des größten Wiener Opernhauses, Hans Duhan, Platz nehmen sollte?
Über jeden der Gäste erzählte der Onkel eine einführende Anekdote, ehe er sie platzierte, und auch wenn ihm nichts Persönliches einfiel, so fand er doch immer wieder einen eleganten Schlenker oder ein Bonmot, um jedem und jeder das Gefühl zu geben, hier genau richtig zu sein.
Walter hörte seinem Onkel bewundernd zu, doch was seinen eigenen Platz an diesem Sonntag im Jahr 1935 betraf, so hatte er Pech: Walter landete neben einem Kollegen des Onkels aus dessen Zeit in der Handelskommission des österreichischen Staates. Dieser Adolf Fürst, schwer, schnaufend und verschwitzt, versuchte immer wieder, die Aufmerksamkeit Ilonas, die ihm schräg gegenübersaß, auf sich zu lenken, was allerdings nur mäßig gelang. Dabei wurde er nicht müde zu betonen, dass er als Mitglied des Verwaltungsrats der Firma Leopold Landeis AG, einer Wäsche- und Miederfabrik, die besten Kontakte zu Salons für edelste Unterwäsche pflege. Während des Essens beobachtete Walter die peinlich berührte Gattin des Herrn Fürst. Mit jedem Glas Wein, das ihr Ehemann trank, wurden seine Ausführungen über Mieder und Unterwäsche detaillierter.
Das mehrgängige Mittagessen zog sich an diesem Sonntag. Walter hatte bei den Gesprächen über die Börse und Wertpapiere Mühe, nicht wegzudösen. Ein ehemaliger Klient des Onkels erzählte von seiner neuen Leidenschaft für Pferderennen und kubanische Zigarren, Ilona lauschte andächtig dem Kammersänger Duhan, der über die richtige Pflege der Gesangsstimme mithilfe ausgetüftelter Eigelbrezepturen und über neue Inszenierungen an der Wiener Oper sprach, und Onkel Isidor lachte ein wenig zu laut über seine eigenen Witze, die Walter allesamt bereits kannte.
Der junge Mann schweifte ab und dachte an sein vor einiger Zeit begonnenes Lektüreheft. Hier schrieb er jedes der Bücher hinein, das er las. Inzwischen waren fast fünfzig Buchtitel zusammengekommen, in nicht einmal einem Jahr. Gestern erst hatte er Tolstois Herr und Knecht dazugeschrieben. Und nun wollte er sich über Theodor Herzls Altneuland hermachen.
Dieses Mal war Walter beinahe froh, als es so weit war und er aus seinen Gedanken gerissen wurde. Nach dem Dessert, ehe den Gästen ein starker Mokka, diverse Liköre und erlesene Schnäpse angeboten wurden, bedeutete der Onkel ihm mit einem strengen Blick: Jetzt gleich! Isidor liebte es, den Sohn seiner Schwester der Tischgesellschaft zu präsentieren. Denn das Wissen des klugen Neffen war auch seines und bewies den Anwesenden, mit welch gebildeten Menschen sie es hier zu tun hatten.
Wie jeden Sonntag schlug Isidor mit einem kleinen silbernen Mokkalöffel gegen sein Weinglas.
»Walter – steh auf, mein Lieber! Woher stammt die Sentenz Roma locuta, causa finita – und was bedeutet sie?«
Walter erhob sich brav und antwortete: »Rom hat entschieden, die Sache ist erledigt – das ist ein Rechtsgrundsatz, der aus dem Kirchenrecht stammt. Die Entscheidung der höchsten Instanz, ursprünglich die des Papstes, ist stets rechtskräftig, es verbleiben keine Rechtsmittel – und somit kein Raum für weitere Diskussionen.« Der Applaus der Gäste war ihm sicher. Und auch der Doppelschilling seines Onkels. Walter hatte die Prüfung auch dieses Mal glänzend bestanden.
Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, wandte sich die Gattin des Mieder-und-Unterwäsche-Moguls an ihn und fragte, welches Gymnasium er denn besuche. Das ›BG9‹, das Bundesgymnasium Nummer neun also, in der Wasagasse, erwiderte Walter. Die Antwort schien Frau Fürst zu gefallen. Sie kannte offenbar den guten Ruf des humanistischen Gymnasiums. »Ist da nicht Stefan Zweig zur Schule gegangen?«, fragte sie, und als Walter nickte: »Und was gedenken Sie denn einmal mit Ihrem Leben anzufangen, junger Mann?« Walter sah hinüber zu seinem Onkel, der ganz in seinem Element war. Als Kavalier seiner Ilona, als generöser Gastgeber, der seinen Bediensteten Anweisungen gab (nicht ganz dezent genug, um unbemerkt zu bleiben), der aufmerksam dafür sorgte, dass es niemandem an etwas fehlte, und gleichzeitig seine Gäste unterhielt. Nur nicht langweilen! Walter wusste, dass dies einer der Leitsprüche des Onkels war.
»Mein Onkel rät mir, in seine Fußstapfen zu treten – heißt: Jura zu studieren, Anwalt zu werden.«
Frau Fürst lächelte milde. »Ein solches Studium wäre nicht das schlechteste, und gewiss nicht mit einem Mentor wie Dr. Isidor Geller im Hintergrund.«
Walter lächelte zurück, ein wenig gequält. Ginge es nach ihm, so würde seine Wahl auf ein Literaturstudium fallen. Was wiederum Onkel Isidor durch und durch missfiel. Über Walters selbstverfasste Gedichte schmunzelte Isidor meist. Auch wenn er das Talent seines Neffen durchaus anerkannte. Aber als Beruf … »Literaturgeschichte?!«, hatte er noch vor einigen Wochen am Familientisch entsetzt ausgerufen. »Da kannst du keine Karriere machen, in diesem Fach gibt es nur Antisemiten. Du wirst Rechtswissenschaft studieren und später meine Kanzlei übernehmen!«
Walters Weg war also besiegelt, mehr noch: Der Onkel hatte alsdann darauf bestanden, mit dem Jungen bei seinem Doktorvater vorzusprechen, bei dem er selbst vor mehr als zwanzig Jahren, noch vor dem Weltkrieg, promoviert hatte.
Der Chauffeur, Herr Pinter, war mit des Onkels Wagen vorgefahren, Neffe und Onkel wurden zu Professor Wlassak geführt, inzwischen ein greiser Mann. Die wenigen Worte, die er für den jungen Walter übrig hatte, klangen wie ein Segen. Er legte seine knochige Hand auf den Kopf des jungen Mannes und sagte: »Werden Sie wie Ihr Onkel.« Damit war er mit seinen Ratschlägen auch schon am Ende. Isidor aber machte ein zufriedenes Gesicht.
Die Jurisprudenz lag Walter eigentlich fern, jedoch wusste er so gut wie all seine Verwandten: Sollte er tatsächlich einmal die Kanzlei Isidors erben, wäre er ein gemachter Mann – es sei denn, er stellte sich wie ein Idiot an.
Das sonntägliche Bankett neigte sich dem Ende zu. Inzwischen war es später Nachmittag geworden, und Frau Fürst hatte es eilig, ihren inzwischen reichlich beschwipsten Mann aus dem Verkehr zu ziehen. Nach und nach erhoben sich die Gäste, Resi und Mizzi standen in der großen Diele mit den Mänteln bereit. Isidor verabschiedete jeden Besucher mit einem kräftigen Händedruck, die Damen mit einem Handkuss. Walter war stets der Letzte, der ging. Denn Isidor wollte jeden Sonntag sehr genau wissen, was sein Neffe unternommen und was er in der Schule gelernt hatte. Walter setzte an, von seinem Lateinunterricht zu berichten, sie übersetzten gerade die Aeneis, als Ilona herbeirauschte und ihn unterbrach – sie wollte wissen, was der Onkel heute noch mit ihr zu unternehmen gedenke. Isidor schlug vor, am Abend auf ein Glas Champagner bei Tanzmusik ins Grabencafé zu gehen. Ilona hauchte dem Onkel erfreut etwas ins Ohr und zog sich zu einem Schönheitsschlaf, wie sie es nannte, in die Tiefen des Appartements zurück. Walter stand ein wenig unschlüssig herum, dann gab er sich einen Ruck.
»Onkel Isidor, ich hab ein neues Gedicht geschrieben, willst du es hören?«
»Mein Junge, solange es nicht allzu traurig ist – nur zu.«
Walter holte Luft:
»Kommt zu uns ins BG9!
Nirgends ist es sonst so fein.
Doch nur Juden brauchen wir,
Denn es sind zu wenig hier,
Früher waren wir viel mehr,
Doch wir hatten Einbuß’ sehr.
Viele sind davongegangen,
Zu uns kamen Nazirangen;
Alle sind sie deutsche Hunde
Und der Spruch macht nun die Runde:
›Für das Volk der Mazzesfresser
Kommt die Nacht der langen Messer!‹
Weil sie mehr sind als zwei Drittel
Haben sie ein böses Mittel.
Alle Israeliten klagen,
Einen Satz wir alle sagen:
›Juden, Juden, kommet her,
Denn wir brauchen euch gar sehr!‹«
Isidor hatte mit verschränkten Armen und ernstem Gesicht zugehört. Er zögerte kurz, ehe er in die Stille hineinsprach: »Also lustig ist das nicht gerade, mein Junge. Und lass die nur reden, die Leute. Noch nicht mal ignorieren, ist meine Devise.« Offenkundig wollte er das Thema nicht...
Erscheint lt. Verlag | 24.8.2022 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 | |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Antisemitismus • Archivmaterial • assimilation • Aufstieg • Bildung • Biographie • Emigration • Erster Weltkrieg • Erzählendes Sachbuch • Exil • Familiengeschichte • Galizien • geller • Geller, Isidor • Geschichte • Grab • Grab, Walter • Habsburger • Hajmassy • Hajmassy, Ilona • Hollywood • Hollywoodstar • Holocaust • Holocaustüberlebende • Ilona • Isidor • Israel • Journalistin • Juden • Judentum • Jüdisch • Kaffeehaus • k.u.k. • Lebensgeschichte • Lemberg • Massey • Massey, Ilona • Millionär • Mitteleuropa • Nationalsozialismus • Nazis • Nazi-Vergangenheit • Nazizeit • Oper • Opernsängerin • Palais • Palästina • Provenienzforschung • Raubgut • Raubkunst • rbb • Recherche • Restitution • Sängerin • Selfmade-Mann • Shoah • Spurensuche • Tel Aviv • Urgroßonkel • Vertreibung • Walter • Wien • Zionismus • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-257-61304-0 / 3257613040 |
ISBN-13 | 978-3-257-61304-9 / 9783257613049 |
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