Frau Morgenstern und die Flucht (eBook)
336 Seiten
Grafit Verlag
978-3-98708-001-2 (ISBN)
Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand/Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schreibt er Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus der ganzen Welt. Er lebt in der Zentralschweiz. www.marcelhuwyler.com
Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand/Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schreibt er Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus der ganzen Welt. Er lebt in der Zentralschweiz. www.marcelhuwyler.com
1
»Nichts ist schwieriger, als eine sterbenslangweilige Person umzubringen.« Violetta Morgenstern rang die Hände und stieß sich samt Bürostuhl vom Tisch weg.
»Trainierst du schon mal für künftige Seniorenausflüge mit dem Rollstuhl?« Miguel Schlunegger winkte ihr mit einer theatralisch geriatrischen Geste hinterher.
Violetta bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Manche Männer glauben, nicht zu altern, nur weil sie immer kindischer werden.«
»Keine Sorge, dein Altern hat irgendwann ein Ende.« Er stutzte und kicherte dann wie ein Tölpel. Miguel besaß die Gabe, unbesonnen daherzubrabbeln und erst danach zu realisieren, wie philosophisch sein Spruch gewesen war. »Aber ja, du hast recht«, meinte er dann. »Ob der oberlangweilige Kerl überhaupt einen Unterschied merken wird, wenn er tot ist? Der hat doch noch gar nie richtig gelebt.«
Neunundneunzig Prozent aller Zielpersonen auf der To-do-Liste des geheimen Schweizer Killerministeriums Tell boten in irgendeiner Form eine Angriffsfläche. Hatten in ihrem Berufs- oder Privatleben Momente, die – von den staatlichen Eliminierungsprofis geschickt ausgenutzt – zum Ableben führen konnten. Und nach natürlicher Ursache aussahen. Letzteres war eminent wichtig. Tod ohne nachweisbare Fremdeinwirkung hieß die Maxime bei Tell. Unfälle aller Art (Stürze funktionierten eigentlich immer), mit Strom oder Gift provozierte Herzinfarkte, überdosierte Medikamente, manipulierte Lenkungen von Fahrzeugen, undichte Gasleitungen, gewollt unsachgemäß funktionierende Haushaltgeräte. Die Liste war lang, je kreativer, desto lieber.
Violetta Morgenstern genoss bei Tell den Ruf, besonders ausgefallene Mittel einzusetzen. Sie galt als sehr erfinderisch. Ihre Elimination mittels Staubsaugerroboter rangierte in der betriebsinternen Hitparade der best ends seit über elf Monaten auf Platz eins.
Sehr beliebt bei den Auftragskillern war der Sport.
Besonders bei Outdooraktivitäten drängten sich die Zielpersonen geradezu als Opfer auf. Gesunde Bewegung war gestern, heute hielt sich auch der durchschnittliche Freizeitsportler gern im Nahtodbereich auf. Biker, Jogger, Wanderer, Skifahrer, Schneeschuhgänger – immer hart am Limit, Abgrund und an einer Herzrhythmusstörung. Und somit ein Leichtes für Tell, mit lediglich dezenter Nachhilfe das Endziel zu erreichen.
Die Kollegen der Abteilung Organisation & Technik hatten in ihrem Büro ein selbst gestaltetes Plakat aufgehängt. Darauf stand: »Sport und Turnen füllen Gräber und Urnen.«
Adam Kish machte keinen Sport.
Adam Kish machte auch sonst nichts. Absolut gar nichts.
Adam Kish war der personifizierte Alptraum eines jeden Auftragskillers. Null Hang zum Sterben.
Morgenstern und Schlunegger hatten den Fall vor zehn Tagen zugewiesen bekommen und bissen sich seither daran die Zähne aus.
Kish war vierzig und in jeder Hinsicht langweiliger Durchschnitt. Er war weder klein noch groß, weder dick noch dünn, nicht besonders schön, aber auch nicht unansehnlich. Ein Allerweltsgesicht (vielleicht etwas gar zu feiste Bäckchen), eine Dutzendfrisur, eine Nullachtfünfzehn-Statur, ebenso profan seine Kleidung, die schwarze Kassenbrille und die phlegmatische Art, mit der er sich bewegte. Selbst sein Dialekt war Mittelmaß – zentrales Schweizer Mittelland ohne Kanten, Ecken, Zischer oder knackige Wortkreationen.
Dieser Kish war so unauffällig wie eine graue Wanze auf einer Betonwand im Nebel.
Nichtsdestoweniger stand er auf der Abschussliste von Tell.
Der Oberlangweiler musste demnach irgendetwas derart Brisantes oder Böses tun oder wissen, das aus Sicht der obersten Schweizer Entscheidungsträger seine Liquidierung rechtfertigte.
Adam Kish war selbstständiger Finanzler und arbeitete den ganzen Tag zu Hause in seiner Mietwohnung am Computer. Eine tabellengraue Zahlenmaus in ihrem Käfig: dreieinhalb Zimmer, Küche, Bad, Reduit samt Waschturm, in der sechsten Etage eines Minergie-zertifizierten Gebäudes im siebten Stadtbezirk.
Wie immer zu Beginn eines Falls hatte ein Tell-Team diesen Kish rund um die Uhr beschattet. Ziel war es, die Person und ihr Dasein als Ganzes zu erfassen. Dazu wurde jede Minute ihres Alltags registriert und in einer Art Drehbuch vermerkt. Sämtliche Tätigkeiten und Bewegungen, ja sogar die Schlafsequenzen, wurden aufgezeichnet und zusätzlich, wo es sinnvoll war, von einer Drohne auf Sicht oder Infrarot verfolgt oder mittels Videokamera aufgezeichnet.
Im Normalfall umfasste der »Wochenstundenplan« einer Zielperson um die fünfzig A4-Seiten.
Jener von Kish hatte sieben.
Er ging abends nie aus, machte keinen Sport und ließ sich Lebensmittel und andere Produkte des täglichen Bedarfs per Post oder Kurier nach Hause liefern.
Er besaß keine Hobbys, Laster oder Freuden und schien ein bedürfnisloses Dasein zu führen. Es gab weder Frauen noch Sex oder Flirts, geschweige denn Liebe.
Adam Kish lebte nicht, er existierte. Und verlängerte lediglich täglich sein Leben.
Immerhin, es gab drei Dinge, die seinen Alltag unterbrachen.
Erstens: Während der Arbeitspausen – manche dauerten fünf Minuten, andere dreißig – spielte er auf dem Computer. Egoshooter-Games, Onlinepoker und Zombiezeugs.
Zweitens: Einmal am Tag genehmigte er sich einen halbstündigen Spaziergang innerhalb der Wohnsiedlung, die viel Beton bot und absolut reiz- wie seelenlos war, was im Werbeprospekt der Quartierarchitekten als urban living angepriesen wurde.
Und drittens: Jeden Samstagmorgen um neun setzte er sich in seinen Toyota Corolla, Farbe Manhattangrau (das meistverkaufte Auto der Welt und somit auch der absolute Durchschnitt), fuhr bis zum Stadtrand und dann eine schmale, kurvige und steile Straße hoch zum Wälchliwald. Von hier aus hatte man eine gute Sicht auf Alpenkranz und Stadtgewuchere. Aber Kish war nicht am Panorama interessiert. Nach lediglich hundert Metern Fußmarsch setzte er sich auf eine Parkbank, kramte ein zusammengefaltetes TV-Gratismagazin aus der Seitentasche seines Parkas und beschäftigte sich mit den Sudokus darin. Eine Dreiviertelstunde später fuhr er wieder nach Hause.
Das war’s dann auch schon an Auffälligem.
Adam Kish hauste als Einsiedler, lebte wie ein Mönch und arbeitete wie ein Besessener. Und er brachte Morgenstern und Schlunegger an den Rand des Wahnsinns.
Es fand sich bei dem Mann absolut nichts, wo sie mit ihrer Liquidierung hätten ansetzen können. Statt dass Morgenstern und Schlunegger ihn beseitigten, erstickte er ihre Geduld, zerriss ihre Nerven und quälte langsam, aber sicher ihren Geist zu Tode.
In solchen Fällen halfen nur Unmengen von Kaffee. Jede halbe Stunde besorgten Violetta oder Miguel in Tells Küche neuen Stoff. So, wie sie ihn beide mochten und süchtig danach waren: heiß, schwarz, stark. Manche Dinge änderten sich nie.
Die Reihe war an Miguel. Er schnappte sich ihre leeren Tassen und schlenderte in Richtung Küche. Violetta brütete derweil weiter über dem Dossier Kish. Dieser Kill-Auftrag stellte nicht nur in logistischer Hinsicht ein Problem dar, sie hatte auch persönlich daran zu kauen.
Violetta mochte es, wenn Zielpersonen so richtig anständig böse waren. Offenkundige Schurken, sicht- und greifbar niederträchtig. So bösartig, dass diese auch gemäß privatem morgensternschem Wertesystem den Tod verdienten. Wohlverstanden, Job war Job, Auftrag war Auftrag – sie tat, was man ihr befahl. Und trotzdem war ihr wohler und ging ihr das Eliminieren leichter von der Hand, wenn sie einen wahren Scheißkerl ausknipsen konnte. Einen, der den Tell-Service wirklich nötig hatte.
Kish war ihr eindeutig zu unböse.
Sicher, die Regierenden in diesem Land hatten bestimmt sehr gute Gründe, den Typen ausschalten zu lassen. Doch Violettas Gerechtigkeitsempfinden wäre befriedigter, wenn sie Kish auch persönlich ihren Segen zum Ableben geben könnte. So aber kam sie sich vor wie eine Malerin, die den Auftrag erhielt, eine Wand in hässlicher Farbe zu streichen. Oder, als müsste sie als Köchin Rosenkohl zubereiten.
Vielleicht ließ sich ja doch noch etwas Verabscheuungswürdiges bei Kish finden. Ihr wäre massiv wohler. Zufriedenheit im Job war wichtig.
Miguel kam mit frischem Kaffee zurück. Er lief leicht in den Knien und hielt die Tassen vorsichtig von sich gestreckt, als balanciere er kleine scharfe Sprengsätze. Mit einem Aufschnaufer der Erleichterung stellte er die Tassen auf den Tisch.
»Noch so jung und trägt doch schon so schwer an der Last des Lebens.«
»Quatsch. Das ist es nicht. Wollte nichts zerstören. Schau dir doch die Schäumchen an. Richtige Kunstwerke sind das.«
Auf Miguels Schaum war ein perfekt symmetrischer Farnwedel zu sehen. In Violettas Tasse zeichnete sich milchweiß auf arabicabraun ein Katzengesicht ab – die Öhrchen standen je als Schaumflocke von der Oberfläche ab. Kaffee in 3D.
»Latte-Art sagt man dazu«, erklärte Miguel.
»Was du für Talente hast …«
»Ich doch nicht. Das hat Leo gezaubert.«
Violetta stöhnte auf. »Jetzt sag nicht, der Kerl steht in der Kaffeeküche und verziert sämtliche Tassen der Mitarbeitenden.«
»Genau das tut er. Hat erklärt, er habe mal einen Barista-Kurs absolviert. Unsere Leute stehen Schlange, um an ein Leo-Kaffeekunstwerk zu kommen.«
Violetta schob ihre Tasse demonstrativ ans Ende des Schreibtisches. »Mir ist der Gluscht grad so was von abhandengekommen.«
»Du magst Leo einfach nicht, das ist es.«
Sie knurrmurrte.
»Er kann tun, was er will, du findest es bescheuert.«
»Das Problem ist, dass er alles kann, was er will. Ich hasse...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2022 |
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Reihe/Serie | Frau Morgenstern |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Auftragskillerin • bissig • bösartig • Ermittlerduo • Ex-Söldner • Frau Morgenstern • Kriminalroman • mörderisches Duo • schräg • Schwarzer Humor • Skurill • Spannung • Violetta Morgenstern |
ISBN-10 | 3-98708-001-9 / 3987080019 |
ISBN-13 | 978-3-98708-001-2 / 9783987080012 |
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