Das Tor zur Welt: Hoffnung (eBook)
656 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01280-6 (ISBN)
MIRIAM GEORG, geboren 1987, ist die Autorin des Zweiteilers «Elbleuchten» und «Elbstürme». Beide Bände der hanseatischen Familiensaga wurden von Leserinnen und Lesern gefeiert, sie schafften auf Anhieb den Einstieg auf die Bestsellerliste und wurden zum Überraschungserfolg des Jahres. Die Autorin hat einen Studienabschluss in Europäischer Literatur sowie einen Master mit dem Schwerpunkt Native American Literature. Wenn sie nicht gerade reist, lebt sie mit ihrer gehörlosen kleinen Hündin Rosali und ihrer Büchersammlung in Berlin-Neukölln.
MIRIAM GEORG, geboren 1987, ist die Autorin des Zweiteilers «Elbleuchten» und «Elbstürme». Beide Bände der hanseatischen Familiensaga wurden von Leserinnen und Lesern gefeiert, sie schafften auf Anhieb den Einstieg auf die Bestsellerliste und wurden zum Überraschungserfolg des Jahres. Die Autorin hat einen Studienabschluss in Europäischer Literatur sowie einen Master mit dem Schwerpunkt Native American Literature. Wenn sie nicht gerade reist, lebt sie mit ihrer gehörlosen kleinen Hündin Rosali und ihrer Büchersammlung in Berlin-Neukölln.
Teil 1
1912
Hamburg
1
Sie tastete im Dunkeln umher. Einen Moment überkam sie die grauenvolle Gewissheit, dass sie blind war. Nie wieder würde sie Farben sehen, nie wieder das Gesicht ihrer Mutter. Die Panik packte sie so fest, dass sie aufschrie und sich mit den Händen über die Augen kratzte.
Da spürte sie den Verband.
Ava fiel wieder ein, was passiert war, und mit einem Stöhnen ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Sie war schweißgebadet.
Jedes Mal, wenn sie einschlief, erwachte sie danach voller Angst. Jedes Mal vergaß sie, dass ihre Augen nur verbunden waren. Dass sie noch sehen konnte.
«Ich nehme Ihnen die Binde ja gleich ab. So langsam sollten Sie sich daran gewöhnt haben, oder nicht? Dass Sie sich aber auch immer so anstellen müssen.» Die Stimme der Schwester klang ungeduldig, beinahe scharf.
Ava konnte es ihr nicht verdenken. Sie war eine undankbare Patientin. Drei Wochen war es nun her, dass man sie operiert hatte. Und noch immer musste sie so oft wie möglich mit Kräutern getränkte Umschläge auf die Augen legen, um zu verhindern, dass sie sich entzündeten. Damit die Umschläge nicht verrutschten, band man sie nachts fest.
«Haben Sie gehört, dass Sie bald entlassen werden? Es dauert nicht mehr lang.» Schwester Karla hob ihren Kopf vom Kissen und löste die feuchte Binde.
«Was?» Ava blinzelte, und die Erleichterung, die Farben und das Licht zu sehen, das Zimmer um sie her und sogar das verkniffene Gesicht der Schwester war wie jeden Tag so groß, dass ihr ein Gewicht von der Brust zu fallen schien. «Aber ich bin doch gar nicht gesund.» Plötzlich hämmerte ihr Herz. Allerdings nicht vor Freude. So ungeduldig sie auch war, endlich das Krankenhaus verlassen zu dürfen, endlich ins Leben zurückzukehren, so sehr fürchtete sie sich auch davor.
«Ein wenig müssen Sie auch noch warten, aber die Entzündung ist unter Kontrolle. Sie können dann von Ihrem Hausarzt weiter behandelt werden.»
Ava hätte beinahe laut aufgelacht. Aber natürlich wusste die Schwester nicht, warum sie hier war und wie lächerlich dieser Gedanke schien. «Gut», murmelte sie und sank wieder in ihr Kissen zurück.
«Ich dachte, Sie machen Luftsprünge. So lange wie Sie hatten wir schon ewig niemanden hier. Zumindest nicht mit einem Trachom.»
«Danke, dass Sie mich daran erinnern», murrte Ava, und Schwester Karla warf ihr erst einen missbilligenden Blick zu, schmunzelte dann aber. «Ich werde Sie vermissen.»
«Werden Sie nicht», erwiderte Ava, musste dann aber ebenfalls lächeln.
Sobald die Schwester gegangen war, stand Ava auf, griff nach ihrer Strickjacke und tappte langsam zum Spiegel an der Wand. Weil ihre Krankheit einen so unerwartet schweren Verlauf genommen hatte und so ansteckend war, hatte sie die meiste Zeit über ein Einzelzimmer bewohnt. Anfangs war sie dankbar dafür gewesen, doch irgendwann waren die Stille und die Einsamkeit über sie hergefallen wie unsichtbare Wölfe, hatten sie halb wahnsinnig werden lassen in der Dunkelheit. Sie hatte begonnen, sich Lieder vorzusingen, Gedichte von früher aufzusagen, an die sie sich nur noch halb erinnerte. Wann immer möglich hatte sie am offenen Fenster gesessen und auf die Geräusche der Stadt gelauscht, aber es war zu kalt gewesen, die Gefahr einer weiteren Entzündung zu groß. Irgendwann hatten die Schwestern die Tür zum Gang für sie offen stehen lassen, damit sie wenigstens etwas von draußen mitbekam. Sie konnte nicht lesen, sie hatte nichts, um sich abzulenken. Und niemand kam zu Besuch.
Denn niemand wusste, dass sie hier war.
Sie trat an den Spiegel und blickte auf ihre Füße, zögerte den Moment hinaus, in dem sie sich in die Augen schauen musste. Sie trug keine Strümpfe, ihre Zehen waren rot gefroren.
Langsam hob sie den Blick. Und als ihre honigfarbenen Augen im Spiegel auf ihr Ebenbild trafen, wurde sie von Ava zu Claire.
Ihr Mund begann zu zittern. Seit Wochen vermied sie den Blick in den Spiegel, so gut es ging. Ihre Augen waren gerötet, in den Winkeln hatten sich Krusten gebildet, die Wimpern waren verklebt. Über der linken Iris lag ein Schleier. Ein weißer Nebel. Hauchfein, aber deutlich.
Er würde ihr für immer bleiben.
Außerdem hatte sich das Lid leicht verkrümmt, sodass die Wimpern in eine Fehlstellung geraten waren. Ihre Sehkraft indes war noch genauso gut, wie sie immer gewesen war. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass das andere Auge lernen würde, den Nebel auszugleichen. Der Anblick versetzte ihr trotzdem einen so brennenden Stich, dass sie ihr Spiegelbild am liebsten zerkratzt hätte.
Sie krallte die Hände um den kalten Rand des Waschbeckens und versuchte, den heißen Kloß herunterzuschlucken, der in ihrem Hals anschwoll. Sie musste dankbar sein. Dankbar, dass sie ihr Gesicht überhaupt sehen konnte. Aber es war so schwer, nicht damit zu hadern.
Nie wieder würde sie aussehen wie früher.
«Wären Sie so gut, mir den Tee zu reichen?» Agatha lächelte mit blassen Lippen, man sah, wie viel Kraft es sie kostete, so zu tun, als wäre alles wie immer.
Ava ging zur Anrichte. Bedächtig schüttete sie den heißen Schwarztee in die zartgeblümte Porzellantasse von Oscar Schlegelmilch, die sicher mehr gekostet hatte als alles zusammengenommen, was sie besaß, und brachte sie an den Diwan, auf dem Claires Mutter saß.
«Soll ich die Vorhänge ein wenig zuziehen?» Sie sah, wie das grelle Licht des Vormittags Agatha in den Augen schmerzte.
«Vielleicht ein bisschen.» Ihre Stimme war kaum mehr ein Hauch. Agatha trank einen Schluck. Die Hand, die die Tasse zum Mund führte, zitterte ganz leicht.
Ava ging zum Fenster und zog die Gardine zu, schloss den kalten Hamburger Wintertag draußen aus. «Dann geht es Ihnen heute wohl nicht besser?», fragte sie, als sie sich wieder umdrehte.
Agatha schüttelte den Kopf. «Ich bin nur etwas geschwächt, machen Sie sich keine Gedanken. Es muntert mich immer auf, Sie zu sehen. Wie schön, dass Sie mich besuchen kommen.»
Ava lächelte. Sie goss sich ebenfalls eine Tasse Tee ein und versuchte, nicht aufzuschauen, denn sie merkte, wie Agathas Blick auf ihr ruhte, tastend ihr Gesicht erforschte. Seit Wochen kam sie nun hierher, und immer noch sah Agatha sie so an.
Als könnte sie nicht glauben, dass Ava da war.
Als wäre sie jemand, den sie lange Zeit vermisst hatte.
Es klopfte, und Marie steckte den Kopf zur Tür herein. Ava wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. «Madame, könnte ich Sie einen Moment sprechen?»
«Was gibt es, Marie?» Mit einem Klirren setzte Agatha die Tasse ab. «Nur zu, sprich ruhig, sprich.»
Ava war klar, dass auch Agatha sofort an Claire dachte. Wie könnte sie auch nicht. Sie alle dachten seit Wochen an nichts anderes.
Marie warf Ava einen zweifelnden Blick zu, dann trat sie ein und faltete die Hände vor der weiß geblauten Schürze. «Madame, ich war eben auf dem Markt, und ich habe dort … jemanden getroffen. Ein anderes Dienstmädchen.» Mit großen Augen blickte Marie zwischen ihnen hin und her, offensichtlich unsicher, ob sie reden durfte.
«Bitte, so sag doch», forderte Agatha sie auf, und Ava bemerkte, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte. Auch sie umklammerte mit beiden Händen ihre Tasse.
Marie schluckte sichtbar. «Magnus Godebrink ist zurück.»
Agatha wich das Blut aus dem Gesicht, doch bevor sie reagieren konnte, fügte Marie hinzu: «Ich habe mit seiner Mamsell gesprochen. Er … er hat Claire nicht gesehen.»
Nachdem Agatha an jenem Tag, an dem ihrer aller Leben durch Claires Flucht aus den Angeln gehoben worden war, vor Avas Augen zusammenbrach und ins Krankenhaus kam, hatte Ava gemeinsam mit Wilhelm und Quint die Villa unverrichteter Dinge wieder verlassen müssen. Am folgenden Tag war sie nach Eppendorf gefahren, wo man sie zu ihrem Erstaunen auch tatsächlich sofort in das Privatzimmer geführt hatte, in dem Agatha Conrad nach ihrem Herzanfall lag.
Ava hatte erwartet, dass Claires Mutter sich erklären, irgendetwas darüber sagen würde, was geschehen war. Warum sie Ava angesehen hatte, als stünde der leibhaftige Tod vor ihr, und dann ohnmächtig auf den Teppich gesunken war.
Aber alles, was Agatha sagte, als Ava hereinkam und an ihr Bett trat, war: «Wissen Sie, wo meine Tochter ist?»
Die kranke Frau griff nach ihrer Hand und sah sie mit so riesigen, angsterfüllten Augen an, dass Ava am liebsten aus dem Raum gelaufen wäre. Sie hatte Angst, dass Claires Mutter erneut einen Schwächeanfall erleiden, ihr Herz die Nachricht nicht verkraften würde. Aber sie musste es schließlich erfahren. Sicher war nichts schlimmer, als in der Ungewissheit zu leben.
Also hörte sich Ava selbst dabei zu, wie die unglaublichen Worte aus ihrem Mund kamen. Sie erzählte, wie Claire in aufgelöstem Zustand zu ihr ins Gängeviertel gekommen war. Dass Claire daheim an der Tür gelauscht und gehört hatte, wie sich Dr. Schwab und Agatha besprachen, wie er plante, sie einweisen zu lassen oder sie andernfalls zu ehelichen, um sie vor rechtlichen Konsequenzen zu bewahren. Agatha blickte sie an, ohne einmal zu blinzeln, und Ava konnte an ihrer Miene nicht ablesen, ob sie das Gehörte begriff, ob sie verstand, was Claire getan hatte.
Auf ihre Erzählung folgte...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2022 |
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Reihe/Serie | Die Hamburger Auswandererstadt | Die Hamburger Auswandererstadt |
Zusatzinfo | Mit 4 s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 1900 • Albert Ballin • Auswanderer • Auswandererhallen • Auswanderung • Ballin • BallinStadt • Bestseller • Bestseller 2021 • Carmen Korn • Einwanderung • Elbleuchten • Elbstürme • Gesellschafsroman • Gesellschaft • Hamburg • Hanseatische Familiensaga • Historische Liebesromane • Historische Romane • Historischer Roman • Jeffrey Archer • Lena Johannson • Liebe • Liebesroman • Migration • spiegel bestseller • Spiegel Bestseller 2022 • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Taschenbuch Bestseller 2021 • Veddel |
ISBN-10 | 3-644-01280-6 / 3644012806 |
ISBN-13 | 978-3-644-01280-6 / 9783644012806 |
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