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Die Frauen vom Karlsplatz: Vera (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00777-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frauen vom Karlsplatz: Vera -  Anne Stern
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Eine Liebe in dunklen Zeiten Lichterfelde, 1943. Vera erlebt den Zweiten Weltkrieg in ihrer Berliner Villa am Karlsplatz. Ihr Mann Wilhelm, ein überzeugter Nationalsozialist, ist bei der Luftwaffe. Doch immer öfter kommen der jungen Frau Zweifel, auf welcher Seite sie selbst eigentlich steht. Da entdeckt sie in der Gartenlaube einen Fremden, der sich auf der Flucht vor den Nazis versteckt ha?lt. Es ist der jüdische Ku?nstler David, der in die Illegalität abtauchen musste und seitdem ums Überleben ka?mpft. Vera trifft eine weitreichende Entscheidung ? und riskiert, dass diese ihre Familie zerreißt und alles in Frage stellt, was sie bisher für richtig gehalten hat. Doch in Zeiten des Hasses ruht die einzige Hoffnung auf der Liebe. Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs - Band 3 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

1.


Oktober 1943, Lichterfelde

Wilhelms Stiefel knallten auf die Dielen, bei jedem Schritt ächzte das Holz unter den schweren Absätzen wie ein geschundenes Tier. Vera hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch das hätte Wilhelms Wut nur noch befeuert. Also hielt sie den Blick gesenkt und starrte auf ihre Hände im Schoß.

Der goldene Ehering glänzte an ihrem Finger, als hätte Wilhelm ihn ihr erst gestern daraufgesteckt. Dabei war das viele Jahre her. Im Juli hatten sie ihren siebten Hochzeitstag gefeiert. Wobei sie sich von Feiern eine andere Vorstellung machte. Wilhelm hatte zwei Tage Heimaturlaub bekommen, doch die hatten sie zu großen Teilen im Luftschutzkeller verbracht. Im Sommer waren die Bombardierungen schwer gewesen, die Luft dauernd erfüllt vom Pfeifen der Bomben und dem Grollen der Detonationen, bei dem Vera immer heiß und kalt vor Angst wurde. In der kurzen Pause, die die Alliierten ihnen gegönnt hatten, hatte Wilhelm Vera ins Bett gezerrt und sich grob sein Recht genommen, wie er es nannte. Von der Zärtlichkeit der ersten Wochen ihrer Ehe war nicht viel übrig.

Wehmütig lauschte Vera der Melodie des Liedes, das sich auf dem Plattenspieler drehte und Wilhelms erklärtes Lieblingslied war. «Unsre beiden Schatten sahn wie einer aus», sang Lale Andersen mit ihrer sanften, melancholischen Stimme. Lili Marleen hieß das Stück, das zwar äußerst beliebt bei den Deutschen war, im letzten Jahr dann jedoch von den Nationalsozialisten verboten wurde, weil es angeblich zersetzend und demoralisierend war. Doch so regimetreu Wilhelm war – bei seinen Schallplatten ließ er sich nicht hineinreden und legte, sobald er das Haus betrat, die geliebte Schellackplatte auf den Teller. Die Zeiten aber, als sie beide eng umschlungen unter einer Laterne gestanden und sich geküsst hatten, lagen lange zurück.

Wilhelm war Gruppenkommandeur eines Kampfgeschwaders, das von Norwegen aus operierte, und nur selten in Berlin. Im letzten halben Jahr war er zum Major ernannt worden, man hatte ihm für seine Verdienste für die Nachtjagd das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen, ein Orden, der den Helden der Nation an die Brust geheftet wurde.

Er war ein Held. Nach seinen Reden vor der Hitlerjugend verteilte er Autogrammkarten an die Jungen, die ihn verehrten. Das Bild zeigte einen strahlenden Wilhelm mit blondem Haar in der schneidigen Uniform der Fliegerasse. Vera fühlte sich von diesem Bild merkwürdig abgestoßen, es schien ihr wie eine Hochglanzlüge.

Die Luft in der Villa am Karlsplatz war während Wilhelms Anwesenheit stets von Streitlust und seinem Gepolter erfüllt. Und wie immer drehten sich ihre Zankereien um das Thema, das Vera am liebsten ein für alle Mal aus ihren Gedanken und Träumen verbannt hätte, das sie jedoch verfolgte wie ein lästiger Taschendieb. Unwillkürlich strich sie sich über den flachen Bauch unter dem Baumwollkleid. Wie eine leere Vase, dachte sie und schluckte.

«Was meinst du, wie ich mich fühle, wenn die Kameraden die Fotografien ihrer Familien herumzeigen?», zischte Wilhelm und ging weiter vor ihr auf und ab. «Kinder haben die wie die Orgelpfeifen. Die Frau von Egon hat gerade das Mutterkreuz in Silber erhalten, sie haben das sechste Kind bekommen.» Er schnaubte und hieb mit der Faust auf die Lehne des Sofas. «Wie steh ich denn da, frage ich dich?»

Vera spürte, wie ihre Lippen zu zittern begann. Ärgerlich biss sie sich darauf. Sie wollte nicht schon wieder vor ihm weinen, es war zu demütigend. Stattdessen schluckte sie und fauchte zurück: «Was glaubst du denn, wie es mir geht? Ich möchte genauso sehr ein Kind wie du.»

«Ja, aber du tust nichts dafür», rief Wilhelm und sah sie endlich an. In seinem hübschen Gesicht erkannte Vera ihre eigene Verzweiflung, und beinahe verspürte sie Mitleid mit ihm. Doch sein nächster Satz erstickte dieses Gefühl sofort wieder.

«Egon sagt, er und seine Frau kommen kaum aus dem Bett, wenn er auf Heimaturlaub ist. Sie weist ihn nicht andauernd unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden zurück. So kann es ja nicht klappen.»

«Wilhelm», sagte Vera niedergeschlagen, «wir versuchen es doch jetzt schon so viele Jahre. Es liegt sicher nicht daran, dass wir nicht oft genug … Und ich nehme die Tabletten, die der Doktor mir verschrieben hat, ich habe das Rauchen aufgegeben, weil eine deutsche Frau ja nicht raucht», sie schnaubte leise, «und ich mache meine Gymnastik jeden Morgen. Was erwartest du von mir?»

«Ich erwarte von dir, dass du deine Pflicht als deutsche Ehefrau erfüllst und mir endlich einen Sohn schenkst», schrie Wilhelm und wandte sich dann brüsk ab. Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus. Vera bemerkte, dass seine Schultern zuckten.

Gegen ihren Willen tat er ihr erneut leid. Leise stand sie auf und ging vorsichtig, weil sie Angst hatte, er würde sie wegstoßen, zu ihm hinüber. Sie schlang die Arme von hinten um seine Schultern, weiter hinauf reichte sie nicht. Die Schallplatte war verstummt. Langsam wiegte Vera ihn hin und her und summte eine Liedzeile aus einem anderen Schlager, den er ebenfalls so mochte, Sing, Nachtigall, sing. Es war eine traurige und beruhigende Melodie, wie ein Wiegenlied, das von verlorenem Liebesglück berichtete. Sie schien Vera auf einmal schrecklich passend.

Unter ihren Händen spürte sie, wie Wilhelms Muskeln unter der Uniform etwas weicher wurden. Er drehte sich zu ihr um und schlang ebenfalls seine Arme um sie.

«Sing lauter», raunte er und begann, sie hin- und herzuschwingen. Unbeholfen erst, dann immer sicherer tanzten sie, und Vera sang das ganze Lied. Bring, Nachtigall, bring mein Glück zurück. Das spiegelnde Glas des gerahmten Hitlerporträts an der gegenüberliegenden Wand warf ihr Bild zurück, und Vera betrachtete es aus den Augenwinkeln. Sie sah eine hübsche Frau, nicht ganz jung, aber auch noch nicht alt. Die dichten blonden Haare waren zu einem modischen Bubikopf geschnitten, die Augen hatten trotz der schweren letzten Jahre ihren grünlichen Glanz nicht verloren. Ein bisschen zu plump fand sie sich, das Kleid spannte um ihre kräftigen Hüften. Doch sie hatte nun einmal diesen Körperbau, schwere Knochen nannte man das. Und Wilhelm behauptete immer, dass er gern etwas in der Hand hatte. Auch jetzt griff er sie fest um die Taille und tanzte weiter mit ihr durchs Zimmer. Wie damals, dachte Vera und war sicher, dass auch Wilhelm sich erinnerte.

 

Sie hatte sich in den großen blonden Jungen verliebt, als sie noch ein Kind gewesen war. In der Volksschule hatten sie sich in den Pausen fortgestohlen und kichernd in einer Ecke des Schulhofs gehockt, Süßigkeiten und schüchterne Blicke ausgetauscht. Die Erinnerung schmeckte wie das Himbeerbrausepulver, das Wilhelm für sie gekauft hatte. Ihre Elternhäuser standen nicht weit voneinander entfernt, an den Nachmittagen stromerten sie zusammen mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft durch Lichterfelde, bauten Hütten am Kanal und unternahmen lange Streifzüge, um Brombeeren zu pflücken. Als sie älter wurden und es plötzlich nicht mehr schicklich war, dass ein Junge und ein Mädchen Zeit miteinander verbrachten, endeten diese unbeschwerten Tage. Wilhelm trat in die neu gegründete Hitlerjugend ein und trug auf einmal Uniform und einen wichtigen Ausdruck im Gesicht. Vera sprang mit den anderen Mädchen aus ihrer Klasse über das Seil, spielte Himmel und Hölle und sehnte sich nach ihm. Nach seinen blitzenden Augen, in denen stets der Schalk wohnte und mit denen er ihr wortlos etwas versprach. Und immer wieder fand er einen Vorwand, um mit ihr über die Hecke ihres Gartens hinweg ein paar Worte zu wechseln oder sich in der Straßenbahn neben sie zu setzen und heimlich ihre Hand zu drücken, bis einer von ihnen aussteigen musste.

Als er längst das Gymnasium besuchte und sie die Ausbildung zur Textilverkäuferin begonnen hatte, hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Vera schloss die Augen und rief sich jede Sekunde dieses sonnendurchfluteten Tages ins Gedächtnis.

Es war heiß gewesen und Vera war mit ihren Freundinnen ins Sommerbad am Teltowkanal geradelt. Dort badeten seit einigen Jahren Frauen und Männer gemeinsam, sodass es nicht verwunderlich war, dass auf den Wiesen zum Wasser hin und auf den Betonplatten am Beckenrand Gruppen von halbwüchsigen Jungen lagerten und sich am Anblick der leicht bekleideten Mädchen erfreuten. Die Zwillinge Elfie und Hanne warfen sich einen vielsagenden Blick zu und rannten unter dem Gejohle der jungen Männer ins Wasser, wo sie mit Geplansche und geschickt inszenierten Drehungen ihre knappen Badeanzüge präsentierten. Vera blieb auf der Decke zurück und fühlte sich befangen und linkisch. Auch sie trug einen neuen Badeanzug aus schwarzem Baumwolljersey mit angeschnittenen Beinen und schmalen Trägern. Er entsprach der seltsamen Verordnung, nach der Bademode züchtig zu sein habe und das Höschen im Schritt zusätzlich mit einer Bandage vernäht sein musste. Dieser sogenannte Zwickelerlass hatte bei den Berlinern zu vielen Witzen geführt, doch wenn man die Regeln nicht befolgte, konnte man der Bäder verwiesen werden. Trotz der angeblichen Züchtigkeit war sich Vera ihrer langen schlanken Beine sehr bewusst, die allen Blicken zugänglich waren. Auf ihren Armen schimmerten die feinen blonden Härchen in der Sonne. Sie ließ sich auf die Decke sinken, schloss die Augen und lauschte träge auf das Plätschern des Kanals und das Rascheln der Blätter in der Linde über ihr. Als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel, schrak sie hoch. Wilhelm stand über ihr und schnitt ein dunkles Loch in den hellblauen Himmel.

«Grüß dich, Vera», sagte er. Sie fand, dass er befangen wirkte. Mit der...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2022
Reihe/Serie Die Lichterfelde-Reihe
Die Lichterfelde-Reihe
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Berlin • Emanzipation • Familie • Familienroman • Frau • Frauenschicksal • Fräulein Gold • Freundschaft • Geheimnis • Generation • Generationenroman • Geschenke für Frauen • Geschichte • Historische Romane • Judenverfolgung • Kunst • Künstler • Lichterfelde • Liebe • Nationalsozialismus • Nazi • Roman für Frauen • Saga • Schicksal • Villenkolonie
ISBN-10 3-644-00777-2 / 3644007772
ISBN-13 978-3-644-00777-2 / 9783644007772
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