Die vier Winde (eBook)
516 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2773-7 (ISBN)
'Von einer meisterhaften Erzählerin der Roman zur Zeit.' Delia Owens.
Texas, 1934: Seit der Weltwirtschaftskrise sind Hunderttausende arbeitslos, und in den Ebenen der Prärie herrscht Dürre - zu viel wurde gerodet, nach Missernten droht das Land von Sandstürmen davongetragen zu werden. In dieser unsicheren, gefahrvollen Zeit muss Elsa Martinelli eine schwere Entscheidung treffen: Soll sie um das Land kämpfen, das sie liebt und das die Heimat ihrer Familie ist? Oder soll sie mit ihren Kindern wie so viele andere nach Westen ziehen? Irgendwann bleibt Elsa keine Wahl mehr, doch die Flucht nach Kalifornien birgt neue Gefahren in sich. Aber auch die Hoffnung auf ein neues Leben - und eine neue Liebe ...
Ein fulminanter Roman, mit dem Weltbestsellerautorin Kristin Hannah an die Dramatik und die erzählerische Kraft von 'Die Nachtigall' anschließt.
'So elektrisierend wie hoffnungsvoll.' NEW YORK TIMES.
Kristin Hannah, geboren 1960 in Südkalifornien, arbeitete als Anwältin, bevor sie zu schreiben begann. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen weltweit und lebt mit ihrem Mann im Pazifischen Nordwesten der USA. Nach zahlreichen Bestsellern war es ihr Roman 'Die Nachtigall', der Millionen von Lesern in über vierzig Ländern begeisterte und zum Welterfolg wurde. Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Romane 'Die andere Schwester', 'Das Mädchen mit dem Schmetterling', 'Die Dinge, die wir aus Liebe tun' und 'Die Mädchen aus der Firefly Lane' vor. Gabriele Weber-Jari? lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Basson, Allison Pataki und Imogen Kealey ins Deutsche.
Kapitel 2
In den Tagen darauf blieb Elsa in ihrem Zimmer und erklärte, sie fühle sich nicht wohl. Die Wahrheit war, dass sie ihrem Vater nicht gegenübertreten wollte. Wie hätte sie ihm das Verlangen offenbaren können, das sich hinter ihrem abgeschnittenen Haar verbarg? Erst suchte sie Zuflucht bei ihren Romanfiguren, die ihr stets den Raum gegeben hatten, sich, zumindest in ihrer Phantasie, gleichermaßen stark, mutig und schön zu fühlen.
Doch diesmal war es, als flüsterte die rote Seide ihr unablässig ins Ohr, bis sie ihr Buch schließlich zur Seite legte und aus Zeitungspapier ein Schnittmuster für ein Kleid erstellte. Danach kam es ihr dumm vor, nicht auch den nächsten Schritt zu wagen, deshalb schnitt sie auch den Stoff zu und fing an zu nähen, nur um eine Beschäftigung zu haben.
Und während sie das tat, breitete sich in ihr ein Gefühl aus, das einfach nur beglückend war – Hoffnung.
Dann, am frühen Samstagabend, war das Kleid fertig. Es entsprach der neuesten Mode, wie man sie in den großen Städten trug, mit V-Ausschnitt, tief sitzender Taille und Taschentuchsaum. Ein gewagtes Kleid. So etwas trugen Frauen, die die Nächte durchtanzten und keine Sorgen kannten. »Flapper« wurden sie genannt. Junge Frauen, die ihre Freiheit zur Schau stellten, die Schnaps tranken, rauchten und in Kleidern tanzten, deren Säume die Beine bis zu den Knien freigaben.
Elsa beschloss, das Kleid wenigstens anzuprobieren, selbst wenn sie es niemals außerhalb ihres Zimmers tragen würde.
Sie nahm ein Bad, rasierte ihre Beine und zog Seidenstrümpfe an. Die feuchten Haarsträhnen wickelte sie jeweils um einen Finger, befestigte sie mit einer Haarklammer und betete, dass daraus so etwas wie Wellen wurden. Während das Haar trocknete, schlüpfte sie in das Zimmer ihrer Mutter und holte sich einige ihrer Schminkutensilien. Von unten drang Musik herauf, offenbar hatte jemand eine Schallplatte aufgelegt.
Wieder in ihrem Zimmer, bürstete sie ihr Haar aus, das sich tatsächlich leicht gewellt hatte, und setzte das glänzende Stirnband auf. Dann streifte sie das rote Kleid über, das sich wie eine zarte Liebkosung um ihren Körper legte. Sie begutachtete sich im Spiegel und staunte, wie schön der asymmetrisch fallende Saum ihre langen Beine zur Geltung brachte.
Sie führte ihr Gesicht dicht an den Spiegel heran, umrandete ihre Augen mit einem Kajalstift und puderte ihre vorspringenden Wangenknochen blassrosa. Dann trug sie roten Lippenstift auf, der ihre Lippen voller wirken ließ, genau wie es die Modemagazine versprachen.
Als sie sich danach im Spiegel betrachtete, dachte sie: Sieh einer an, beinahe könnte man mich hübsch nennen.
»Du kannst das«, sagte sie laut. Sei mutig.
Auf dem Weg nach unten fühlte sie ein neues Selbstvertrauen. Seit sie denken konnte, hatte es geheißen, sie sei unansehnlich. Doch das war sie gar nicht.
Ihre Eltern saßen im Salon. Bei ihrem Anblick stieß ihre Mutter Elsas Vater an.
Er ließ das Farm Journal sinken, drehte sich zu Elsa um und runzelte die Stirn. »Was hast du da an?«
»Das – das habe ich mir genäht.« Nervös krallte Elsa die Hände ineinander.
»Das ist ein Kleid für eine Hure. Und was ist mit deinen Haaren? Geh sofort in dein Zimmer und mach dir nicht noch mehr Schande.«
Hilfe suchend wandte Elsa sich ihrer Mutter zu. »Das ist die neueste Mode und – «
»Nicht für gottesfürchtige Frauen«, fiel ihre Mutter ein. »Man sieht deine Knie, Elsinore. Wir sind hier nicht in New York.«
»Verschwinde«, sagte Elsas Vater. »Sofort.«
Um ein Haar hätte Elsa gehorcht. Dann dachte sie an ihren Großvater. Er hätte nicht gewollt, dass sie nachgab.
Sie straffte ihre Schultern. »Ich werde heute Abend ausgehen. In die Speakeasy-Bar, wo Musik gespielt wird.«
»Das wirst du nicht.« Ihr Vater stand auf. »Ich verbiete es dir.«
Bevor der Mut sie verlassen konnte, stürzte Elsa aus dem Salon, lief über den Flur und riss die Haustür auf. Sie rannte über den Gartenweg und ignorierte die Stimme ihres Vaters, der ihr nachrief, sie solle sofort zurückkommen. Sie rannte, bis sie stehen bleiben musste, um Luft zu holen.
Das Speakeasy lag versteckt zwischen einer Bäckerei und der alten Pferdestation, die nun, im Zeitalter des Automobils, geschlossen war, Türen und Fenster mit Brettern vernagelt. Seit Beginn der Prohibition hatte Elsa sowohl Männer als auch Frauen durch die Tür der geheimen Bar verschwinden sehen. Und anders, als ihre Mutter meinte, waren viele der jungen Frauen wie sie gekleidet gewesen.
Elsa nahm die Stufen hinunter zu der Eingangstür und klopfte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, in ihm erschien ein Augenpaar. Es gehörte einem Mann. Die Augen wurden schmal, als würden sie Elsa taxieren. Klaviermusik und Zigarrenrauch drangen aus dem Spalt. »Kennwort?«
»Was für ein Kennwort?«
Der Mann lachte. »Haben Sie sich verlaufen, Miss Wolcott?«
Elsa erkannte die Stimme. »Nein, Frank, ich würde einfach gern Musik hören«, antwortete sie und war stolz, weil sie so ruhig blieb.
»Ihr alter Herr würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich Sie einlasse«, sagte Frank. »Gehen Sie nach Hause. Eine junge Frau wie Sie hat es nicht nötig, in so einem Kleid durch die Straßen zu laufen. Bringt nur Scherereien.«
Der Spalt schloss sich. Die Musik war nur noch gedämpft zu hören, und in der Luft blieb ein Hauch Zigarrenrauch zurück. »Ain’t We Got Fun« war der Song, der drinnen gespielt wurde.
Verwirrt wandte Elsa sich ab. Warum ließ man sie nicht ein? Zwar war es verboten, Alkohol zu trinken, doch in der Stadt gab es etliche Bars wie diese. Sie wurden gut besucht, und die Polizei drückte ein Auge zu.
Sie lief die Straße hinunter, ohne zu wissen, wohin.
Kurz vor dem Gerichtsgebäude kam ihr ein Mann entgegen.
Hochgewachsen und schlank war er, das dichte schwarze Haar hatte er versucht mit Pomade zu bändigen. Seine dunkle Hose saß eng auf den schmalen Hüften. Darüber trug er einen beigefarbenen Pullover. Im Ausschnitt des Pullovers waren ein weißer Hemdkragen und der Knoten einer Krawatte zu sehen. Die Ballonmütze aus Leder saß schief auf seinem Kopf.
Als er näher kam, erkannte Elsa, wie jung er noch war, höchstens achtzehn. Er war von der Sonne gebräunt und hatte braune Augen – Schlafzimmeraugen hätte man sie in einem ihrer Liebesromane genannt.
Er blieb stehen. »Guten Abend«, sagte er und nahm seine Mütze ab.
Elsa schluckte. »Meinen Sie mich?«
Er blickte sich um. »Sonst sehe ich hier niemanden. Raffaello Martinelli ist mein Name. Wohnen Sie hier in Dalhart?«
Ein Italiener, dachte Elsa. Ihr Vater würde ihr niemals erlauben, diesen jungen Mann auch nur anzusehen, geschweige denn mit ihm zu sprechen.
»Ja.«
»Ich nicht. Ich komme aus Lonesome Tree. Das ist die aufregende Metropole oben an der Grenze zu Oklahoma. Wenn Sie beim Vorbeifahren blinzeln, haben Sie sie verpasst. Wie heißen Sie?«
»Elsa Wolcott.«
»Wie die Firma für Landmaschinen? In dem Fall kenne ich Ihren Vater.« Martinelli lächelte. »Und was machen Sie hier so allein, Elsa Wolcott? In Ihrem schönen Kleid?«
Sei kühn, sei wie Fanny Hill. Vielleicht wäre dies ihre einzige Chance, einen unterhaltsamen Abend zu verbringen. Wenn sie wieder zu Hause war, würde ihr Vater sie wahrscheinlich einsperren. »Ich bin … einfach allein, fürchte ich.«
Martinellis Blick weitete sich. Dann schluckte er, Elsa sah seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen. Es schien ihr eine Ewigkeit zu vergehen, bis er antwortete.
»Ich bin auch allein.«
Er griff nach ihrer Hand.
Damit hatte Elsa nicht gerechnet. Um ein Haar hätte sie ihre Hand zurückgezogen.
Wann war sie zum letzten Mal berührt worden?
Es ist nur eine Hand auf deiner, Elsa, stell dich nicht an.
Martinelli sah besser aus als jeder andere Mann, dem Elsa bisher in ihrem Leben begegnet war. Sie fragte sich, ob er auch nett war – oder wie die Jungen früher in der Schule, die sie gehänselt, schikaniert und sich über sie lustig gemacht hatten. Blasses Mondlicht fiel auf sein Gesicht. Sie nahm seine hohen Wangenknochen wahr, die breite Stirn, die gerade Nase und die vollen Lippen.
»Komm mit, Els.«
Els. Der Name, den er ihr gab, veränderte etwas in ihr. Er drängte die Elsa, die sie kannte, in den Hintergrund. Und er schuf eine Intimität, die sie aufregend fand.
Der junge Mann führte sie durch eine dunkle Gasse, dann über die Straße. Aus den geöffneten Fenstern einer weiteren Speakeasy-Bar kam die Stimme von Al Jolson, der »Toot, Toot, Tootsie« sang.
Sie passierten den neuen Bahnhof. An einem kleinen Truck am Straßenrand blieb Martinelli stehen. Es war ein Ford TT, die Ladefläche mit einem Holzaufbau versehen.
»Ein schöner Wagen«, sagte Elsa.
»Den verdanken wir der guten Weizenernte, die wir hatten. Fährst du gern durch die Nacht?«
»Sehr gern.« Elsa kletterte auf den Beifahrersitz.
Er startete den Motor und fuhr in Richtung Norden, wobei sie von den Bewegungen des Wagens geschüttelt wurden. Dalhart war nur noch im Rückspiegel zu sehen.
Schon bald war vor ihnen nichts mehr zu erkennen, weder...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2021 |
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Übersetzer | Gabriele Weber-Jarić |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Four Winds |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 1930er • Delia Owens • Der Gesang der Flusskrebse • Die Nachtigall • Dreißiger Jahre • Familie • firefly lane • Flucht • Great Depression • Heimat • Immer für dich da • Kristin Hannah • Liebe • Umweltkatastrophe • Weltwirtschaftskrise |
ISBN-10 | 3-8412-2773-2 / 3841227732 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2773-7 / 9783841227737 |
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