Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte (eBook)
448 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45674-3 (ISBN)
Jeremy Dronfield, geboren 1965, ist Historiker und Archäologe. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit in Cambridge wandte er sich dem Schreiben zu. Er ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Sachbücher.
Jeremy Dronfield, geboren 1965, ist Historiker und Archäologe. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit in Cambridge wandte er sich dem Schreiben zu. Er ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Sachbücher. Ulrike Strerath-Bolz übersetzt seit mehr als 30 Jahren Sachbücher und Romane aus dem Englischen, Französischen und den skandinavischen Sprachen. Zu Autor*innen gehören u. a. Richard Rohr, Terry Eagleton und Mike Wiking, aber auch Barbara Erskine und Mary Higgins Clark.
1
»Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt …«
Gustav Kleinmanns schlanke Finger schoben den Stoff unter den Nähfuß, die Nadel ratterte und führte den Faden in einem langen, perfekten Bogen. Neben dem Arbeitstisch stand der Sessel, für den der Stoff bestimmt war, ein Skelett aus Buchenholz mit fester Verspannung und einem Polster aus Rosshaar. Als der Bezug fertig war, legte ihn Gustav über die Armlehne und nagelte ihn mit seinem kleinen Hammer fest: einfache Nägel für die Innenseite, Ziernägel mit runden Messingköpfen für außen, eng beieinander wie kleine Soldatenhelme. Tap-tapatap.
Es war gut, arbeiten zu können. Sein Verdienst reichte nicht immer für einen Mann mittleren Alters mit Ehefrau und vier Kindern. Gustav war ein begabter Handwerker, aber kein besonders gewiefter Geschäftsmann. Doch irgendwie waren sie immer über die Runden gekommen. Er war in einem kleinen Dorf an einem See in Galizien geboren, das zu jener Zeit zu Österreich gehörte (heute ist es auf Polen und die Ukraine aufgeteilt). Mit fünfzehn war er nach Wien gekommen, um eine Ausbildung als Polsterer zu machen, und hatte sich dort niedergelassen. Mit einundzwanzig war er zum Militär eingezogen worden, hatte im Weltkrieg gedient, war zweimal verwundet worden und hatte einen Tapferkeitsorden bekommen. Nach Kriegsende war er nach Wien zurückgekehrt, hatte sein bescheidenes Handwerk wieder aufgenommen und die Meisterprüfung gemacht. Seine Freundin Tini hatte er noch während des Krieges geheiratet, und gemeinsam hatten sie vier gute, fröhliche Kinder. So sah sein Leben aus: bescheiden, arbeitsam und wenn nicht rundum zufrieden, so doch meistens gut gelaunt.
Flugzeugdröhnen unterbrach seine Gedanken. Es schwoll an und ab, als würden die Maschinen über der Stadt kreisen. Neugierig geworden, legte Gustav sein Werkzeug hin und trat auf die Straße.
»Im Werd« war eine geschäftige Straße, in der ständig das Klappern von Pferdehufen und das Rumpeln von Wagenrädern zu hören waren. Es roch nach vielen Menschen, Rauch und Pferdeäpfeln. Einen verwirrenden Moment lang dachte Gustav, es würde schneien – im März! –, aber dann sah er, dass Papier vom Himmel regnete und sich auf dem Kopfsteinpflaster und den Ständen des Karmelitermarktes niederließ. Er hob ein Blatt auf.
Volk von Österreich!
Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Vaterlandes verlangt die Führung des Staates ein offenes Bekenntnis zur Heimat …[2]
Es ging um die Abstimmung an diesem Sonntag. Im ganzen Land redete man darüber, die gesamte Welt schaute auf Österreich. Es ging um viel, aber für Gustav, der Jude war, ging es um alles. Eine Volksabstimmung über die Frage, ob Österreich unabhängig bleiben sollte von der deutschen Tyrannei.
Seit fünf Jahren blickte das nationalsozialistische Deutschland gierig auf den österreichischen Nachbarn. Adolf Hitler, selbst gebürtiger Österreicher, war geradezu besessen von der Idee, sein Heimatland dem Deutschen Reich anzuschließen. Es gab durchaus österreichische Nazis, die diese Vereinigung eifrig unterstützten, aber die meisten Österreicher waren dagegen. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg stand unter starkem Druck, Mitglieder der nationalsozialistischen Partei in seine Regierung aufzunehmen. Hitler drohte mit heftigen Konsequenzen, wenn dies nicht geschah: Man werde Schuschnigg stürzen und durch einen Marionettenkanzler ersetzen, das Land ans Deutsche Reich anschließen und schlucken. Bei den hundertdreiundachtzigtausend österreichischen Juden löste diese Vorstellung Entsetzen aus.[3]
Die Welt beobachtete den Ausgang der Abstimmung mit regem Interesse. In einem letzten verzweifelten Akt hatte Schuschnigg sie angesetzt, um den Österreichern selbst die Entscheidung zu überlassen, ob sie die Unabhängigkeit behalten wollten. Ein mutiger Schachzug: Schuschniggs Vorgänger war bei einem fehlgeschlagenen nationalsozialistischen Staatsstreich ermordet worden, und Hitler versuchte alles, um die Volksbefragung zu verhindern. Sie war für Sonntag, den 13. März 1938 angesetzt.
Nationalistische Parolen wie »Ja zur Unabhängigkeit!« waren an allen Wänden und auf dem Straßenpflaster zu sehen. Und heute, zwei Tage vor der Abstimmung, ließen Flugzeuge Schuschniggs Propaganda vom Himmel regnen. Gustav las weiter.
Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich! Für Friede und Arbeit und die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen.
… die Welt soll unseren Lebenswillen sehen; darum, Volk von Österreich, stehe auf wie ein Mann und stimme mit Ja![4]
Für Juden enthielten diese eindringlichen Worte eine gemischte Botschaft. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen vom Deutschsein. Gustav war sehr stolz darauf, seinem Land im Weltkrieg gedient zu haben, er fühlte sich in erster Linie als Österreicher und erst dann als Jude.[5] Doch in Schuschniggs germanisch-christlichem Ideal kam er nicht vor. Auch Schuschniggs austrofaschistische Regierung betrachtete er mit Zurückhaltung. Er war Mitglied der Sozialdemokraten gewesen, die seit dem Aufstieg der Austrofaschisten 1934 ebenso unterdrückt und illegalisiert worden waren wie die Nationalsozialistische Partei.
Doch für die österreichischen Juden war im Moment alles besser als die offene Verfolgung, wie sie in Deutschland vor sich ging. Die jüdische Zeitung Die Stimme schrieb in ihrer aktuellen Ausgabe: »Wir unterstützen Österreich! Alle zu den Wahlurnen!«[6] Und auch die orthodoxe Zeitung Jüdische Presse schrieb: »Niemand muss die österreichischen Juden eigens auffordern, abzustimmen. Sie wissen, was dies bedeutet. Jeder muss seine Pflicht erfüllen!«[7]
Über geheime Kanäle hatte Hitler Schuschnigg gedroht, Deutschland würde Maßnahmen ergreifen, um die Abstimmung zu verhindern, wenn er sie nicht absagte. Und tatsächlich wurden in diesem Augenblick, als Gustav auf der Straße stand und das Flugblatt las, deutsche Truppen an der Grenze zusammengezogen.
Tini Kleinmann warf noch einen Blick in den Spiegel, strich ihren Mantel glatt, nahm ihre Einkaufstasche und ihren Geldbeutel und verließ die Wohnung. Ihre kleinen Absätze klackten auf den Stufen, dass es im Treppenhaus hallte. Als sie auf die Straße trat, sah sie Gustav vor seiner Werkstatt, die im Erdgeschoss des Hauses lag. Er hielt ein Flugblatt in der Hand, die ganze Straße war voll davon, sie hingen in den Bäumen, lagen auf den Dächern, überall. Als sie einen Blick darauf warf, schauderte sie. Tini hatte böse Vorahnungen, die der stets optimistische Gustav nicht teilte. Er war nicht besonders religiös, doch er rechnete immer mit einem guten Ausgang. Das war seine Stärke und Schwäche zugleich.
Mit raschen Schritten ging Tini über das Kopfsteinpflaster zum Markt. Viele Händler waren Bauern, die am Morgen in die Stadt kamen, um ihre Waren zu verkaufen, aber es gab auch Wiener Händler, etliche davon Juden. Mehr als die Hälfte der Geschäfte in der Stadt waren in jüdischem Besitz, gerade auch in dieser Gegend. Die Nazis betonten das immer wieder, um den Antisemitismus der Arbeiter zu schüren, die unter der Wirtschaftskrise litten – als würden die Juden nicht selbst darunter leiden.
Tini Kleinmann, um 1939
© Kurt Kleinmann
Gustav und Tini waren beide nicht sehr religiös. Ein paarmal im Jahr, zu hohen Fest- und Feiertagen, gingen sie in die Synagoge, aber ihre Kinder trugen deutsche Namen, wie es bei den meisten jüdischen Familien in Wien der Fall war. Trotzdem folgten sie den alten Bräuchen wie alle anderen. Tini kaufte beim Metzger Zeisel dünn geschnittene Kalbsschnitzel, aus denen sie Wiener Schnitzel machen würde. Die Abendsuppe am Sabbat würde sie mit Resten von Hühnerfleisch zubereiten. Sie kaufte frische Kartoffeln und Salat, Brot, Mehl, Eier, Butter … Auf ihrem Weg durch den geschäftigen Karmelitermarkt wurde ihre Tasche immer schwerer. An der Ecke zur Leopoldsgasse, der Hauptstraße, fielen ihr arbeitslose Putzfrauen ins Auge, die eine Anstellung suchten. Sie standen vor der Pension Klabouch und dem Kaffeehaus. Wenn sie Glück hatten, kamen wohlhabende Frauen aus den umliegenden Straßen vorbei und nahmen sie mit. Wer den Eimer mit Seifenwasser selbst mitbrachte, bekam einen Schilling Lohn, was einer heutigen Kaufkraft von zwei bis drei Euro entspricht. Tini und Gustav hatten manchmal Mühe, über die Runden zu kommen, aber so tief waren sie zum Glück noch nicht gesunken.
Überall las man die Pro-Unabhängigkeit-Slogans. Sie waren in großen Lettern aufs Straßenpflaster gemalt – »Wir sagen Ja!« Und überall sah man das Kruckenkreuz-Zeichen der Austrofaschisten. Aus offenen Fenstern ertönte laut patriotische Radiomusik. Tini beobachtete einen Lastwagenkonvoi mit uniformierten Jugendlichen, die rot-weiße Flaggen wehen ließen und noch mehr Flugblätter verteilten.[8] Ein paar Zuschauer jubelten ihnen zu, begrüßten sie mit flatternden Taschentüchern, warfen die Hüte in die Luft und riefen: »Österreich! Österreich!«
Es sah ganz so aus, als würde die Unabhängigkeit siegen … solange man die grimmigen Gesichter in der Menge nicht beachtete. Die Sympathisanten der Nazis waren heute sehr still. Und ihre Zahl war klein – sehr seltsam.
Plötzlich verstummte die fröhliche...
Erscheint lt. Verlag | 20.12.2019 |
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Übersetzer | Dr. Ulrike Strerath-Bolz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2. Weltkrieg Biografien • Auschwitz Buch • Auschwitz Überlebende • Biografie historisch • biografische Romane • Der Junge mit dem gestreiften Pyjama • Der letzte Überlebende • Der Tätowierer von Auschwitz • Drittes Reich Erzählungen • Erfahrungen und Schicksale • Fritz Kleinmann • Gustav Kleinmann • Heather Morris • Holocaust Biografien • Holocaust Bücher • Holocaust Gedenktag • Holocaust-Überlebende • John Boyne • Judenverfolgung Bücher • Konzentrationslager Buch • Konzentrationslager Überlebende • KZ Buchenwald • KZ Bücher • KZ Überlebende • Lebensgeschichten Bestseller • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • Nationalsozialismus • Nationalsozialismus Roman • Romane 2. Weltkrieg • Romane nach wahren Geschichten • Roman wahre Begebenheiten • Sam Pivnik • Schicksale • Schicksale Bücher • Schindlers Liste • Schoah • Tagebücher KZ • Tagebücher Zweiter Weltkrieg • wahre geschichten bücher • Zeitgeschichte 2. Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-45674-5 / 3426456745 |
ISBN-13 | 978-3-426-45674-3 / 9783426456743 |
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