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Patriot (eBook)

Spiegel-Bestseller
Meine Geschichte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
544 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492169-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Patriot -  Alexej Nawalny
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Die eindringliche und bewegende Autobiographie eines furchtlosen Oppositionsführers, der den höchsten Preis für seine Überzeugungen zahlen musste. Nawalny begann mit der Arbeit an PATRIOT im Jahr 2020, kurz nach dem Giftanschlag auf ihn. Es ist die umfassende Geschichte seines Lebens: seine Jugend, seine Berufung zum Aktivisten, seine Ehe und Familie sowie sein Einsatz für Demokratie und Freiheit in Russland angesichts einer Supermacht, die ihn unbedingt zum Schweigen bringen will. PATRIOT zeigt Nawalnys absolute Überzeugung: Der Wandel ist nicht aufzuhalten. Er wird kommen. Anschaulich und mit spannenden Details, einschließlich bislang unveröffentlichter Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, schildert Nawalny seinen politischen Werdegang, die zahlreichen Anschläge auf ihn und seine Vertrauten und die hartnäckigen Kampagnen, die er und sein Team gegen das zunehmend diktatorische Regime zu führen wagten. Nawalnys Witwe, Julija Nawalnaja, sagt: 'Dieses Buch ist nicht nur das Zeugnis von Alexejs Leben, sondern auch von seinem standhaften Kampf gegen die Diktatur - ein Kampf, für den er alles gab, einschließlich sein Leben. Die Leser werden den Mann kennenlernen, den ich zutiefst geliebt habe - einen Mann von umfassender Integrität und unbeugsamem Mut. Seine Geschichte wird nicht nur sein Andenken ehren, sondern auch andere Menschen inspirieren, sich für das Richtige einzusetzen und nie die Werte aus den Augen zu verlieren, die wirklich zählen.' Geschrieben mit der Leidenschaft, dem Esprit, der Aufrichtigkeit und dem Wagemut, für die er zu Recht bewundert wurde, ist PATRIOT Nawalnys Abschiedsbrief an die Welt: eine bewegende Darstellung seiner letzten Jahre, die er im brutalsten Gefängnis der Welt verbrachte, eine Mahnung, warum die Grundsätze der individuellen Freiheit so wichtig sind, und ein mitreißender Aufruf, das Werk fortzuführen, für das er sein Leben gab.

Alexej Nawalny war ein russischer Anti-Korruptions-Aktivist, Oppositionsführer und politischer Gefangener, der international Respekt und Anerkennung für seine Arbeit gefunden hat. Er erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, unter anderem den Sacharow-Preis für geistige Freiheit, den Menschenrechtspreis, den das Europäische Parlament jährlich verleiht. Er starb im Jahr 2024.

Alexej Nawalny war ein russischer Anti-Korruptions-Aktivist, Oppositionsführer und politischer Gefangener, der international Respekt und Anerkennung für seine Arbeit gefunden hat. Er erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, unter anderem den Sacharow-Preis für geistige Freiheit, den Menschenrechtspreis, den das Europäische Parlament jährlich verleiht. Er starb im Jahr 2024. Rita Gravert, Jahrgang 1989, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Spanische Philologie mit Lateinamerikanistik und Interdisziplinäre Lateinamerikastudien in  erlin. Sie übersetzt seit fünf Jahren Sachbücher und Jugendbücher aus dem Englischen und Spanischen, u.a. von Oliver Bullough, C.J. Daugherty, Florence de Changy, George Monbiot,  Drew Ramsay, Emma Southon, Marisa Reichardt und K. L. Walther. Norbert Juraschitz, Jahrgang 1963, studierte Osteuropäische Geschichte und Ostslavische Philologie in Tübingen. Er übersetzt seit über 30 Jahren historische und politische Sachbücher  u.a. von Frank Dikötter, Jung Chang, Noam Chomsky, Christopher Clark, Peter Frankopan, Katja Hoyer, Yaroslav Hrytsak, Parag Khanna, Julia Lovell, Kristina Spohr, Adam Tooze. Karin Schuler, geboren 1965, studierte Latein und Geschichte in Tübingen und Bonn. Sie übersetzt seit über 30 Jahren Sachbücher aus dem Englischen, u.a. John Barton, Howard French, Ivan Krastev, Ian Mortimer, Philippa Perry, Janina Ramirez, Ulinka Rublack, und Frank Trentmann.

Teil I Dem Tode nahe


Kapitel 1


Sterben tat wirklich nicht weh. Wenn es nicht mein letzter Atemzug gewesen wäre, hätte ich mich niemals neben der Flugzeugtoilette auf den Boden gelegt. Wie Sie sich vorstellen können, war er nicht unbedingt sauber.

Ich flog von Moskau ins sibirische Tomsk und war eigentlich ganz zufrieden. In zwei Wochen fanden Regionalwahlen statt, und meine Kollegen von der Stiftung für Korruptionsbekämpfung (russisch abgekürzt: FBK) und ich hatten die feste Absicht, der herrschenden Partei Einiges Russland in verschiedenen sibirischen Städten eine herbe Niederlage zu bereiten. Damit wollten wir die wichtige Botschaft aussenden, dass Wladimir Putin selbst nach zwanzig Jahren an der Macht nicht allmächtig und in jenem Teil Russlands noch nicht einmal besonders beliebt war – obwohl natürlich auch den Menschen dort von den Fernsehmoderatoren rund um die Uhr das Loblied auf den Führer der Nation vorgesungen wurde.

Seit mehreren Jahren schon durfte ich nicht mehr bei Wahlen antreten. Der Staat erkannte die politische Partei, die ich anführte, nicht an und hatte ihr kürzlich erst zum neunten Mal in acht Jahren die Registrierung verweigert. Irgendwie gelang es uns nie, »die Formulare korrekt auszufüllen«. In jenen überaus seltenen Fällen, in denen es dem einen oder der anderen von uns gelang, ihren Namen auf den Wahlzettel zu bekommen, griff man zu den absurdesten Vorwänden, um ihnen die Wählbarkeit abzusprechen. Unser Netzwerk – mit auf dem Höhepunkt nicht weniger als achtzig Regionalbüros eines der größten im Land und ständig den Angriffen des Staates ausgesetzt – stand daher vor der schizophrenen Herausforderung, Wahlen zu gewinnen, von denen es ausgeschlossen war.

In unserem autoritären Land, in dem es das Regime seit mehr als zwei Jahrzehnten zu seiner Priorität erklärt hat, dem Wahlvolk den Glauben einzuimpfen, dass es machtlos sei und nichts verändern könne, war es nie leicht, die Menschen dazu zu überreden, sich aufzuraffen und wählen zu gehen. Allerdings war ihr Einkommen sieben Jahre hintereinander gesunken. Wenn wir auch nur ein Drittel all derer, die genug von dem Regime hatten, in die Wahlkabinen locken könnten, hätte keiner von Putins Kandidaten eine Chance. Doch wie brachte man die Menschen zum Wählen? Durch Überredung? Indem man ihnen Belohnungen anbot? Wir entschieden uns dafür, die Leute richtig wütend zu machen.

In den letzten paar Jahren hatten meine Kollegen und ich eine nie endende Seifenoper über die Korruption in Russland gedreht. In jüngster Zeit war fast jede Folge zwischen drei und fünf Millionen Mal auf YouTube aufgerufen worden. Angesichts der Realitäten in Russland vernachlässigten wir von Anfang an den leisetreterischen journalistischen Ansatz mit seinen endlosen Einschränkungen – »angeblich«, »möglicherweise«, »mutmaßlich« –, die juristische Berater so lieben. Wir nannten einen Dieb einen Dieb, Korruption Korruption. Wenn jemand ein riesiges Anwesen besaß, sagten wir das nicht nur, sondern filmten es auch mit Drohnen und zeigten den Besitz in all seiner Pracht. Außerdem brachten wir seinen Wert in Erfahrung und glichen ihn mit dem bescheidenen Einkommen ab, das der Funktionär, dem es gehörte, offiziell angab.

Man kann sich alle möglichen theoretischen Gedanken über Korruption machen, doch mir war ein direkterer Ansatz lieber – indem ich etwa die Hochzeitsfotos des Pressesprechers des Präsidenten unter die Lupe nahm und mich beim Moment, als er die Braut küsst, auf die spektakuläre Uhr konzentrierte, die unter seiner Manschette hervorblitzte. Von einem Schweizer Anbieter ließen wir uns bestätigen, dass die Uhr 620000 Dollar kostet, und enthüllten das den Bürgern unseres Landes, von denen ein Fünftel unter der Armutsgrenze von 160 Dollar im Monat lebt, die man eigentlich besser als Elendsgrenze bezeichnen müsste. Und nachdem wir unsere Zuschauer ausreichend mit der Schamlosigkeit des korrupten Funktionärsapparats in Rage gebracht hatten, verwiesen wir sie auf eine Website, auf der aufgelistet war, wen sie in ihrer Region wählen sollten, wenn sie das Luxusleben ihrer Bürokraten nicht länger bezahlen wollten.

Es funktionierte.

Mit Bildern aus dem Leben der »bescheidenen Patrioten, die unser Land regieren« unterhielten wir unsere Zuschauer und entfachten gleichzeitig ihre Wut. Wir erklärten die Mechanismen der Korruption und forderten praktisches Handeln, um Putins System maximal zu schaden. Das Material ging uns nie aus.

Beim Blick aus dem Flugzeugfenster dachte ich darüber nach, dass wir jetzt genug Bildmaterial hatten, um zwei oder drei YouTube-Videos über die Korruption in sibirischen Städten hochzuladen. Mehrere Millionen Menschen würden sie sehen, mehrere hunderttausend in Nowosibirsk und Tomsk würden sie nicht nur anschauen, sondern sich auch so darüber aufregen, dass sie unserem Aufruf, zur Wahl zu gehen und gegen die Kandidaten der Putin-Partei zu stimmen, folgen würden.

Ich musste grinsen, als ich daran dachte, wie die staatlichen Behörden, die wussten, was wir vorhatten, versuchten, unseren Plan zu sabotieren. Für Beamte auf allen Ebenen waren meine Reisen quer durch Russland ein rotes Tuch. Sie betrachteten meine Besuche als eine Bedrohung und dachten sich endlose Strafanzeigen aus, um meine Rundreisen im Land zu behindern; ein Angeklagter in einem Strafprozess darf sich nicht allzu weit von seinem Wohnort entfernen. Seit 2012 hatte ich ein Jahr unter Hausarrest verbracht und mehrere weitere unter der gerichtlichen Verfügung, Moskau nicht verlassen zu dürfen.

Zwei Monate zuvor war auf Veranlassung des staatlich kontrollierten Propagandakanals Russia Today ein weiterer lächerlicher Prozess mit dem Vorwurf der »Beleidigung eines Kriegsveteranen« gegen mich eröffnet worden. Damit ging wieder die Anordnung einher, Moskau nicht zu verlassen. In meinen Augen war diese Beschränkung illegal, also ignorierte ich sie und flog zu dieser letzten Recherchereise nach Sibirien. Meine Kollegen und ich brachten Hunderte Gigabyte Filmmaterial von dort zurück, darunter Interviews mit der lokalen Opposition und ein Video über die Residenz eines regierungstreuen Parlamentsabgeordneten auf einer Privatinsel. Das Material war verschlüsselt auf den Server geladen worden und wartete darauf, geschnitten zu werden.

Ich freute mich auf die Chance, Einiges Russland in Tomsk zu besiegen und ihm in Nowosibirsk zumindest eine blutige Nase zu verpassen. Es war ein befriedigender Gedanke, dass wir trotz der zunehmenden Einschüchterungsversuche – in den letzten beiden Jahren waren unsere Büros mehr als dreihundertmal durchsucht worden von Menschen mit schwarzen Masken, die Türen aus den Rahmen sägten, alles durchwühlten und Telefone und Computer beschlagnahmten – nur stärker geworden waren. Je mehr ich mich darüber freute, desto mehr ärgerten sich natürlich der Kreml und Putin persönlich. Das provozierte ihn wahrscheinlich zu dem Befehl, »aktive Maßnahmen zu ergreifen«. Diesen Ausdruck verwenden Offiziere des Geheimdienstes (früher der KGB, heute der FSB) gewöhnlich in ihren Memoiren. Man beseitigt das Problem, indem man die Person beseitigt.

Im ganz normalen Leben können alle möglichen schlimmen Dinge passieren. Womöglich wird man von einem Tiger gefressen. Ein Angehöriger eines feindlichen Stammes rammt einem eine Lanze in den Rücken. Man amputiert sich versehentlich einen Finger, weil man seiner Partnerin seine Kochkünste vorführen will, oder verliert ein Bein, weil man unachtsam mit der Kettensäge hantiert. Vielleicht fällt einem ein Ziegelstein auf den Kopf oder man stürzt aus dem Fenster. Und dann sind da noch all die Herzinfarkte und anderen Tragödien, furchtbar, aber nicht unbedingt überraschend.

Ich hoffe, dass nur sehr wenige meiner Leserinnen und Leser von Lanzen durchbohrt werden oder aus dem Fenster fallen, doch man kann sich leicht vorstellen, wie sich das anfühlen würde. Unsere Lebenserfahrung und unsere Beobachtung anderer Menschen versetzen uns in die Lage, solche Empfindungen lebhaft nachvollziehen zu können. Das dachte ich jedenfalls, bevor ich in jenes Flugzeug stieg.

 

Aus Rücksicht auf die Konventionen der Detektivgeschichte werde ich versuchen, alles, was an jenem Tag geschah, so genau wie möglich zu schildern – nach dem altehrwürdigen Prinzip, dass selbst das winzigste Detail den Schlüssel zur Lösung des Rätsels liefern könnte.

Wir schreiben den 20. August 2020. Ich liege im Bett in meinem Hotelzimmer in Tomsk. Der Wecker klingelt um halb sechs Uhr morgens. Ich bin sofort wach und gehe ins Bad. Ich dusche. Ich rasiere mich nicht. Ich putze mir die Zähne. Der Deoroller ist leer. Ich reibe mit der trockenen Plastikkugel über meine Achselhöhlen, bevor ich den Roller in den Mülleimer werfe, wo ihn ein paar Stunden später meine Kollegen finden werden, als sie mein Zimmer durchsuchen. Ich wickle mich in das größte Handtuch, das im Badezimmer hängt, gehe zurück ins Zimmer und überlege, was ich anziehen soll. Ich brauche Unterwäsche, Socken, ein T-Shirt. Weil ich einer von denen bin, die in eine leichte Benommenheit verfallen, wenn sie Klamotten aussuchen müssen, starre ich für vielleicht zehn Sekunden auf die Dinge in meinem offenen Koffer.

Ein etwas peinlicher Gedanke kommt mir in den Sinn. Kann ich das T-Shirt von gestern noch einmal anziehen? Schließlich werde ich in fünf Stunden zu...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2024
Übersetzer Rita Gravert, Norbert Juraschitz, Karin Schuler
Zusatzinfo 16 Seiten Tafelteil mit 38 farbigen Abbildungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anti-Korruption • Autobiografie • Demokratie • Freiheit • Freiheitskampf • fsb • Giftmord • Julija Nawalnaja • Kampf gegen Diktatur • Kreml • Menschenrechte • Moskau • Oppositionsführer • Oppositions-Führer • Politischer Gefangener • Putins Netz • Russland • Sacharow-Preis • Sibirien • Straflager • Widerstand • Wladimir Putin
ISBN-10 3-10-492169-5 / 3104921695
ISBN-13 978-3-10-492169-3 / 9783104921693
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