C. J. Sansom, geboren 1952 in Edinburgh, zählt in England zu den erfolgreichsten historischen Romanciers. Sansom studierte an der University of Birmingham und arbeitete unter anderem als Rechtsanwalt für Benachteiligte, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Bekannt wurde er mit der international erfolgreichen »Shardlake«-Serie. »Winter in Madrid« wurde von Kritik und Publikum gleichermaßen als Meisterwerk klassischer Erzählkunst gefeiert. Sansom lebt in Sussex.
Prolog
Im Sitzungszimmer des Kabinetts, 10 Downing Street,
London, 16.30 Uhr, 9. Mai 1940
Churchill kam als Letzter. Er klopfte einmal laut an und trat ein. Durch die hohen Fenster fiel das letzte Licht des warmen Frühlingstages, an der Horse Guards Parade wurden die Schatten länger. Margesson, der konservative Chief Whip, saß mit Premierminister Chamberlain und Lord Halifax, dem Außenminister, am Ende des langen, sargförmigen Tisches, der den Raum beherrschte. Churchill trat näher, und Margesson, wie immer formell im schwarzen Cutaway, erhob sich.
»Winston.«
Churchill antwortete mit einem Nicken und sah ihn ernst an. Margesson, Chamberlains Zögling, hatte ihm das Leben schwer gemacht, als er sich in den Vorkriegsjahren gegen die Haltung der Partei im Zusammenhang mit Indien und Deutschland ausgesprochen hatte. Er wandte sich Chamberlain und Halifax zu, der rechten Hand des Premierministers in den Appeasement-Verhandlungen mit Deutschland. »Neville. Edward.« Die Männer sahen schlecht aus; keine Spur heute von Chamberlains üblichem Grinsen noch von der bissigen Arroganz, mit der er das Unterhaus in der gestrigen Debatte über den militärischen Sieg in Norwegen vor den Kopf gestoßen hatte. Neunzig Konservative hatten mit der Opposition gestimmt oder sich enthalten; als Chamberlain daraufhin den Sitzungssaal verließ, wurde ihm »Verschwinde!« hinterhergerufen. Die Augen des Premierministers waren gerötet vom Schlafmangel, vielleicht auch von Tränen – obwohl man sich Neville Chamberlain weinend nur schwer vorstellen konnte.
Gestern Abend hatte es im fieberhaft aufgewühlten Unterhaus geheißen, seine Regierung würde es nicht überleben.
Halifax sah nicht viel besser aus. Zwar hielt sich der hochgewachsene, schlanke Außenminister so aufrecht wie immer, aber er war kreidebleich, seine fahle Haut spannte über dem langen, knochigen Gesicht. Es hieß, er sei nicht bereit, das Amt zu übernehmen, er habe nicht die Nerven dafür – was wörtlich zu nehmen war, denn Stress verursachte ihm quälende Bauchschmerzen.
Churchill wandte sich an Chamberlain, seine tiefe Stimme klang düster, sein Lispeln ausgeprägt. »Was gibt es Neues?«
»Weitere deutsche Streitkräfte, die sich an der belgischen Grenze sammeln. Es könnte jederzeit einen Angriff geben.«
Einen Augenblick war es still, das Ticken der Reiseuhr auf dem marmornen Kaminsims wirkte plötzlich laut.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Chamberlain.
Churchill setzte sich. Chamberlain fuhr zu sprechen fort, es klang leise und traurig. »Wir haben die gestrige Abstimmung im Unterhaus sehr ausführlich diskutiert. Es scheint, als ob es ernsthafte Schwierigkeiten geben könnte, falls ich Premierminister bleibe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, wenn ich gehe. Meine Unterstützung in der Partei bröckelt weg. Sollte es zu einem Misstrauensvotum kommen, könnten die Enthaltungen von gestern zu Gegenstimmen gegen die Regierung werden. Und die Labour-Partei wäre offenbar nur unter einem neuen Premier zu einer Koalition bereit. Angesichts einer derartigen persönlichen Aversion ist es unmöglich für mich weiterzumachen.« Wieder sah Chamberlain Margesson an, fast schien es, als suche er Trost bei ihm, aber der Chief Whip nickte nur resigniert und sagte: »Wenn wir eine Koalition wollen, und die brauchen wir jetzt, dann ist Einigkeit oberstes Gebot.«
Churchill sah Chamberlain an und konnte nicht anders, als ihn zu bedauern. Der Mann hatte alles verloren. Zwei Jahre lang hatte er versucht, Hitlers Wünschen entgegenzukommen. Er hatte geglaubt, der Führer habe in München seine letzten Gebietsansprüche gestellt, nur um ein paar Monate später mit ansehen zu müssen, wie er die Tschechoslowakei überfiel und kurz darauf Polen. Auf den Fall Polens waren sieben Monate militärischen Stillhaltens gefolgt, der sogenannte Sitzkrieg. Vorigen Monat hatte Chamberlain im Unterhaus verkündet, Hitler habe für eine Frühjahrskampagne »den Bus verpasst«, worauf dieser prompt in Norwegen einmarschiert war und die britischen Streitkräfte zurückgedrängt hatte. Als Nächstes würde Frankreich folgen. Chamberlain blickte von Churchill zu Halifax, dann sprach er mit ausdrucksloser Stimme weiter. »Es liegt jetzt an Ihnen beiden. Falls gewünscht, wäre ich bereit, unter jedem von Ihnen zu dienen.«
Churchill nickte und lehnte sich im Sessel zurück. Er sah Halifax an, der seinen Blick mit kaltem, forschendem Starren erwiderte. Churchill wusste, dass Halifax fast alle Trumpfkarten in der Hand hielt und der überwiegende Teil der Konservativen ihn als nächsten Premierminister wollte. Er war Vizekönig von Indien gewesen, jahrelang einer der höchsten Minister, ein kühler, zuverlässiger olympischer Aristokrat, vertrauenswürdig und hochgeachtet. Und die meisten Tories hatten Churchill seine Vergangenheit als Liberaler noch nicht verziehen, ebenso wenig wie die Opposition in seiner eigenen Partei die Sache mit Deutschland. Sie hielten ihn für einen Abenteurer, unzuverlässig, nicht urteilsfähig. Chamberlain wollte Halifax, genau wie Margesson und die Mehrheit des Kabinetts. Und, das war Churchill ebenfalls klar, genau wie auch Halifax’ Freund, der König. Aber Halifax hatte kein Feuer unterm Hintern, nicht den kleinsten Funken. Churchill hasste Hitler. Halifax hingegen behandelte den Naziführer mit einer Art patrizierhaften Verachtung. Er hatte einst gesagt, die einzigen Menschen, denen der Führer das Leben schwer mache, seien doch nur ein paar Gewerkschaftler und die Juden.
Churchill andererseits bekam, seit im letzten September der Krieg erklärt worden war, Rückenwind aus der Bevölkerung. Als sich seine Warnungen über Hitler als richtig erwiesen hatten, war Chamberlain gezwungen gewesen, ihn ins Kabinett zurückzuholen. Aber wie sollte er diese Karte ausspielen? Churchill ließ sich tiefer in den Sessel sinken. Nichts sagen, dachte er, erst mal sehen, wo Halifax steht, ob er den Job überhaupt will und wie sehr.
»Winston«, fing Chamberlain an, es klang fragend. »Sie waren gestern in der Debatte ziemlich ruppig gegenüber Labour. Und Sie sind immer deren stärkster Gegner gewesen. Wäre das nicht vielleicht ein Hindernis für Sie?«
Churchill erwiderte nichts, sondern stand abrupt auf, ging hinüber zum Fenster und blickte hinaus in den hellen Frühlingsnachmittag. Nicht antworten, dachte er. Erst mal Halifax aushorchen.
Die Reiseuhr schlug fünf, mit hohem, melodischem Ton. Sie verstummte, jetzt meldete sich Big Ben und schlug dröhnend die Stunde. Als der letzte Ton verklungen war, sprach Halifax schließlich.
»Ich glaube«, sagte er, »dass ich besser geeignet wäre, mit den Abgeordneten von Labour fertigzuwerden.«
Churchill wandte sich um und sah ihn mit düsterem Gesichtsausdruck an. »Die Verhandlungen, die Ihnen bevorstehen, Edward, dürften grauenvoll schwierig werden.« Halifax sah müde und furchtbar unglücklich aus, trotzdem wirkte sein Gesicht entschlossen. Er hatte doch noch so etwas wie einen eisernen Willen in sich entdeckt.
»Und das, Winston, ist genau der Grund, warum ich Sie an meiner Seite haben möchte, in einem neuen, kleineren Kriegskabinett. Sie wären Verteidigungsminister, mit unumschränkter Verantwortung für die Kriegsführung.«
Churchill dachte über das Angebot nach, sein schwerer Unterkiefer bewegte sich mahlend von einer Seite zur anderen. Wenn er die Kriegsführung unter sich hatte, könnte er Halifax vielleicht dominieren und selbst als Premier handeln, bis auf den Titel. Es hing alles davon ab, wen Halifax sonst noch ins Boot holen würde. Er fragte: »Und die anderen? Wen würden Sie noch ernennen?«
»Von den Konservativen gäbe es also Sie und mich und Sam Hoare; ich glaube, damit wäre das Gleichgewicht in der Partei am besten repräsentiert. Attlee für Labour und Lloyd George, um die Interessen der Liberalen zu vertreten und auch als national anerkannte Persönlichkeit, schließlich ist er derjenige, der uns 1918 zum Sieg geführt hat.« Halifax wandte sich an Chamberlain. »Ich glaube, Sie, Neville, wären als Führer der Commons von größtem Nutzen.«
Das war eine schlechte Nachricht, die schlechteste von allen. Lloyd George hatte, trotz seines Zurückruderns in letzter Zeit, Hitler in den Dreißigerjahren vergöttert und ihn Deutschlands George Washington genannt. Und dazu Sam Hoare, der Erzbeschwichtiger, Churchills alter Feind. Attlee war ein Kämpfer, trotz seines mangelnden Selbstvertrauens, aber zusammen wären sie die Minderheit.
»Lloyd George ist siebenundsiebzig«, sagte Churchill. »Kann man ihm diese Bürde noch zumuten?«
»Ich glaube schon. Und er wäre gut für die Moral.« Halifax klang jetzt schon wesentlich entschlossener. »Winston«, sagte er, »ich würde Sie unter diesen Umständen wirklich gern an meiner Seite haben.«
Churchill zögerte. Dieses neue Kriegskabinett würde ihn einengen. Er wusste, dass Halifax das Amt des Premierministers nur widerwillig und aus Pflichtgefühl angenommen hatte. Er würde sein Bestes geben, aber er würde sich nicht mit ganzem Herzen in den Kampf werfen, der ihnen bevorstand. Wie so viele hatte auch er im Großen Krieg...
Erscheint lt. Verlag | 13.1.2020 |
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Übersetzer | Christine Naegele |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dominion |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Agententhriller • eBooks • Historische Kriminalromane • Krimi • Kriminalromane • Krimis • London • Robert Harris • Roman • Romane • Thriller • Widerstand • Winston Churchill • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-22487-X / 364122487X |
ISBN-13 | 978-3-641-22487-5 / 9783641224875 |
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