Rheinsberg. Schloß Gripsholm (eBook)
212 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-75890-7 (ISBN)
<p>Kurt Tucholsky, geboren 1890 in Berlin, studierte Jura in Berlin, Jena und Genf. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift <em>Die Weltbühne</em> zählt er zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Romancier und Lyriker. 1929 ging er nach Schweden, wo er sich 1935 das Leben nahm.</p>
Seinen eigentlichen Anfang nahm das Abenteuer erst, als sie in Löwenberg ausstiegen. Der D-Zug ruhte lang und dunkel in der Halle unter dem Holzdach – sie durchschritten einen Tunnel, oben, in hellem Sonnenlicht, stand die Kleinbahn, wie aus Holz gefügt, steif und verspielt.
Sie stiegen ein.
»Claire?«
»Wolfgang?«
»Diese Bahn scheint noch lange hier zu stehen ... machen wir einen kleinen Spaziergang?«
»Setz dich hin und falte die Hände! Sie geht gleich ab.«
Der Zug ruckte und ruckelte sich gemächlich durch Salatgärten, Hofmauern. Der Horizont flimmerte blendend weiß ... War es eine Schönheit, diese Landschaft? – Nein: da standen Baumgruppen, durch nichts ausgezeichnet, das Land wurde wellig in der Ferne, versteckte ein Wäldchen und zeigte ein anderes – man freute sich im Grunde, daß alles da war ... Das Maschinchen schnob und klingelte zornig, durch den staubigen Rauch hindurch klingelte es melodisch, wie eine läutende Kirchturmglocke bei Sturm.
»Wolf, den Reiseführer!«
Sie hatten ihn im D-Zug liegenlassen – er hatte ihn im D-Zug liegenlassen.
Sie hielten, mitten im Walde, auf der Strecke. Die Köpfe heraus; die Beamten waren zurückgelaufen, hatten Schaufeln mitgenommen: die Lokomotive mußte Funken ausgeworfen haben, ein kleiner Brand war entstanden ...
»Ich will mitlöschen!«
Er kugelte den sandigen Abhang herunter; die Reisenden lachten. Oben stand Claire und verdrehte die Augen.
»Du mußt ja ...!«
Er kam zurück, ganz bestaubt, lächelnd, glücklich. Er hatte sich wieder einmal betätigt. Die Beamten kamen, stiegen auf, der Zug ruckte an ...
»Eigentlich ...«
»Na?«
»Ich finde es heiter, denk mal, mein Papa und meine Mama sitzen jetzt im Kontor, fahren in der Stadt herum und glauben ihr Töchterchen wohlgeborgen im Schoße der treusorgenden Freundin. Hingegen ...«
»Hingegen ...?«
»Na, ja, treusorgen sorgst du ja für mich ...«
Der Jäger nebenan hatte schon lange in sich hineingelacht. Er saß da, grün, bepackt, schwer und braungebrannt. Man hatte, wenn man ihn sah, die Empfindung von ganz frühen, feuchten Morgen, ein Mann tappt durch den halbdunklen Wald, es riecht kräftig und gut ... Das kleine, runde Loch der Büchse guckte unheilverkündend, schwarz und dunkel in die Luft: kleine Kugeln werden herausfliegen, das Reh, auf das es morgen gerichtet wird, lief vielleicht jetzt gerade mit seinen Gefährten zur Quelle, trank und war zierlich im Walde verschwunden ... Der Jäger stand auf, stopfte sich eine Pfeife und sagte beim Herausgehen: »Schonzeit, junger Mann, Schonzeit!« – und trampfte lachend davon.
Das Coupé war erfüllt von ihrem Schreien, das die rumpelnden und klirrenden Geräusche übertönen sollte.
Man verständigte sich nur schwer :
»... Sonne weit über das Land ...«
»... wie? Sonne reit über das Land? ...«
»... nein ... Sonne weeiit ... Land ... Seh mal: ’ne Akazie! ’ne blühende Akazie, lauter blühende Akazien!«
»Is gar keine, is ’ne Magnolie!«
»Hach! Also wer weiß denn von uns beiden in der Botanik Bescheid? Ich oder ich?«
»’ne Magnolie is es.«
»Meine Liebe, ich müßte bedauern, es mit einem kräftig geführten Schlag gegen Sie nicht bewenden lassen zu können. Alle Wesensmerkmale der Akazie deuten auch bei diesen Bäumen auf eine solche hin.«
»Is aber ’ne Magnolie.«
»Herr Gott, Claire! Siehst du denn nicht diese typisch ovalen Blätter, die weißen, kleinen traubenförmigen Blütenstiele! – Mädchen!«
»Aber ... Wölfchen ... wo es doch ’ne Magnolie is ...«
Sie erstickte in Küssen.
Dann galt es noch eine Bauersfrau nachzuahmen, die auf der letzten Station hochgeschürzt und breitbeinig stehengeblieben war, um sich vermittels ihres zweiten Unterrocks zu schneuzen. Claire erwies sich hierbei als geschickt und brauchbar.
Endlich kamen sie aber doch an.
Es zeigte sich, daß das Hotel, das sich schon durch einen Anschlag im Zuge als altbekannt und mit einer gepflegten Küche versehen gepriesen hatte, durch einen Wagen, zwei Pferde und einen Bediensteten vertreten war. Dieser Mann mußte die Gepäckstücke holen, die man in Berlin sorgfältig aufgegeben hatte: zwei winzig kleine Köfferchen. Sie wurden verladen; die Reisenden stiegen ein. Sie rutschten auf den schwarzen, hier und da ein wenig aufgeplatzten Wachstuchkissen der Sitze herum; die Fenster klirrten, die beiden machten sich durch weitausladende Handbewegungen verständlich. Der Wagen war leer, die Chaussee staubig und öde. Einige hundert Meter saßen sie manierlich, aber schon an der Ecke, die das Anwesen des Gütlers Johannes Lauterbach und das der Post bilden, lagen sie in lautem Hader, wessen Koffer durch seine Kleinheit am meisten Verdacht erregen werde. Sie nannten diese Reisegegenstände »Segelschweine«, und die Claire rang die Hände, Wolf sei ein Schandfleck. Sie, ihrerseits, wahre das Dekorum. Sie schwatzten fortwährend, die Claire am heftigsten. Ihr Deutsch war ein wenig aus der Art geschlagen. Sie hatte sich da eine Sprache zurechtgemacht, die im Prinzip an das Idiom erinnerte, in dem kleine Kinder ihre ersten lautlichen Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen suchen; sie wirbelte die Worte so lange herum, bis sie halb unkenntlich geworden waren, ließ hier ein »T« aus, fügte da ein »S« ein, vertauschte alle Artikel, und man wußte nie, ob es ihr beliebte, sich über die Unzulänglichkeit einer Phrase oder über die andern lustig zu machen. Daß sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend. Sie spielte immer, gab stets irgendeiner lebenden oder erdachten Gestalt für einige Augenblicke Wirklichkeit ...
Der Wagen hielt. Während sie ausstiegen:
»Paß auf, Frauchen, wo ist der Koffer mit dem falschen Geld? – Ah da ...«
Der Hausknecht ließ den Mund weit offen stehen, sperrte die Augen auf ...
Freundlich geleitete sie der alte Wirt in ein Zimmer des ersten Stockwerks. Es war kahl, einfach, blumig tapeziert. Holzbetten standen darin, ein großer Waschtisch, eine Vase mit einem künstlichen Blumenstrauß – an der Wand hingen zwei Pendants: ›Eroberung Englands durch die Normannen‹, und in gleichartigem Rahmen und symmetrisch aufgehängt ›Großpapachens 70. Geburtstag‹. Die Tür schloß sich, sie waren allein.
»Claire?«
»Wolfgang?«
»Jetzt weiß ich nicht, sollte ich den Kofferschlüssel zu Hause vergessen haben ...?«
»My honey-suckle«, und sie drückte ihm einen heftigen Kuß auf den Mund, während ihr Gesicht rachsüchtig und boshaft erglänzte, und stieß ihn von sich:
»Och, der kleine Jungchen muß ja alles vergess – psch, psch, psch ...« Und man wußte nicht, ob diese Töne eine wiegende Mutter nachahmten oder ganz etwas anderes.
»Pack aus, mein Hulle-Pulle!« –
Schwer seufzend packten sie aus, räumten ein.
»Ja, ich bin nu so weit. Jetzt frisiere ich mich, un denn gehe ich spaziers. Un du?«
»Das überlasse du nur mir; es wird dir dann seinerzeit das Nötige mitgeteilt werden.«
Der Stil war im großen und ganzen einheitlich verzerrt. Sie sagten sich häufig Dinge, die nicht recht zueinander paßten, nur um diese oder jene Redewendung anbringen zu können, den andern zu irritieren, sein Gleichgewicht zu erschüttern ... Sie gingen herunter ...
Da war der Marktplatz, der mit alten, sehr niedrigen Bäumen bepflanzt war, schattig und still lag er da. Sie schritten durch ein schmiedeeisernes Tor in den Park. Hier war es ruhig. In dem einfachen weißen Bau des Schlosses klopfte ein Handwerker. Sie gingen durch den Hof wieder in den Park, wieder in die Stille ...
Noch brausten und dröhnten in ihnen die Geräusche der großen Stadt, der Straßenbahnen, Gespräche waren noch nicht verhallt, der Lärm der Herfahrt ... der Lärm ihres täglichen Lebens, den sie nicht mehr hörten, den die Nerven aber doch zu überwinden hatten, der eine bestimmte Menge Lebensenergie wegnahm, ohne daß man es merkte ... Aber hier war es nun still, die Ruhe wirkte lähmend, wie wenn ein regelmäßiges, langgewohntes Geräusch plötzlich abgestellt wird. Lange sprachen sie nicht, ließen sich beruhigen von den schattigen Wegen, der stillen Fläche des Sees, den Bäumen ... Wie alle Großstädter bewunderten sie maßlos einen einfachen Strauch, überschätzten seine Schönheit, und ohne das Praktische aller sie umgebenden ländlichen Verhältnisse zu ahnen, sahen sie die Dinge vielleicht ebenso einseitig an wie der Bauer – nur von der anderen Seite. Nun, hier in Rheinsberg erforderten die Gegenstände nicht allzuviel praktische Kenntnis, man war ja nicht auf einem Gut, das bewirtschaftet werden sollte. – Sie kamen an den Rand eines zweiten Sees, an eine Bank. Stille ...
»Wolfgang?«
»Claire?«
»Glaubssu, daß es hier Bärens gibs? Eine alte Tante von mir is beinah mal von einem ...«
»... von einem Bären zerrissen worden?«
»Nein.« Sie war ganz empört. »Habe ich das gesagt? – Ich meinte nur ... Aber, du – beschützs mich doch, ja?«
»Ich schwöre dir ...«
»Hm.«
Wieder war es sehr still. Die Claire saß da und sah sehr bestimmt in das schmutzig-grüne Wasser.
»Also paß mal auf. Warum ist hier nicht überall der zweite Friedrich? So wie er in Sanssouci überall ist. Auf jedem geharkten Weg, an jedem Boskett, hinter jeder...
Erscheint lt. Verlag | 10.11.2014 |
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Nachwort | Marcel Reich-Ranicki |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 50plus • Best Ager • Erzählungen • Generation Gold • Geschichte • Goethe-Preis 2002 • Golden Ager • Goldene Kamera 2000 • Gripsholm • Hölderlin-Preis 2000 • insel taschenbuch 4518 • IT 4518 • IT4518 • Ludwig-Börne-Medaille 2010 • Rentner • Rentnerdasein • Rheinsberg • Rheinsberg Geschichte • Rheinsberg, Geschichte • Romane • Ruhestand • Schloss • Senioren |
ISBN-10 | 3-458-75890-9 / 3458758909 |
ISBN-13 | 978-3-458-75890-7 / 9783458758907 |
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