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Lichtungen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12285-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lichtungen -  Iris Wolff
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Zwischen Lev und Kato besteht seit ihren Kindertagen eine besondere Verbindung. Doch die Öffnung der europäischen Grenzen weitet ihre Lebensentwürfe und verändert ihre Beziehung für immer. Voller Schönheit und Hingabe erzählt Iris Wolff in ihrem großen neuen Roman von zeitloser Freundschaft und davon, was es braucht, um sich von den Prägungen der eigenen Herkunft zu lösen.
»Du hättest zurücksehen müssen, dachte er, allein um zu wissen, ob sie sich nach dir umgewandt hat.«

Zwischen Lev und Kato besteht seit ihren Kindertagen eine besondere Verbindung. Doch die Öffnung der europäischen Grenzen weitet ihre Lebensentwürfe und verändert ihre Beziehung für immer. Voller Schönheit und Hingabe erzählt Iris Wolff in ihrem großen neuen Roman von zeitloser Freundschaft und davon, was es braucht, um sich von den Prägungen der eigenen Herkunft zu lösen.

Als der elfjährige Lev über Wochen ans Bett gefesselt ist, wird ausgerechnet die gescheite, aber von allen gemiedene Kato zu ihm ans Krankenbett geschickt, um ihm die Hausaufgaben zu bringen. Zwischen dem ungleichen Paar entsteht eine unverbrüchliche Verbindung, die Lev aus seiner Versteinerung löst und den beiden Heranwachsenden im kommunistischen Vielvölkerstaat Rumänien einen Halt bietet.

Ein halbes Leben später läuft Lev noch immer die Pfade ihrer Kindheit ab, während Kato schon vor Jahren in den Westen aufgebrochen ist. Geblieben sind Lev nur ihre gezeichneten Postkarten aus ganz Europa. Bis ihn eines Tages eine Karte aus Zürich erreicht, darauf nur ein einziger Satz: »Wann kommst du?«

Kunstvoll und poetisch verwandelt Iris Wolff jenen Moment in Sprache, wenn ein Leben ans andere rührt, und zeichnet in ihrem großen europäischen Roman das Porträt einer berührenden Freundschaft, die sich als Reise in die Vergangenheit offenbart und deren Leuchten noch lange nachklingt.

Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als auch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt wurde. Die Autorin lebt in Freiburg im Breisgau.

»Mit außergewöhnlichen, starken und zarten Bildern erzählt Iris Wolff von einer Kindheit und Jugend in einer Diktatur, deren Repressalien sich wie dicker Mehltau auf die Seelen der Menschen legen und sie in eine Art Duldungsstarre versetzen. Ihr Text ist ein anmutig zarter, poetischer Widerstandsakt. Wenn Sprache Ballett tanzen könnte, dann wäre dieser Roman ein Tanz mit sehnsüchtig Liebenden, die umeinander herum schwirren in Pirouetten und Sprüngen.« Annemarie Stoltenberg, NDR,

Acht


»Verzeihung.«

Lev blieb stehen.

Er wurde angerempelt, mit Blicken taxiert, alle waren in Bewegung, eilig, getrieben, mit demselben zügigen Schritt. Lev hatte sich eingereiht in diesen Strom, mitziehen lassen, im Abteil, am Gleis, wo die Züge bereit zur Abfahrt standen, Reisende warteten, erwartungsvoll, in sich gekehrt. In der hohen Halle war er stehen geblieben, Lautsprecherdurchsagen, Schritte, Stimmen, Rollkoffer, alles verlor sich in der enormen Höhe. Dann entdeckte er die große Uhr, ging weiter, bog rechts in den Durchgang ab, zum Brunnen. Der Straßenlärm wurde lauter, Autohupen, Motorengeräusche, das Rollen, das Rauschen verschwand, die Leute verteilten sich auf dem Platz, endlich konnte er in Ruhe stehen bleiben, sich umsehen.

Vor ihm lag eine mehrspurige Straße, Zebrastreifen, fünfstöckige Häuserzeilen; blauweiße Straßenbahnen fuhren ein, er hielt seinen Zettel in der Hand, die Nummer der Bahn stand darauf, die Richtung, die Haltestelle. Er verglich die Linien mit seinen Notizen, traute seinem Urteil nicht, ging nochmals alle Aushänge durch. Stadteinwärts lag eine weitere Haltestelle. Das Gefühl der Erleichterung war nur von kurzer Dauer, am Ticketautomaten setzte sich ein heißes Gefühl in seinem Nacken fest, Schwindel erfasste ihn beim Anblick des Kastens, Tasten, Tarifstufen, Münzschlitze, Korrekturtaste – musste erst Geld hineingeworfen oder etwas gedrückt werden? Unsicher presste er einige Knöpfe, jemand stellte ihm eine Frage. Lev trat zur Seite, ließ den Mann zahlen, versuchte sich zu merken, wie er vorging, doch als er erneut an der Reihe war, kam schon seine Bahn. Die Leute stiegen ein, kurz überlegte er, ebenfalls einzusteigen, aber wie beschämend wäre es, ohne Fahrschein erwischt zu werden, und ein Gefühl von Vergeblichkeit überkam ihn, als könnte dies die letzte Bahn gewesen sein, und er hatte seine Chance verpasst.

Mit einem Knistern, das den Schienen vorauseilte, fuhr sie davon. Lev blieb an der Haltestelle stehen, legte die Reisetasche ab, drehte seinen Zettel in den Händen, als ob etwas darauf stand, das er noch nicht entdeckt hatte. Eine Frau mit hüftlangen, hellroten Haaren flocht sich einen Zopf aus drei Strängen, ein Mann auf einer Bank sah ihr mit offenem Mund dabei zu. Tauben stiegen auf, flogen von einer Straßenseite zur anderen, reihten sich auf das Gesims eines Gebäudes ab. Etwas scheuchte sie wieder auf. Sie waren dunkelgrau mit weißen Unterseiten.

Lev sah ihnen zu, den Drehungen ihres Fluges.

Von hell zu dunkel. Von dunkel zu hell.

Etwas veranlasste ihn, sich umzudrehen. Vielleicht hatte sie ihn bereits eine Weile beobachtet, vielleicht wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte, wollte mit ihrem Erkennen eine Weile allein sein – er hätte es gewollt. Stehen bleiben, kein Wort sagen, sie ansehen: Ihre hellen Augen, die Linie der drei Muttermale auf ihrer Wange, ihren herausfordernden, überlegen-distanzierten Blick.

In diesem Spiel hatte sie immer schon triumphiert. Sie konnte den Blick länger halten, sie löste eine Umarmung nicht als Erste auf, durch jenen kleinen Impuls, jenes winzige Zurückweichen, das dazu führte, dass sich zwei Körper voneinander lösten. Lev hatte nicht viel Zeit für dieses erste, rasche Abtasten, betrachtete ihre Gesichtszüge, ihre Körperhaltung, bemerkte die Veränderungen und das, was gleich geblieben war; überrascht von der Größe seiner Freude, Aufregung, und stellte erleichtert fest, es fehlte die alte Bitterkeit.

Sie trug Jeans, Turnschuhe und ein grünes Shirt, keine Jacke, obwohl es an diesem Abend kühl war. Eine große Tasche hing über ihrer Schulter. Sie schien dünner geworden zu sein, aber auch muskulöser, soweit er ahnen konnte, ihre Haare waren schulterlang, noch immer unentschieden, ob sie glatt sein wollten oder lockig. Er sah auf ihre Hände, die spitzen Knöchel der Handgelenke, die Farbreste unter den Fingernägeln.

Etwas war wie immer, etwas war neu.

»Was machst du hier?«

»Ich hatte so ein Gefühl«, sagte Kato.

Sie kaufte für ihn am Automaten eine Wochenkarte. Als sie einige Stationen mit der Tram fuhren, – Kato sagte »das Tram« – kam es ihm vor, als setzten sich die Straßen mit ihren hohen, gepflegten Gebäuden, den Ladenzeilen und Cafés immer weiter fort. Irgendwann hatte er das Gefühl, in die Irre zu fahren, sich zu verlieren, er achtete nur auf sie, auf ihre Stimme, die unvermittelte Nähe, auf die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich zurechtfand, Deutsch sprach, und obwohl er die ganze Zugfahrt Zeit gehabt hatte, sich diesen Moment vorzustellen, war er ihm entglitten – er hatte nicht gewusst, wie es sein würde, sie nach fünf Jahren wiederzusehen.

Kato begleitete ihn zu einer Pension, zahlte eine Woche im Voraus, obwohl Lev sich wehrte (es gelang ihr, weil sie mit der Frau hinter der Theke sekundenschnell Komplizenschaft schloss), zählte die Scheine auf die Theke, und Lev nahm sich vor, die Franken nicht in Lei umzurechnen, es war zu deprimierend. Er strich übers Holz, dachte: Ahorn, befühlte die abgerundeten Kanten. Die Frau teilte ihm mit, wann es Frühstück gab, wann am Abreisetag das Zimmer zu räumen, zu welchen Zeiten die Rezeption besetzt war, langsam, als wäre er schwer von Begriff, und zerdrückte, wie nebenbei, einen Falter, der sich auf die Theke gesetzt hatte.

Kato fragte, ob sie gemeinsam Abendessen wollten, doch er schob seine Müdigkeit vor. Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung, aus der er sich als Erster löste.

Sein Zimmer lag im zweiten Stock. Er öffnete die Türen des Schranks, sah in die Schubladen des Tisches, prüfte die Matratze, knipste Lichter an und wieder aus, trat auf den Balkon. Dann packte er seine Tasche aus, duschte lange und legte sich ins Bett.

Über die Zimmerdecke wanderte Scheinwerferlicht. Durchs offene Fenster drang Trambahnknistern, auf dem Balkon nebenan unterhielt sich ein Paar. Die Stadt war ihm fremd in ihrer Ausdehnung, Ordnung, Mäßigung, und er versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass hier wie dort dieselben Gesetze galten. Es gibt die Zeit, sagte er sich, es gibt die Sprache, die auch die deine ist, und niemand wird dich hinauswerfen, weil du nicht dazu gehörst. Erst recht nicht, und der Gedanke ließ ihn lächeln, wo du eine Wochenkarte hast.

Aus jedem Land, durch das Kato mit Tom gefahren war, hatte sie ihm Postkarten geschrieben, ihre schräge Schrift füllte die Rückseiten aus; wenn sie unten angelangt war, schrieb sie an den Rändern weiter, so dass er die Karten im Uhrzeigersinn drehte, einmal, zweimal, bis er bei ihrer Unterschrift ankam. Manchmal erreichten ihn Karten ohne Text: Straßenschluchten, Brunnenfiguren, Blumen, Bäume, immer wieder Porträt-Studien. Vor vier Wochen dann die Karte mit dem Satz: »Wann kommst du?«

Nur drei Worte und ein Fragezeichen.

Er hatte den Satz wieder und wieder gelesen. War er über längere Zeit gereift oder aus einer Laune heraus geschrieben worden? Meinte sie damit die nähere oder unbestimmte Zukunft? Hieß der Satz, dass sie ihn vermisste oder ihn brauchte? Hieß »kommen« besuchen oder bleiben? Oder war damit eine Vorstellung gemeint, wie manchmal etwas gesagt wurde, nur um in einem bestimmten Gefühl Zuflucht zu suchen?

Als sie telefonierten, um Ort und Zeit abzusprechen, war nicht der Moment gewesen, sie zu fragen. Da sie nie miteinander telefonierten, beschränkte sich das Gespräch auf den Austausch nötiger Informationen. Zuletzt hatte er gewartet, dass sie auflegte, doch er hörte kein Klicken, und er sah sie vor sich, in der abgestandenen, warmen Luft der Telefonzelle, den Hörer am Ohr, den Kopf ans Glas gelehnt, darauf horchend, ob er auflegte – was er dann auch tat.

Eintausendfünfhundert Kilometer weiter östlich war der Sommer trocken und staubig. Hier jedoch spendete der See eine erträgliche Kühle an die Stadt. Der Paradeplatz war schattig und belebt. Lev orientierte sich am Stadtplan mit Katos Markierungen, hielt sich links und kam auf den Münsterhof. Jemand spielte Akkordeon, aus einem Antiquitätengeschäft wurde ein Tisch herausgetragen, Lev hielt die Tür auf, die einer der Männer mit seinem Rücken aufgestoßen hatte, ging weiter Richtung Fluss.

Wasserrauschen, Glocken, Schritte. Katos Stimme.

Die immer ein wenig dunkler war, als erwartet.

Sie war an der Brücke; Leinwand, Farbenkasten, einzelne Kreiden waren auf dem Trottoir verstreut. Er erfasste das Bild auf dem Boden nur flüchtig – es war von überwältigender Größe und Detailliertheit –, alles andere erschien ihm gerade wichtiger. Ihre farbigen Hände, ihre Haltung, kauernd, dem Bild zugewandt, und doch halb aufgerichtet; diese Zuwendung, Hingabe, diese konzentrierte Abwesenheit hatte sie von Anfang an beim Malen gehabt.

Bei allen, die etwas in den Korb warfen, bedankte sie sich.

Gerne hätte er weiter zugesehen, doch sie bemerkte ihn. Der konzentrierte Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand, wich einem Lächeln, ein überraschtes Lächeln, das etwas von der Unwahrscheinlichkeit offenbarte, dass er hier war. Sie stand auf, wischte die Hände an ihrer Hose ab, und ohne dass er lange darüber nachdachte, umarmte er sie. Ihre Haut war warm und trug einen Geruch, den er nicht kannte.

Am Brückengeländer stand der Trolley, mit dem sie jeden Tag die Malutensilien zu ihrem Platz brachte. Sie hatte ihm gestern erzählt, dass sie inzwischen nicht mehr auf Asphalt malte, sondern Leinwände auslegte, auf denen bereits die Zeichnung angefertigt war. Die Passanten spendeten erst, wenn Farbe zu sehen war.

Lev lehnte sich in einigem Abstand ans Geländer. Eine ältere Frau in hellem Sommermantel blieb stehen, die beiden unterhielten sich, als knüpften sie an ein vorheriges Gespräch an. Zu Mittag gab ihr ein Mann in Anzug und Krawatte...

Erscheint lt. Verlag 13.1.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Bestseller Autorin • Buchgeschenk • Buch zum Lachen und Weinen • Cover mit Vogel • Die Unschärfe der Welt • Erste Liebe • Europa • Familengeschichte • Famlienroman • Freundschaft • geschenke für freundin • Geschenk für Frauen • Geschenk zum Muttertag • Kindheitserinnerungen • Liebe • Lieblingsbuch • Monika Helfer • neue deutsche Heimatliteratur • neue romane 2024 • Shortlist • spiegel bestseller • Unschärfe der Welt • Woche der unabhänigen Buchhandlungen • WuB • Zsuzsa Bánk
ISBN-10 3-608-12285-0 / 3608122850
ISBN-13 978-3-608-12285-5 / 9783608122855
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