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Schwarzes Eis (eBook)

Der Lebensroman meines Vaters
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02231-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schwarzes Eis -  Sergej Lochthofen
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«Was ihm in diesen Tagen und Monaten widerfuhr, das war die Umwertung all seiner bisherigen Erfahrungen: Was als sicher galt, war zerbrochen. Was sauber schien, lag im Schmutz. Was wahr zu sein hatte, wurde Lüge. Selbst das Eis wollte nicht mehr rein und sauber sein.» Dieses Buch handelt von einem Mann, der in den blutigen politischen Glaubenskämpfen des 20. Jahrhunderts seinen Idealen treu bleibt, obwohl sie ihn fast das Leben kosten. Mit Erfindungsreichtum, Humor und der Hilfe des Zufalls kommt Lorenz Lochthofen durch - ohne zu verbittern. Schicksalsschläge und unerklärliche Wendungen, Liebe und Verlust, Aufbruch und Enttäuschung, Willkür und Grausamkeit: Sergej Lochthofen erzählt das Leben seines Vaters wie einen packenden, tatsachengestützten Roman - einen Lebensroman. «Ein spannend zu lesendes und aufwühlendes Buch. » Thüringer Allgemeine «Ein beängstigend atmosphärischer Tatsachen-Roman. » Leipziger Volkszeitung

Sergej Lochthofen ist Journalist. Geboren 1953 in Workuta (Russland), kam er als Fünfjähriger mit den Eltern in die DDR, wo er eine russische Schule besuchte; er studierte Kunst auf der Krim und Journalistik in Leipzig. Von 1990 bis Ende 2009 verantwortete er die Zeitung Thüringer Allgemeine. das Medium-Magazin wählte ihn zum regionalen «Chefredakteur des Jahres»; Fernsehzuschauer kennen ihn als Stimme des Ostens im ARD-Presseclub oder in der Phoenix-Runde.

Sergej Lochthofen ist Journalist. Geboren 1953 in Workuta (Russland), kam er als Fünfjähriger mit den Eltern in die DDR, wo er eine russische Schule besuchte; er studierte Kunst auf der Krim und Journalistik in Leipzig. Von 1990 bis Ende 2009 verantwortete er die Zeitung Thüringer Allgemeine. das Medium-Magazin wählte ihn zum regionalen «Chefredakteur des Jahres»; Fernsehzuschauer kennen ihn als Stimme des Ostens im ARD-Presseclub oder in der Phoenix-Runde.

II


«… der Mistkerl blutete wie eine angestochene Sau. Ich hatte ihm das Messer bis zum Anschlag unter die Rippen gejagt …»

Ein glatzköpfiger Fettwanst, der breitbeinig direkt auf dem Steinboden saß, machte trotz seiner Fülle eine blitzartige Bewegung, so als würde er gerade in diesem Augenblick jemanden abstechen. Auf seinem entblößten Oberkörper glänzte der Schweiß im fahlen Licht. Die Speckringe und der schwabbelige Bauch ließen vermuten, der Mann saß noch nicht lange hier. Um ihn herum hockten dicht gedrängt zehn oder zwölf weitere Gestalten, alle nur mit Hosen bekleidet. Das Ganze erinnerte an ein kannibalisches Ritual.

Lorenz starrte wie gelähmt auf die Gruppe. Da waren sie, die Urki, wie die Kriminellen im Volk hießen. Er hatte einiges von ihren grausamen Sitten gehört. Trotz des endlosen Geredes vom neuen sozialistischen Menschen blühte im Heimatland aller Werktätigen die Kriminalität. Menschen wurden für ein paar Rubel umgebracht, der Schwarzmarkt erreichte nie gekannte Ausmaße, von der Streichholzschachtel bis zum Professorentitel, alles wurde verschoben, und die Unterwelt verdiente daran. Kein Wunder, die Staatsmacht war mit dem täglichen Terror gegen die eigene Bevölkerung ausgelastet. Oft genug dienten die Kriminellen als Druckmittel gegen die Politischen. Wie zum Hohn hießen Mörder, Kinderschänder und Diebe im offiziellen Jargon der Partei «Freunde des Volkes», während jeder, der nach einem politischen Paragraphen verurteilt war, als «Feind des Volkes» galt. Dementsprechend fiel die Behandlung in den Gefängnissen und Lagern aus. Die Kriminellen bekamen Posten, die das Überleben sicherten. Sie herrschten über die Kammern, in denen die Sachen getrocknet wurden oder wachten darüber, dass das Feuer im Kanonenofen der Baracke nicht ausging. Die Politischen rückten aus in die vereiste Taiga, Holz einzuschlagen.

Die bevorzugte Stellung der Ganoven hinderte diese aber nicht daran, sich untereinander blutig zu befehden. Die Urki teilten sich in zwei Syndikate: die «Sutschenye», «die Hündischen», und die «Sakonniki», «die Diebe im Gesetz», die nach einem strengen inneren Kodex lebten. Die ersten dienten sich beim Gefängnis- oder Lagerpersonal an, kollaborierten mit dem NKWD. Die anderen weigerten sich oft genug, überhaupt zu arbeiten, jegliche Beziehung zu Miliz oder Geheimpolizei lehnten sie ab. Geschickt spielte das Gefängnispersonal die einen gegen die anderen aus und beide zusammen gegen die Politischen. Wer nicht spurte, kam «zufällig» in die falsche Zelle. Das bedeutete den sicheren Tod.

In den Syndikaten selbst herrschte eine eiserne Hierarchie. An der Spitze standen die Atamane, die sich ihren Titel von den Kosaken ausgeliehen hatten. Als Fußvolk dienten die «Schpana». Die Bezeichnung könnte aus dem Deutschen entliehen sein. Ein Schpana hatte seinem Chef bedingungslos zu gehorchen, wurde also «eingespannt» und der geringste Widerspruch grausam bestraft.

Waren das nun «Diebe im Gesetz» oder doch die anderen, denen sich Lorenz jetzt gegenübersah? Er wusste es nicht. Woher auch? Im Grunde war es egal. Es gab kein Entrinnen. Die einen waren mit Sicherheit so gefährlich wie die anderen. Unentschlossen blieb er stehen, die Tür im Rücken. Der Fettwanst fuhr mit seiner Erzählung fort.

«Ich hatte einem Freier gerade die Hose abgenommen, passte wie angegossen. Der alte Bock war froh, dass ich ihm die Unterwäsche ließ, so musste er nicht nackig auf die Straße.»

Die Zuhörer johlten.

«Aber leider hatte ich Pech. Da lief mir doch dieser Einäugige über den Weg. Unglaublich, die Kanaille traute sich in mein Revier. Da gab’s nur eins: Messer raus. Im Nu war alles von oben bis unten voller Blut. Es lief warm am Bein runter. Eklig. Hab vor Wut gleich noch mal und noch mal zugestochen. Könnt ihr euch das vorstellen? Die neue Hose …»

Der Mann machte eine Pause und drehte sich um.

«He, du da, was gaffst du hier rum?»

Lorenz zuckte zusammen. Sein Plan, so unauffällig wie möglich einen Platz zu finden, ging nicht auf.

«Unter die Pritsche mit dir, Hundesohn. Und wag ja nicht vorzukommen», knurrte der Urka.

Die Eisentür im Rücken, konnte Lorenz hoffen, wenigstens den ersten Ansturm zu überstehen. Auch wenn er unterlegen war, ganz ohne Widerstand wollte er sich dem Schicksal nicht fügen.

Für einen Moment herrschte Stille. Alle Blicke waren auf den Neuen gerichtet. In der Zelle, die vielleicht für vier oder fünf Sträflinge ausgelegt war, mochten fast zwanzig sitzen. Sie standen auf und rückten langsam auf ihn zu. Näher und immer näher. Nach den Wärtern zu rufen hatte keinen Sinn. Die waren lange weg. Er hatte gehört, wie ihre Schritte auf dem Gang immer leiser wurden. Außerdem bezweifelte er, dass sie ihm zu Hilfe kämen. Bis jemand mitkriegte, was hier ablief, wäre es vorbei.

«Lorenz?!», hörte er plötzlich aus der anderen Ecke der Zelle etwas unentschlossen seinen Namen.

Die Urki beiseiteschiebend, kam ein Mann auf ihn zu. Er war untersetzt und ging dennoch leicht, ja fast elegant. Die schwarze Haarpracht und der Rauschebart ließen ihn südländisch und sehr vertraut erscheinen.

Ein bekanntes Gesicht. Hier? Hier in der Zelle? Kein Zweifel, Lorenz kannte den Mann. Er dirigierte das Sinfonieorchester von Engels und stand in dem Ruf, ein begabter Interpret Tschaikowskis zu sein, sogar in Moskau hatte er schon ein, zwei Gastspiele gegeben. Man traf sich im Theater, wechselte ein paar Worte, grüßte die Gattin. Für den Dirigenten war es von Vorteil, den Feuilletonchef der wichtigsten Zeitung am Platze in seinem Bekanntenkreis zu wissen. Die Arbeit als Theaterkritiker gefiel Lorenz, ohnehin versäumte er keine Premiere in der Stadt. So stimmte der Chefredakteur dem Wechsel vom Posten des Redaktionssekretärs ins Kulturressort zu. Seine Kritik der «Nora»-Aufführung, in der Regie von Maxim Vallentin, brachte ihm weit über Engels hinaus Anerkennung.

Das freute Lorenz, er schrieb Geschichten und Gedichte. Während des Studiums hatte er damit begonnen, unter den Exilliteraten in Moskau galt er bald als Talent. Der Preis, den er für eines seiner Gedichte erhielt und die Ermunterung eines Egon Erwin Kisch, dem er nach einer Vorlesung ein paar Manuskriptseiten in die Hand gedrückt hatte, unbedingt dem Schreiben treu zu bleiben, bestärkten ihn. Er saß nun immer in der ersten Reihe, wenn der Meister der Reportage am Pult zu reden anhob. Und das, obwohl Kischs Vorlesungen die schiere Langeweile verströmten. Wie vielen exzellenten Schreibern fiel dem Naturtalent aus Prag das Referieren vor Publikum schwer. Er quälte sich, stotterte etwas und hoffte mit dem Auditorium, die Stunde möge bald vorüber sein. Wenn die Unruhe im Hörsaal zu groß wurde, holte Kisch die korrigierte Fahne eines neuen Textes hervor und begann zu lesen. Schlagartig wurde es still. Jetzt begriff jeder, warum Kisch Kisch war.

Friedrich Wolf war da ein ganz anderer Typ. Das wusste Lorenz schon seit ihrer ersten Begegnung im «Lux». Ernst Thälmann hatte zu einem Abend geladen, und Lorenz rutschte in der Gesellschaft eines Freundes hinein. Eine gute Gelegenheit, endlich wieder einmal richtig zu essen, die Verpflegung in der Mensa der Westuniversität war grässlich bis ungenießbar. Natürlich konnte man an solchen Abenden auch wichtigen Leuten begegnen. So wurde Lorenz tatsächlich dem Gastgeber vorgestellt und fiel sogleich unangenehm auf. Er sprach Thälmann nicht mit dem unter deutschen Genossen üblichen «Du», sondern vorsichtshalber mit «Sie» an, was den KPD-Vorsitzenden in Rage versetzte.

«Wieso Sie? Bin ich dir der Kaiser von China?!»

Lorenz stotterte eine Entschuldigung, aber da war Thälmann schon weiter. Im Hintergrund stand Wolf und grinste.

«Mach dir nichts draus, der ist heute nicht gut aufgelegt. Die Genossen in Moskau haben ihm wieder einmal erklärt, wie es in Deutschland wirklich aussieht. Du kennst sie ja. Die wissen schon aus Prinzip alles besser. Dabei ist die Lage beschissen. Und das ist noch geprahlt. Die Weisheit der Moskauer Genossen verkraftet man nicht jeden Tag. Glaub mir, mit dir hat seine Laune nichts zu tun.»

Wolf fand Interesse an dem jungen Mann aus dem Pott, vor allem weil er wusste, dass Lorenz nach dem Studium bei der Zeitung in Engels anfangen sollte. Er konnte einen Getreuen in der Redaktion gut brauchen. Schließlich war das Theater an der Wolga einer der Hauptabnehmer seiner Stücke. Später gingen der Schriftsteller und der frischbestellte Redakteur auf ausgedehnte Reportagereisen. Lorenz hatte zwei wichtige Vorzüge: Er konnte Russisch, und er konnte noch besser die Klappe halten. Denn neben den jungen Schauspielerinnen förderte Wolf gerne auch die jungen Kolchosbäuerinnen. Lorenz sollte es recht sein. Alles, was die Bande zwischen Friedrich und Lotte schwächte, kam ihm gelegen. Es war kein Zufall, dass, wann immer sie in einer Kolchose abstiegen, um das Heldenepos der Arbeit zu singen, Lorenz beim Kolchosvorsitzenden und Wolf im Wohnheim für ledige Bäuerinnen nächtigte. Während die Frau des Kolchos-Chefs den Redakteur mit Piroggen mästete, wurde Wolf anderweitig verwöhnt. Das hieß dann bei den beiden Reisenden: den Kolchosbäuerinnen die Beschlüsse der Komintern erklären. Manchmal dauerte so ein Seminar Tage.

So kam es, dass Lorenz nicht nur die Literaten und die Regisseure, sondern das gesamte Ensemble des Theaters, einschließlich der Musiker, zu seinem erweiterten Bekanntenkreis zählte. Sie alle gehörten zur örtlichen Intelligenzija, von der es in einem Provinznest wie Engels nicht all zu viel gab. Jemanden aus dieser Welt in einer schmutzigen, stickigen Zelle wiederzutreffen, das schien...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2012
Zusatzinfo Mit 17 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte DDR • Erich Honecker • Familiengeschichte • GULAG • Journalist/in • Leonid Breschnew • Lorenz Lochthofen • Michail Gorbatschow • Stalinismus
ISBN-10 3-644-02231-3 / 3644022313
ISBN-13 978-3-644-02231-7 / 9783644022317
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