Was darf die Satire? (eBook)
157 Seiten
Verlag Ille & Riemer
978-3-95420-115-0 (ISBN)
Prof. Dr. Harald Vogel ist emeritierter Professor für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik, Spiel- und Theaterpädagogik. Promotion über Thomas Mann. Arbeiten u. a. zur deutschsprachigen jüdischen Literatur; Herausgeber und Autor der Reihe Leseportraits (bisher: Tucholsky, Kästner, Rose Ausländer, Brecht, Frisch und Fried). Leiter der Lyrik-Bühne Esslingen.
Was darf die Satire? (Tucholsky) –
Eine kleine Sonntagspredigt (Kästner)
Vom Sinn und Wesen der Satire.
Kurt Tucholsky und Erich Kästner – ein Diskurs
Vorbemerkung111
Am 9. Januar [2015] jährte sich zum 125. Mal Kurt Tucholskys Geburtstag. Dieses Gedenken datiert 2 Tage nach dem schwarzen Terrormittwoch, den mörderischen Angriff auf die Satireredaktion »Charlie Hebdo« in Paris, die in ihrer Satirezeitschrift den mörderischen Terror der IS [Islamischer Staat] karikiert hatte. Kurt Tucholsky, der zeitkritische Satiriker, politische Journalist, Kabarettautor und Kulturkritiker in der Weimarer Republik veröffentlichte 1919 im Berliner Tageblatt einen Essay mit dem Titel Was darf die Satire?, der gegenwärtig aus aktuellem Anlass viel diskutiert wird.
Tucholskys Appell nach dem I. Weltkrieg 1919 und sein Statement vor der Machtergreifung 1932: Die Zeit schreit nach Satire112 waren nicht nur nach dem II. Weltkrieg zur Zeit der unbewältigten Vergangenheit notwendig, sie gelten leider bis in unsere Gegenwart und zweifellos solange, wie Verfolgung aus Menschenverachtung, Fremdenhass, Unterdrückung, Vertreibung, Terror und Völkermord andauern.
Tucholsky meint mit Satire nicht einen unbegründeten Angriff und keine unbegründete Diffamierung. Seine satirische Waffe zielt auf provozierende Anklage und Aufklärung. Auch wenn mit einer verändernden Wirkung der Verhältnisse nicht zu rechnen ist, ist doch der geistige Kampf, Unrecht an den Pranger zu stellen, Menschenrechtsverletzungen zu brandmarken gerechtfertigt und notwendig. Tucholsky Kampf mit seiner satirischen Waffe endete tragisch vor 80 Jahren am 21. 12. 1935 bücherverbrannt, von Nazimördern verfolgt, ausgebürgert, staatenlos im schwedischen Exil an einer Überdosis Schlaftabletten: als »aufgehörter Schriftsteller«, wie er sich in seinem Abschiedsbrief an Arnold Zweig vom 15. 12. 1935 selbst bezeichnete.113 Auch die aktuellen Morde und terroristischen Anschläge geben eher Anlass zur Verzweiflung und Resignation. Wenn man aber auf die Geschichte blickt, kann man die Wirkung der zugespitzten Kritik und des Widerstandes erst in zeitgeschichtlicher Distanz einschätzen und würdigen. Und die Wirkung ist allein nicht zu messen an der Veränderung der gesellschaftlichen politischen Verhältnisse, sondern ebenso an den nur schwer zu evaluierenden Bewusstseinseinwirkungen und der Schärfung der Urteilsmaßstäbe.
Ein Vergleich der beiden sich als Satiriker verstehenden Schriftsteller Kurt Tucholsky und Erich Kästner, beide Weltbühne-Autoren am Ende der Weimarer Republik kann die beiden engagierten Autoren in ihrer jeweiligen Profilierung charakterisieren sowie ihre journalistischen bzw. literarischen Attacken auf die republikfeindlichen Tendenzen und faschistoiden Vorgänge in den Jahren vor der Nazidiktatur bewerten. Dabei wird es wichtig sein, das persönlich Konstitutive von den literarischen, handwerklichen Kompetenzen zu trennen.
Entscheidend für die Gültigkeit und damit die Wertigkeit sowie moralische Rechtfertigung einer Satire ist die Abwägung zwischen ihrer Erscheinungsform, der provokativ überspitzten, anklägerisch gestalteten Aussage, dem satirischen Angriff und dem zugrundeliegenden, den Angriff, die Kritik provozierenden Anlass. Der Maßstab zur Beurteilung des angegriffenen Sachverhalts, der angeprangerten Geisteshaltung bzw. die berechtigte Kritik an verletzten Wertmaßstäben und humanitären Werten ist entscheidend bei der Abwägung über die Unzulässigkeit eines satirischen Angriffs.114 Unabhängig davon ist es völlig legitim, sich gegen eine satirische Aussage begründet zu wehren und sich persönlich von der gewählten Form zu distanzieren. Dies darf nicht mit der Forderung nach Zensur oder einem Verbot gleichgesetzt werden. Widerspruch ist legitim von beiden Seiten, Autor und Publikum, ja führt zu dem bewusst provozierten Diskurs über den angeprangerten Sachverhalt und die damit tangierte Wertediskussion.
Es gilt grundsätzlich:
Der zugrundeliegende Sachverhalt, der protestauslösende Anlass und die autorisierende Wertehaltung, die zur Entscheidung für eine aufklärerische Provokation mit Hilfe einer Satire führen, sind beim Verstehen einer Satire und bei der Beurteilung über die Legitimität einer satirischen Darstellung immer mitzudenken!
Dies leitet sich aus Tucholskys Postulat ab, das der verkürzten Formel seines Satirestatements »Was darf die Satire? Alles!« vorausgeht:
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.115
Der Streit um Urteilsmaßstäbe und um das entsprechende Wertebewusstsein ist wie bei jedem gesellschaftskritischen und politisch-moralischen Wettstreit nicht zu vermeiden, ja gehört zur beabsichtigten Wirkung des satirischen Angriffs. Diese Auseinandersetzung gehört zur Kultur des gesellschaftlichen Diskurses und muss auch bei der literarischen Analyse beachtet werden.116
Kurt Tucholskys Essays, darunter die am meisten zitierte Grundsatzfrage Was darf die Satire? sollen im Vergleich der beiden Schriftsteller Tucholsky und Kästner zuerst betrachtet werden.117
Kurt Tucholsky
Was darf die Satire? (1919)118
Frau Vockerat: »Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.« Johannes: »Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.«
Gerhart Hauptmann
Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.
Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: »Nein!« Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist. Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.
Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird.
Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: »Seht!« – In Deutschland nennt man dergleichen ›Kraßheit‹. Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. Und so ist das damals mit dem Weberelend gewesen, und mit der Prostitution ist es noch heute so.
Der Einfluß Krähwinkels hat die deutsche Satire in ihren so dürftigen Grenzen gehalten. Große Themen scheiden nahezu völlig aus. Der einzige ›Simplicissimus‹ hat damals, als er noch die große, rote Bulldogge rechtens im Wappen führte, an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und an den näselnden Offizier. Nun kann man gewiß über all diese Themen denken wie man mag, und es ist jedem unbenommen, einen Angriff für ungerechtfertigt und einen anderen für übertrieben zu halten, aber die Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen, darf nicht mit dicken Worten zunichte gemacht werden.
Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.
Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend.
Nicht einmal dem Landesfeind gegenüber hat sich die deutsche Satire herausgetraut. Wir sollten gewiß nicht den scheußlichen unter den französischen Kriegskarikaturen nacheifern, aber welche Kraft lag in denen, welch elementare Wut, welcher Wurf und welche Wirkung! Freilich: sie scheuten vor gar nichts zurück. Daneben hingen unsere bescheidenen Rechentafeln über U-Boot-Zahlen, taten niemandem etwas zuleide und wurden von keinem Menschen gelesen.
Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren...
Erscheint lt. Verlag | 6.7.2016 |
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Verlagsort | Leipzig |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik | |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik | |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Erich Kästner • Kurt Tucholsky • Literaturdidaktik • Literaturwissenschaft • Neuere deutsche Literatur • Satire • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-95420-115-1 / 3954201151 |
ISBN-13 | 978-3-95420-115-0 / 9783954201150 |
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Größe: 4,2 MB
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