Siida (eBook)
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-9917-3 (ISBN)
Timmo Järvinen ist das Pseudonym des 1965 in Frankfurt am Main geborenen Autors Roman Kamm. Sein großes Interesse an skandinavischer Kultur, Land und Leuten, so wie langjährige, bis heute andauernde Freundschaften, verbinden ihn mit der Region und ihren Menschen. Auch das Volk der Samen, ihre Geschichte und ihre einzigartige Lebensweise beeindrucken ihn bis heute. Von deren unvergleichbaren mythischen wie mystischen Geschichten, ihren Sagen und Fabeln fasziniert erfüllt sich der Autor mit diesem Buch nun einen langgehegten Traum.
Die kleine Weise Numiru
Der Sommer im hohen Norden war nur kurz. Überaus kurz! Umso intensiver nutzten Siida und ihre Familie diese Zeit, um Mensch und Tier auf den schon so bald wieder nahenden Winter vorzubereiten.
Siida war mit ihren elf Jahren, die Jüngste der Familie und half ihrer Großmutter im Haushalt, wo immer sie konnte. Am allerliebsten aber war sie bei ihren Rentieren. Da für die großen Herden bislang zu jung, kümmerte sie sich liebevoll um kleinere, verwaiste Renkitze! Womit sie, nach dem letzten harten Winter, durchaus beschäftigt war. Fand sich für die Rentierwaisen keine Ersatzmutter unter den Tieren, wuchsen sie auch mal ein halbes Jahr in Siidas Obhut auf. Wurden sie groß genug, entließ sie die Kleinen zum Rest der Herde. Gestärkt folgten sie dann den freilebenden Tieren durch den kalten Winter. Meist reichte die Zeit für die Renkitze, um bis zum ersten Schneefall heranzuwachsen.
Siidas Familie bestand aus zwei Brüdern, ihrem Vater und ihrer Großmutter. Zusammen lebten sie in einer Kate, einem Zelt aus Stoff und Rentierfellen gearbeitet. Dort gab es Platz für vier mit Pelz bespannte Holzbänke zum Schlafen und Sitzen, einen Ofen in der Mitte sowie einen großen Tisch. Viel mehr brauchten sie nicht zum Leben. Wenn die freilebenden Rentier-Rudel zu neuen Weidegründen zogen, wurde alles auf ein paar Wagen und Schlitten geladen, um den Herden zu folgten. Im schlimmsten Falle konnte man kränkelnde und schwächliche Tiere mit dem Schlitten bergen. Es war ein hartes und entbehrungsreiches Leben. Siida aber hätte es für nichts auf der Welt eingetauscht. Liebevoll kümmerte sie sich in jeder freien Minute um die jungen Rentiere.
Zu solch unglücklichen Fällen kam es (die Samen dankten den Göttern dafür) recht selten. Immer nur wenn einzelne Mütter ihre Rentierbabys nicht annahmen. Fand sich keine Rentierkuh, die das Kitz adoptierte, päppelte Siida die Kleinen auch mit der Hand auf. Sie sprang als Ersatzmutter ein und zog sie groß.
Ende des letzten Winters rettete sie nur durch einen glücklichen Zufall das Leben eines frisch geborenen Rens. Numiru hatte sie das Renkitz kurzerhand getauft. Ein tragisches Schicksal verband Siida mit dem kleinen Kitz. Seine Rentiermutter überlebte dessen Geburt nicht. Auch Siida hatte ihre Mutter nie kennengelernt. Wie Numirus war Siidas Mutter am Tag ihrer Geburt verstorben.
Ihre Großmutter, die von Siida liebevoll Mummo genannt wurde, erzählte immer viel von Siidas Mutter und von der kalten Winternacht, in der Siida zur Welt kam. Anfangs verlief alles günstig, und sie und ihre Mutter waren wohlauf. Dann aber verschlechterte sich der Zustand ihrer Mutter rasch. Die Lager und Zelte der Familie standen weit entfernt von jeder größeren Stadt. Und so kam für Siidas Mutter die Hilfe zu spät.
Siida fühlte sich nicht trauriger als andere Kinder. Sie besaß eine wundervolle Familie. Sie hatte einen liebevollen Vater, zwei nervige große Brüder, die sie trotzdem gern hatte, und da war noch ihre über alles geliebte Großmutter. Jetzt hatte sie ja außerdem ihren kleinen Numiru, der - wenn Mummo es nicht verhinderte - sich auch auf Siidas Bett niederließ.
Numiru wurde geboren, da war das Ende des Winters längst überfällig. Eine dunkle und kalte Nacht, nicht ein Stern stand am Himmel.
Siida erwachte aus der Mitte eines lebhaften Traumes von prächtigen Feen und tanzenden Irrlichtern. Ein dringendes Bedürfnis überkam sie und beendete ihren Schlaf. Fellhose, Stiefel und Jacke waren schnell übergezogen. Vorsichtig schlich sie aus dem Zelt und lief in Richtung des nahen Waldes. Noch vor dem Erreichen der Bäume sah sie aus dem Augenwinkel ein zartes Glimmen, eine flinke Bewegung, einen spärlichen Schein, der von der anderen Seite der Lichtung kam. Ein leises verhaltenes Brummen war zu hören. Vergessen der drängende Grund ihres nächtlichen Ausflugs. Ihre Neugierde überwog.
Behutsam näherte sich Siida dem Ort der tanzenden Lichter. Der vereiste Schnee unter ihren Füßen gab knirschend nach. Sachte erreichte Siida die Stelle auf der Lichtung. Das Leuchten war verschwunden. Zurück blieb ein großer schemenhafter Schatten, der vor ihr im Schnee lag. Siida hörte ein erneutes Brummen. Sie erkannte das Blöken eines Renkitzes. Die Silhouette vor ihr aber erschien zu groß für ein Kitz. Unversehens rissen die verdunkelnden Wolken auseinander. Ein gleißendes Nordlicht entflammte den Himmel und die dämmerige Winterlandschaft tauchte in ein leuchtendes Grün. Ein erwachsenes Ren lag reglos vor ihr im Schnee.
Siida kannte die Gefahr. Selbst für einen Samen war ein ausgewachsenes Rentier keineswegs zahm und zutraulich, eher ein freilebendes, kräftiges Wildtier. Vorsichtig näherte sie sich dem Tier. Die Quelle des kläglichen Jammerns war schnell gefunden. Ein kleines Renkitz, das schreiend im Dunkel des massigen Schattens lag. Siida hörte kein Atmen und kein Schnaufen des großen Körpers. Mit ihrer Hand auf der Brust des Tieres fühlte sie die Reglosigkeit der Renmutter. Das kleine Kitz zitterte bereits erbärmlich. Knarrende Schritte näherten sich aus der Richtung des Zeltes. Auch ihr Vater hatte das Klagen des Rens gehört und kam ihr entgegen. Siida zögerte nicht. Sie nahm das Kitz auf den Arm und kehrte mit ihm zum Zelt zurück. Ihr Vater nickte ihr zu und lief weiter in Richtung des großen reglosen Körpers.
Seit jeher stellten die Herden der Rentiere den besonderen Stolz und Besitz der Samen dar. Schon der Verlust nur eines einzelnen Rens war und ist eine schmerzhafte Einbuße für die gesamte Sippe. Das Volk der Samen lebt seit Jahrhunderten mit den Tieren und von ihnen. Das Fleisch und die Milch dienen als Nahrung, das Fell für Kleidung, Zelte und den Verkauf auf dem Markt. Große Überschüsse oder Reichtümer gab es auch in Siidas Familie nicht. Mit dem was sie hatten, kamen sie gerade so über die Runden.
Siida legte das Tier behutsam auf einen Platz neben ihrem Bett. Mit einem Bündel Stroh begann sie es trocken zu reiben. Durch das Schreien des Renkitzes ebenfalls geweckt, war ihre Großmutter bereits auf den Weg zu ihr. Sie half Siida bei der Versorgung des Kleinen. Nur ihre Brüder ließen sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie schliefen mühelos weiter. Das Einzige, was das Jungtier jetzt retten konnte, war die Milch einer anderen Rentiermutter. Vor Anbruch des dämmrigen Tages aber war diese kaum zu finden, womit an Schlaf in dieser Nacht nicht zu denken war.
Der Name, den Siida ihrem Schützling gab, war Numiru, benannt nach einer Sagengestalt aus den Geschichten ihrer Großmutter. Dort erschien er als mutiger kleiner Kämpfer und nichts und niemand vermochte ihn zu schrecken. So dauerte es nicht lange, bis Numiru ihr überall hin folgte, mal gewünscht, mal eher als ungestümer Störenfried. Der Tag an dem Numiru von der Seite an Siidas Bett weichen musste, kam schneller, als es ihm gefiel. Groß und kräftig genug, zog er endgültig zu seinen Brüdern in einen Verschlag vor der Kate. Numiru war damit so gar nicht einverstanden und machte unmutig durch lautes Schreien noch länger auf sich aufmerksam. Siidas Großmutter aber kannte kein Erbarmen. Und so schlief er ab sofort die Nächte auf dem Boden im Freien, ob es ihm mochte oder nicht.
Die Sonne sendete ihre letzten Strahlen in Richtung Norden. Dann breitete sich unerbittliche Dunkelheit bis in den hintersten Winkel des Polarkreises aus. Numiru war zu spät geboren, um den großen Herden durch den Winter schon zu folgen, im Gegensatz zu seinen Brüdern. So war es ihm vergönnt, den kommenden Winter ein letztes Mal bei Siida und ihrer Familie zu verbringen. Erst im nächsten Frühjahr würde sie ihn zu den freien Herden entlassen, wenn Eis und Schnee die für ihre Nahrung so wichtigen Moose und Flechten wieder freigaben.
Siida empfand keinen Groll gegen den strengen Winter. Es war eine besondere Zeit. Ihre Welt fiel in einen entspannten Schlaf. Alles vollzog sich in geruhsamer Bewegung, ganz im Gegensatz zum schnelllebigen Sommer. Alles für den Winter Benötigte, galt es im Sommer zu richten und zu erledigen, Zelte wurden geflickt, Schlitten und Wagen repariert. Neugeborene Renkitze wurden aus der Herde gefangen und mit dem Zeichen der eigenen Familie markiert. In Siidas Fall war das eine kleine geschnitzte Markierung im Ohr, ohne großen Schmerz für die Tiere, doch weithin erkennbar für deren Besitzer. Kein Same wollte es wagen, das Ren eines Nachbarn für seines zu halten. Meist sah man sich nach dem langen Winter in Jokkmokk auf dem Sommermarkt zur Sonnenwende wieder.
Eine Zeit und ein Ort, an dem sich ebenso die trefflichsten Geschichtenerzähler ihres Volkes einfanden, um sich einen aufregenden Wettstreit um deren beste Erzählungen zu liefern.
Auch Siidas Großmutter, bekannt als erfolgreiche Schamanin, Heilerin und Erzählerin ihres Klans, wetteiferte in diesem Sommer zum wiederholten Male um einen Platz unter den Besten. Siida liebte die Atmosphäre und natürlich die Geschichten ihrer Großmutter, denen sie gebannt mit dem anwesenden...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Reihe/Serie | Siida |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Vorlesebücher / Märchen |
Schlagworte | Abenteuer • Legenden • Samen • Skandinavien • Zauberwelt |
ISBN-10 | 3-7597-9917-5 / 3759799175 |
ISBN-13 | 978-3-7597-9917-3 / 9783759799173 |
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