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Die Wahrheit schmeckt nach Marzipan (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
366 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-890-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wahrheit schmeckt nach Marzipan -  Anni E. Lindner
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Als ob ein Tagebuch ihren Scherbenhaufen von Leben besser machen könnte! Die 16-jährige Tally hat unerwartet ihren Vater verloren und das Letzte, was sie jetzt braucht, sind die Ratschläge ihrer selbst überforderten Mutter. Oder der merkwürdigen Therapeutin, die ihr empfiehlt, ihre Gefühle aufzuschreiben! Erst als Tally zufällig Frau Möller kennenlernt, eine alte Dame mit einem Papagei sowie einer Vorliebe für Marzipan, und ihr das Foto von deren jung verschollenen Onkel in die Hände fällt, findet sie doch noch etwas, was sie zum Schreiben inspiriert. Außerdem sind da ja auch noch ihre beste Freundin Sanna und nicht zu vergessen Mr Wow, der eigentlich Timo heißt und Tally einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Dummerweise ist er Christ und mit diesem religiösen Quatsch kann sie so gar nichts anfangen ...

Anni E. Lindner ist Heilsarmeeoffizierin und lebt in dieser Funktion mit ihrem Mann und den sechs Kindern ein fröhliches Nomadenleben. Derzeit leitet das Ehepaar das Kinder- und Familienzentrum »Heilse« in Chemnitz.

Kapitel 2

Am nächsten Tag gehe ich wieder zur Schule. Ich muss weitermachen, die Schonfrist ist abgelaufen. Es ist schon warm, als ich aus dem Haus trete. Der Himmel ist so blau wie gestern, ein kleines bisschen verschleiert vom Morgendunst nur. Der Gehweg ist staubig, auf einem Hundehaufen sitzen dicke Fliegen. Meine Füße gehen den Weg von allein. An der Ecke zur Hauptstraße steht Sanna; ihre weißblonden Haare leuchten mit den Farben ihres Rockes um die Wette. Sie ist unheimlich hübsch, aber das glaubt sie mir nicht.

»Hey, Tally.«

Zum Glück fragt sie nicht, wie es mir geht, denn darauf wüsste ich keine Antwort. Aber Sanna kennt mich. Wir sind befreundet, seit unsere Mütter uns den Krippenerzieherinnen in die Arme drückten und verschwanden. Angeblich haben wir uns dann immer gegenseitig getröstet und in gewisser Weise tun wir das immer noch. Genau wie damals oft auch ohne Worte.

Wir gehen nebeneinanderher die Straße hinunter, über die Ampel, an den Läden und Wohnhäusern vorbei, bis wir vor dem Schulgebäude stehen. Schüler schwirren um uns herum die Treppe hinauf.

»Bist du bereit?«, fragt Sanna und schaut mich prüfend an.

Ich schiebe trotzig die Unterlippe vor und erwidere ihren Blick, ohne zu blinzeln. »Klar.«

Je tiefer wir in das Gebäude eindringen, desto beklommener wird mir zumute. Es kommt mir vor, als würden alle mich anstarren, dabei stimmt das wahrscheinlich überhaupt nicht. Von den knapp siebenhundert Schülern wissen vielleicht zwanzig, dass mein Vater vor acht Tagen, drei Stunden und siebenundzwanzig Minuten gestorben ist. Also haben die anderen keinen Grund, mich mitleidig anzugucken.

Dann sind wir im ersten Kursraum angekommen. Es sind noch nicht allzu viele Leute da, typisch für die erste Stunde. Die Hälfte des Kurses stürzt erst um kurz vor acht in den Raum, obwohl man es sich besonders bei Frau Heyme nicht erlauben sollte, zu spät zu kommen. Sie freut sich immer über Opfer, die sie direkt zur mündlichen Leistungskontrolle drannehmen kann. Ich setze mich neben Sanna auf meinen Platz und packe Biobuch, Collegeblock und Schreibzeug auf den Tisch.

»Hey, Tally, ich hab’s gerade gehört. Wie geht’s dir denn?« Jenny hockt sich auf den Stuhl zu meiner anderen Seite und schaut mich mit großen Hundeaugen an.

Ich finde, sie sollte weniger Mascara benutzen. Außerdem redet sie im Normalfall nie mit mir. »Was meinst du überhaupt?«, frage ich patzig und starre ihr ins Gesicht.

Ihre Augen werden noch ein bisschen größer und sie stammelt verwirrt: »Na, das mit deinem Vater … das tut mir leid.«

Ich runzle die Stirn und drehe mich weg. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Sanna Jenny besänftigend anblinzelt. Jenny springt auf und verdrückt sich an ihren Platz. Sanna stupst mich an, sagt aber zum Glück immer noch nichts. Trotzdem weiß ich, was sie von mir will. Das war doch nur nett gemeint, bedeutet ihr Stupser. Aber das glaube ich nicht. Es war einfach nur sensationslustig. Sie wollen alle wissen, was passiert ist. Hinter meinem Rücken höre ich sie beinahe flüstern. Ich kann mir vorstellen, wie die Nachrichten, die in den Pausen unsichtbar von einem Handy zum anderen schweben, in etwa lauten: Hast du schon gehört? Das mit Tallys Vater? – Ja, der ist tot. Schlimm, oder? Weißt du, warum? – War der nicht so ein bekannter Arzt? Der hatte bestimmt einen Unfall … Eine tödliche Krankheit hätten Mediziner wie die doch bestimmt rechtzeitig bemerkt. Tallys Mutter ist doch auch Ärztin, oder? – Ja, stimmt. Es muss ein Unfall gewesen sein.

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich verpasse, wie Frau Heyme in die Klasse kommt. Ich schrecke erst auf, als ich meinen Namen höre.

»Talitha Kramer, ich habe dich aufgerufen. Würdest du bitte die Güte haben, an die Tafel zu kommen?«

Ich sitze wie festgenagelt auf meinem Stuhl und starre sie ungläubig an. Ruft sie mich allen Ernstes auf, da vorn mein Wissen zu präsentieren?

»Was ist los? Hast du dich etwa nicht vorbereitet?«

Ich bin immer noch bewegungsunfähig, aber nun meldet sich Sanna an meiner Stelle zu Wort: »Frau Heyme, vielleicht können Sie eine Ausnahme machen. Sie war gestern auf einer Trauerfeier.«

Frau Heymes Blick wird finster. »Dann hätte sie eben vorgestern lernen müssen. Das ist keine Entschuldigung.«

»Es war die Beerdigung ihres Vaters.«

Jetzt wird die Lehrerin plötzlich rot.

Siebzehn Augenpaare richten sich auf mich und ich höre, wie ein paar meiner Mitschüler scharf die Luft einziehen.

»Das äh ist natürlich etwas anderes. Mein Beileid.« Frau Heyme sieht kurz so aus, als würde sie die Leistungskontrolle damit für heute ausfallen lassen, dann fängt sie sich jedoch wieder. »Ja, dann schlage ich vor, dass du den Test für heute übernimmst, Sanna.«

Ein leises Murmeln deutet an, dass die meisten es herzlos finden, angesichts der Todesnachricht überhaupt einen Test stattfinden zu lassen.

Aber Sanna zuckt mit den Schultern und geht nach vorn. Sie ist vorbereitet, wie immer. Bio ist eben ihr Lieblingsfach. Während sie fehlerfrei über die Vererbungslehre referiert, versuche ich, meine Gedanken in diesen Raum hier zu ziehen, aber es ist schwer. Vor meinem inneren Auge sehe ich das Krankenbett, das blasse Gesicht meines Vaters und den blinkenden Bildschirm neben seinem Kopfende.

»Mach dir keine Sorgen, Füchslein«, sagt er. Seine Stimme ist leise und ein bisschen rau, aber warm wie immer. »Jeder von uns stirbt irgendwann. Ich hätte mir auch gewünscht, noch ein bisschen länger bei dir bleiben zu können, aber so ist es nun einmal.«

Ich spüre, wie mein Herz heftig pocht. »Aber das ist ungerecht«, flüstere ich in meiner Erinnerung.

Paps lächelt. Er lächelt immer, wenn ich wütend werde. Nicht verächtlich, sondern verständnisvoll. Dafür liebe ich ihn, denn das macht sonst niemand.

»Weißt du … das Sterben ist wie eine Geburt, nur rückwärts.«

Ich schaue ihn vollkommen verständnislos an. Seine Augen sind ruhig und klar; ich weiß, dass er das alles im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sagt. »Wie meinst du das?«, frage ich heiser.

Das Lächeln sitzt tief in seinen Augen. »Der, der loslassen muss, erfährt unerträglichen Schmerz. Davor hast du Angst. Aber für denjenigen, der geboren wird oder stirbt, ist es der Beginn eines neuen Abenteuers, der Übergang in eine neue Welt. Es wartet Glück auf dich, Tally. Sei bereit, es zu umarmen.«

Sanna kommt an ihren Platz zurück und reißt mich mit dem Rücken ihres Stuhles aus meinen Gedanken. Ich kann mich an diese Unterhaltung mit meinem Vater so klar und deutlich erinnern, als hätte ich sie gefilmt und könnte sie jederzeit abspielen. Sogar der Geruch des Desinfektionsmittels ist abgespeichert, vermischt mit dem leisen Duft nach Mittagessen, der vom Flur ins Zimmer geweht kam. Wer auch immer auf der Intensivstation in der Lage ist, ein ordentliches Mittagessen zu verspeisen. Mein Vater war es jedenfalls nicht.

»Tally, du musst dein Buch aufschlagen!«

Sanna schiebt mir das Lehrwerk hin und zeigt mit dem Finger auf die Seitenzahl.

»Tut mir leid«, murmle ich automatisch und folge ihrer Aufforderung. Tut mir leid, Paps. Ich muss mich jetzt auf mein Leben konzentrieren. Es gibt schließlich nichts Wichtigeres als die Kombinationsmöglichkeiten von Desoxyribonukleinsäuren.

Irgendwie vergeht die Stunde, ohne dass Papa dazwischenfunkt. Allerdings bekomme ich vom Stoff auch nicht wirklich viel mit. Mein Kopf füllt sich mit Informationen, aber irgendwo zwischen Kurzzeit- und Langzeitspeicher gibt es ein leises Puffen und alles ist weg. Sanna wirft mir immer wieder prüfende Seitenblicke zu. Vielleicht befürchtet sie, dass ich jederzeit in Tränen ausbrechen könnte. Aber die Gefahr besteht nicht. Gestern Abend, als ich allein in meinem Zimmer war, habe ich geweint. Nein, nicht geweint: geheult. Geheult wie nie zuvor in meinem Leben, mit so vielen Tränen, dass unmöglich noch eine übrig geblieben sein kann. Am Ende bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Und als ich heute Morgen aufgewacht bin, wusste ich, dass ich nie wieder in meinem ganzen Leben weinen werde. Es ist einfach alles aufgebraucht.

* * *

Der ganze Schultag läuft einfach so an mir vorbei. Ich setze mich in den Unterricht, trotte hinter Sanna her die Flure entlang, wenn wir den Klassenraum wechseln müssen. Ich esse mein Pausenbrot, beantworte die Fragen meiner Freunde, lächle und fühle rein gar nichts.

»Er hatte Krebs.«

»Nein, es kam überraschend.«

»Ich denke, dass er es schon lange gefühlt hat, aber er hat es nicht ernst genommen.«

»Ja, er war Arzt. Aber Ärzte können auch Fehler machen.«

Als die letzte Stunde zu Ende ist, nehme ich meine Sachen und gehe zum Ausgang.

»Was machst du heute Nachmittag?«, fragt Sanna und wirft ihr Haar mit einer eleganten Kopfbewegung in den Nacken.

Ein Typ aus der Zwölften schielt zu uns herüber.

»Gar nichts«, antworte ich. Ich werde nach Hause gehen und mich ins Bett legen. Dann mache ich die Augen zu und denke an gar nichts. So einfach. Und das werde ich für den Rest meines Lebens machen. Vielleicht stehe ich auch einfach gar nicht mehr auf. Sanna erzähle ich das nicht. Sie würde nur...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Christlicher Glaube • Freundschaft • Gott • Intergenerationalität • Liebe • Mutter-Tochter-Beziehung • Schreiben • Tod • Trauer • Verlust
ISBN-10 3-96362-890-1 / 3963628901
ISBN-13 978-3-96362-890-0 / 9783963628900
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