Die Wahrheit schmeckt nach Marzipan
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-212-0 (ISBN)
Anni E. Lindner ist Heilsarmeeoffizierin und lebt in dieser Funktion mit ihrem Mann und den sechs Kindern ein fröhliches Nomadenleben. Derzeit leitet das Ehepaar das Kinder- und Familienzentrum »Heilse« in Chemnitz.
Prolog Der Tod. Er schwebt über meinem Leben, dunkel und bedrohlich. Ich weiß nicht, wann er das nächste Mal zuschlägt. Ich habe versucht, ihn zu verdrängen, aber er lässt sich nicht ausklammern. Er kommt, wann er will, und ich kann mich nicht wehren. Ich liege im Bett und stelle mir vor, wie er ist. Gefährlich leise, wie ein Raubtier. Er beobachtet, schleicht sich an, lauert. Und springt. Schlägt seine Krallen in mein Fleisch und drückt mir die Luft ab. Ich höre ihn höhnisch lachen, während das Leben aus mir weicht. Ausgelöscht. Dieser Tod lässt mich zittern, schlottern vor Angst, verkrampft mir den Magen. Aber manchmal träume ich, dass er anders ist. Es ist nur eine ferne Ahnung, ein Gefühl, dass es ihn nicht wirklich gibt. Dass er nur eine Tür ist, und hinter dieser Tür funkeln bunte Farben, wilder und wärmer als das Leben. Und dann ist da einer, der auf mich wartet. Er steht in der Tür und lächelt. Ich weiß, er wird mich umarmen, wenn ich komme. Und vielleicht, vielleicht ist das die Wahrheit. Aber wer weiß das schon. Kapitel 1 »Erde zu Erde, Asche zu Asche …« Krümel trockener Erde prasseln auf den Sarg, der da unten in diesem Loch liegt. Sauber ausgehobene Wände, glatt geschliffenes Holz, glänzender Lack. Ein Blumenbouquet in seinen Lieblingsfarben. Tock. Ein Steinchen springt zur Seite. »... Staub zu Staub.« Der Pfarrer wirft die letzten Erdkrumen von der Hand, als wolle er den Tod von seinen Fingern schütteln. Sein Blick hebt sich von dem kleinen rotbraunen Buch in seiner Hand und gleitet über die Menge. Über uns. Er soll wohl andächtig sein, wirkt aber eher vorwurfsvoll. Der Tod, er hat wieder zugeschlagen. Und keiner hat es verhindert, nicht einmal er mit seiner salbungsvollen Stimme. »Aus Staub sind wir gemacht, zu Staub müssen wir wieder werden. Möge Paul Kramer in Frieden ruhen. Möge er schauen, was er geglaubt hat.« Ich zucke zusammen, als ich seinen Namen höre. Paul Kramer. So nenne ich ihn nie. Ich nenne ihn Papa, manchmal auch Paps, wenn ich besonders gute Laune habe. Gute Nacht, Papa. Ich hab dich lieb. Nein, das ist alles einfach surreal. Ich stehe doch nicht wirklich an diesem Grab, und wenn, dann liegt da unten nur ein leerer Kasten. Nie im Leben ist das die Beerdigung meines Vaters, niemals. Ich weiß genau, dass ich gleich aufwache. Irgendwann muss dieser schräge Traum ein Ende haben. Bestimmt vibriert gleich mein Handy und es ist vorbei. Dann schlage ich die Augen auf, sehe die Morgensonne durch die Jalousien scheinen und atme auf. »Es ist Zeit.« Meine Mutter gibt mir einen sanften Stups und schiebt mich näher an das Grab heran. Der Pfarrer starrt mit leerem Blick auf die obere Kante der Grube. Ich bemerke die Rose in meiner Hand. Meine Mutter hat sie mir vorhin gegeben, als wir die Kirche betreten haben. Ich mache einen Schritt auf die Grube zu und fühle, wie ich wanke. Ich halte mich an meiner Mutter fest, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Nur damit ich nicht in das Grab hineinfalle. Obwohl, vielleicht wäre das gar nicht so schlimm. Ich will ihn umarmen. Ich will mich an ihn kuscheln und ihn sagen hören, dass alles gut ist. Dass es wirklich nur ein böser Traum war. Die Rose meiner Mutter landet mit einem sanften Plopp auf dem Deckel des Sarges. Ich vernehme ein Schniefen, ein hartes Schluchzen; unterdrückt und leise nur, aber umso verzweifelter. Meine Hand zittert. »Gute Nacht, Papa«, höre ich mich flüstern. Die Rose fällt in die Tiefe und rutscht neben den Sarg. Dann wird mein Kopf auf einmal klar. Ich sehe die Erde und die Blumen, ich fühle den leichten Windstoß auf dem ansonsten heißen Friedhof. Streiche mir unwillkürlich eine Strähne meines roten Haares aus der Stirn, das Paps so geliebt hat. Die Gegenwart der Menschen hinter mir ist angespannt ruhig und gedrückt. Als ich zurücktrete, wanke ich nicht mehr. Nein, ich träume nicht. Das hier ist die Realität. Ich stelle mich neben meine weinende Mutter und schaue die Menschen an. Ihre Blicke sind entweder auf den Boden gerichtet oder auf den Rücken der Person vor ihnen. Sie tragen Schwarz oder zumindest gedeckte Farben – eine dunkle Menge zwischen den blumengeschmückten Gräbern. Der Himmel ist unverschämt blau. Jetzt kommt der Erste zu uns, um zu kondolieren. Es ist Opa Bernd, der Vater meines Vaters. Sein Gesicht ist blass, die Augen sind rot unterlaufen. Er drückt mich. Oma Ute laufen die Tränen über die Wangen und ich bin ganz nass, nachdem sie mich umarmt hat. Die beiden tun mir leid. Es muss schwer sein, das eigene Kind zu beerdigen. Danach kommen die Eltern meiner Mutter, meine Tanten und die beiden Cousinen, Freunde meines Vaters, Freunde meiner Mutter und unendlich viele Studenten und Kollegen von Papa Paul Kramer, Facharzt und Dozent für Lungenchirurgie an der Charité. Ich sehe ihnen allen ins Gesicht, während sie mir die Hand drücken. Es scheint sie zu verwirren. Die meisten schlagen die Augen nieder und murmeln irgendetwas Unverständliches, bevor sie rasch zu meiner Mutter weitereilen und ihr ihr Beileid aussprechen. Es dauert lange, bis sie alle vorbeigezogen sind. Ich bin froh darüber, denn es zeigt, dass mein Papa ein angesehener Mann war. Natürlich wird die Flut von Trauerkarten und Zeitungsanzeigen, die uns in den letzten Tagen überschwemmt hat, bald enden. Sobald der Schock über den unerwarteten Tod Dr. Kramers sich gelegt hat, werden alle zu ihren Alltagsgeschäften übergehen. Aber jetzt, heute, sehe ich sie alle. All die, die mein Papa beeinflusst hat. Deren Leben mit seinem verknüpft sind – als Freund, als Chef, als Lebensretter. Ich will glauben, dass sein Leben nicht sinnlos war, weil er so vielen etwas bedeutet. Sein Tod ist es trotzdem, das steht für mich fest. Und ich drehe mich um, als der Letzte kondoliert hat, werfe ich dem Grab einen letzten Blick zu und lasse den Friedhof hinter mir. Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. Es ist zwölf Uhr siebenunddreißig, meine beste Freundin Sanna hat mir eine Nachricht geschickt. Ich bin wach. Hellwach und lebendig. Das hohe Tor des Friedhofs knarzt, als ich es schließe. Auf der Straße tobt der Verkehr. Meine Mutter hängt sich an meinen Arm und schnieft.
Erscheinungsdatum | 26.02.2021 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 205 mm |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Kinder- / Jugendbuch ► Sachbücher ► Religion / Philosophie / Psychologie | |
Schlagworte | Christlicher Glaube • Freundschaft • Gott • Intergenerationalität • Liebe • Mutter-Tochter-Beziehung • Schreiben • Tod • Trauer • Verlust |
ISBN-10 | 3-96362-212-1 / 3963622121 |
ISBN-13 | 978-3-96362-212-0 / 9783963622120 |
Zustand | Neuware |
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