Mein Bruder heißt Jessica (eBook)
256 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0351-9 (ISBN)
John Boyne wurde 1971 in Dublin, Irland, geboren, wo er auch heute lebt. Er ist der Autor von zwanzig Romanen, darunter Der Junge im gestreiften Pyjama, der sich weltweit über elf Millionen Mal verkaufte, zahlreiche internationale Buchpreise gewann und mit großem Erfolg verfilmt wurde. John Boynes Romane wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt.
John Boyne wurde 1971 in Dublin, Irland, geboren, wo er auch heute lebt. Er ist der Autor von zwanzig Romanen, darunter Der Junge im gestreiften Pyjama, der sich weltweit über elf Millionen Mal verkaufte, zahlreiche internationale Buchpreise gewann und mit großem Erfolg verfilmt wurde. John Boynes Romane wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Adelheid Zöfel lebt und übersetzt in Freiburg im Breisgau. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Marisha Pessl, Chuck Klosterman, Bill Clegg, David Gilmour, Janice Deaner und Louise Erdrich.
1 Der seltsame Nachmittag
Es gibt eine Geschichte, die ich sehr oft gehört habe, und in der Geschichte geht es darum, woher mein Bruder Jason die Narbe über seinem linken Auge hat, die fast parallel zu seiner Braue verläuft. Er war vier, als ich auf die Welt kam, und seit er denken konnte, hatte er sich einen Bruder, eine Schwester oder einen Hund gewünscht. Aber Mum und Dad sagten immer: Nein.
»Kein Mensch braucht mehr als ein Kind«, erklärte Dad. »Unser Planet ist sowieso schon überbevölkert. Weißt du, dass in der Parallelstraße eine Familie mit sieben Kindern wohnt? Und die Kinder sind alle jünger als sechs!«
»Geht doch gar nicht«, protestierte mein Bruder Jason. Er war zwar noch ein Kind, hatte aber doch schon eine Ahnung von den Tatsachen des Lebens.
Dad grinste. »Zwei Zwillingspaare.«
»Und mit einem Hund muss man dauernd Gassi gehen«, fügte Mum hinzu. »Und bevor du jetzt sagst, die Aufgabe übernimmst du – wir wissen alle, das versprichst du heute, und am Schluss bleibt die ganze Arbeit dann doch an deinem Vater und mir hängen.«
»Aber –«
»Sie machen außerdem jede Menge Dreck«, sagte Dad.
»Wer?«, fragte mein Bruder Jason. »Die Hunde oder die Geschwister?«
»Beide.«
Mum und Dad waren also strikt dagegen, dass unsere Familie Zuwachs bekam, deshalb muss es für meinen Bruder Jason ein ziemlicher Schock gewesen sein, als sie ihm eines Tages eröffneten, dass sein Wunsch nun doch in Erfüllung gehe und er in sechs Monaten ein neues Geschwisterchen haben würde. Offenbar war er dermaßen begeistert, dass er in den Garten rannte und zwanzig Minuten lang schreiend im Kreis herumraste, bis ihm total schwindelig war, und er umkippte und mit dem Kopf auf einen Gartenzwerg knallte.
Aber die Narbe stammt nicht von diesem Sturz.
Als ich auf die Welt kam, gab es ein Problem. Ich hatte ein Loch im Herzen, und die Ärzte dachten, ich würde nicht lange leben. Das Loch war zwar nur so groß wie ein Stecknadelkopf, aber bei einem Baby ist das Herz selbst nicht größer als eine Erdnuss, und deshalb kann so ein Loch echt gefährlich sein. Ich musste ein paar Tage in einem Brutkasten liegen, und dann wurde ich in einen Operationssaal gebracht, wo ein ganzes Chirurgenteam versuchte, den Fehler zu reparieren. Mein Bruder Jason war zu Hause und weinte so schrecklich, dass er vom Stuhl fiel und mit dem Kopf gegen den Couchtisch donnerte.
Aber die Narbe stammt auch nicht von diesem Sturz.
Die Ärzte teilten meinen Eltern mit, die folgende Woche sei entscheidend, aber weil sie beide superwichtige Jobs hatten, konnten sie nicht ständig bei mir bleiben – Mum ist inzwischen Ministerin, aber damals war sie noch eine ganz normale Parlamentsabgeordnete, und Dad arbeitet schon immer als ihr Privatsekretär. Sie mussten sich im Krankenhaus abwechseln. Mum war vormittags bei mir, wenn das Parlament nicht tagte, wurde aber dauernd zu irgendwelchen Sitzungen gerufen. Dad kam am Nachmittag. Er wollte allerdings auch nicht allzu lange bleiben, falls irgendwelche »Entwicklungen« eintraten, wie er sich ausdrückte, denn dann musste er so schnell wie möglich nach Westminster zurück. Mein Bruder Jason durfte am Abend nach der Operation das erste Mal zu mir, und obwohl er ja erst vier Jahre alt war, weigerte er sich, wieder nach Hause gehen. Er machte so einen Aufstand, dass die Schwestern schließlich eine Pritsche neben meinen Brutkasten stellten und ihn dableiben ließen.
»Das Baby spürt vielleicht, dass jemand bei ihm ist und aufpasst«, sagte eine Schwester. »Das kann nichts schaden.«
»Hier ist er wenigstens gut aufgehoben«, sagte Mum.
»Außerdem müssen wir dem Au-pair keine Überstunden bezahlen«, ergänzte Dad.
Aber ein paar Nächte später gaben die Maschinen, die mich am Leben hielten, irgendwelche Geräusche von sich, und mein Bruder Jason bekam so einen Schreck, dass er aus seinem Bett taumelte, um einen Arzt zu holen, und weil es im Zimmer dunkel war, stolperte er über das Kabel des Infusionsständers. Als gleich darauf die Schwester angerannt kam, stellte sie fest, dass ich friedlich schlief, während mein Bruder Jason völlig benommen auf dem Fußboden lag, mit einer blutenden Wunde über dem Auge.
»Sie dürfen meinen Bruder nicht sterben lassen!«, schrie er verzweifelt, als die Schwester sich seine Verletzung anschaute.
»Sam wird nicht sterben«, beruhigte ihn die Schwester. »Schau ihn dir an – ihm geht’s prima. Er schläft tief und fest. Aber dich müssen wir nähen. Hier, drück das Handtuch gegen die Stirn, und dann gehen wir in mein Büro.«
Doch mein Bruder Jason war davon überzeugt, dass mit mir etwas nicht stimmte und etwas ganz Schlimmes passieren würde, wenn er mich allein ließ. Er weigerte sich, das Zimmer zu verlassen, und letztlich blieb der Schwester nichts anderes übrig, als die Wunde an Ort und Stelle zu nähen. Ich glaube, sie war noch relativ neu in ihrem Job, denn die Naht ist ihr nicht besonders gut gelungen.
Und daher hat mein Bruder Jason die Narbe.
Ich finde diese Narbe schon immer ganz toll, weil ich jedes Mal, wenn ich sie sehe, daran denken muss, dass er unbedingt bei mir bleiben wollte, als es mir schlecht ging. Für mich beweist diese Geschichte, wie sehr mein Bruder Jason mich liebt. Selbst als er anfing, sich die Haare wachsen zu lassen und ich die Narbe nicht mehr so oft sehen konnte, weil ihm der Pony in die Stirn fiel, wusste ich, dass sie da ist. Und ich wusste, was sie bedeutet.
Seit ich denken kann, kümmert sich mein Bruder Jason um mich. Klar, da waren auch die Au-pairs – viele Au-pairs. Meine Mutter sagte nämlich, wenn sie ihren Wählern nicht den Vorrang gibt, entscheiden die sich bei der nächsten Wahl für die andere Partei, und dann geht das ganze Land vor die Hunde. Und Dad sagte, es ist wichtig, dass Mum immer mit einem gewaltigen Vorsprung gewinnt, wenn sie auf der Karriereleiter noch weiter nach oben klettern will.
»Bei der Partei kommt es gut an, wenn sie nicht einfach nur so gewinnt, sondern mit einem Riesenabstand.«
Die Au-pairs blieben nie besonders lang. Sie sagten, sie seien Profis und hoch qualifiziert, hätten die Universität besucht, würden ihre Rechte kennen und sich nicht wie Sklaven behandeln lassen. Und Mum wies bei diesen Debatten immer darauf hin, wenn sie tatsächlich so hoch qualifiziert und gebildet seien, müssten sie doch eigentlich wissen, dass Sklaven nicht bezahlt wurden, wohingegen sie ja durchaus ein Gehalt bekämen. Dann wandte sie sich an Dad und sagte so etwas wie: »Das sind die Leute, die auf Demonstrationen gehen und gegen alles Mögliche protestieren, aber keinen Finger krumm machen, um anderen zu helfen.« Bei diesen Streitereien wurde kein Thema ausgespart, alles kam zur Sprache, vom Niedergang des Gesundheitswesens bis zur atomaren Abrüstung, von den steigenden U-Bahn-Preisen bis zum Friedensprozess im Nahen Osten.
Manchmal einigten sich meine Eltern und die Au-pairs auf irgendwas, aber diese Einigung hielt meistens nur ein paar Wochen, und schon flackerte der Streit wieder auf. Dann wurde die ursprüngliche Stellenanzeige hervorgezerrt, und das Au-pair-Mädchen (einmal war es auch ein Junge) wies darauf hin, dass da nicht stand, sie müsse auch die Kleider der Eltern bügeln und im Vorgarten Unkraut jäten sowie Tausende von Wahlflugblättern falten und in Briefumschläge stecken, während ihre Arbeitgeber im Wohnzimmer sitzen und fernsehen. Mum deutete dann auf den Punkt andere allgemeine Haushaltsarbeiten, und schon ging das Geschrei wieder los. Es fiel der Satz »Wenn es Ihnen hier nicht passt, können Sie ja gehen«, und anschließend stritten sich Mum und Dad. Dad sagte: »Es dauert bestimmt eine Ewigkeit, bis wir ein neues Au-pair finden, und ich muss dann die ganze Zeit zu Hause bleiben bei den Blagen«, und Mum sagte: »Du willst doch nur, dass sie bleibt, weil du so gern auf ihren Po glotzt« – die Formulierung stammt von meiner Mum, ich zitiere nur. Und schließlich verkündete das Mädchen, sie streike jetzt für bessere Arbeitsbedingungen. Woraufhin sie zu hören bekam, dann könne sie gleich ihre Siebensachen packen und bis spätestens morgen Nachmittag verschwinden, auf Nimmerwiedersehen – und tschüs!
So kamen und gingen die Mädchen wie die Jahreszeiten, und ich wusste, es lohnt sich nicht, dass ich versuche, mich an eine von ihnen zu gewöhnen. Und als ich zehn war und mein Bruder Jason schon vierzehn, meinte Mum, wir bräuchten kein Au-pair mehr. Jason könne mich ja jeden Tag von der Schule nach Hause bringen, außer wenn er Fußballtraining hatte. In dem Fall sollte ich mich auf die Tribüne setzen und dort meine Hausaufgaben machen, bis das Training vorbei war. Und Jason sagte, »okay«, aber dann wolle er genauso viel Kohle wie die Au-pairs, und Dad sagte: »Du wohnst hier und musst keine Miete zahlen, du kriegst zu essen, und du hinterlässt so viel Dreck, von deinen Fußballschuhen und dem ganzen Krempel – wie wär’s, wenn wir sagen, wir sind quitt?«
Manche Leute denken vielleicht, dass sie ein paar gute Fußballer kennen, aber garantiert ist keiner von denen so gut wie mein Bruder Jason. Er fing an, Fußball zu spielen, als er gerade mal laufen konnte, und schon mit neun machte er einen Aufnahmetest bei der Arsenal-Fußballschule, aber da teilte man ihm mit, er sei noch nicht so weit. Nach einem Jahr wollten sie ihn noch mal sehen. Also ging er zwölf Monate später wieder hin, und der Coach sagte, er habe in der Zwischenzeit wahnsinnige Fortschritte gemacht, und bot ihm sofort einen Platz an, aber zur...
Erscheint lt. Verlag | 23.9.2020 |
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Übersetzer | Adelheid Zöfel |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Bestsellerautor • Bisexuelle Schwule Lovestory Liebesgeschichte • Bisexuelle Schwule Transgender Lovestory Liebesgeschichte • Brüder • Bücher Literatur über Diversity Homosexualität Transgender • Bücher über Homosexualität Transgender • Bücher über LGBT LGBTQ LGBTQI+ • Bücher über LGBTQI+ • Bücher zum Pride Month Christopher Street Day • Coming of Age Coming Out Liebesroman • Dating und Sex • Diversität • Diversity • Emotionen • England • Familie • Gay Schwule lesbische Literatur Jugendbücher Young Adult • Gay Schwule lesbische Literatur Young Adult • Gefühle • Geschwisterbeziehung • Jugendbuch ab 12 • Jugendbücher Jugendroman Liebe Freundschaft Gefühle Sexualität • Jugendliteratur • Kinderbücher Liebe Freundschaft Toleranz Vielfalt Diversity • LGBT • LGBTQ • Outing • Selbstvertrauen Selbstbewusstsein Selbstliebe • Selbstvertrauen Selbstliebe • Transgender • Trans-Mädchen • Vielfalt Diversity Toleranz queer Jugendbuch Kinderbuch • Vielfalt Toleranz queer Jugendbuch Kinderbuch |
ISBN-10 | 3-7336-0351-6 / 3733603516 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0351-9 / 9783733603519 |
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