Märsche der Moderne (eBook)
278 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45830-4 (ISBN)
Jürgen Dinkel, PD Dr. phil., ist Historiker; seit 2022 vertritt er die Professur für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Kai Nowak, Dr. phil., ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich für Historische Erziehungswissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg. Miriam Pfordte, M.A., ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts am Historischen Seminar der Universität Leipzig.
Jürgen Dinkel, PD Dr. phil., ist Historiker; seit 2022 vertritt er die Professur für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Kai Nowak, Dr. phil., ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich für Historische Erziehungswissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg. Miriam Pfordte, M.A., ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts am Historischen Seminar der Universität Leipzig.
Die Demonstration vom 4. Mai 1919 in Beijing. Ein Marsch als Wendepunkt der chinesischen Geschichte
Thoralf Klein
Am Nachmittag des 4. Mai 1919 zogen mehrere Tausend Studierende der Beijinger Hochschulen durch das Zentrum der chinesischen Hauptstadt. Ihr Protest richtete sich gegen die für China unbefriedigenden und demütigenden Verhandlungsergebnisse der Pariser Friedenskonferenz, die in den Tagen zuvor bekannt geworden waren. Verantwortlich für das diplomatische Debakel waren in den Augen der Demonstranten – zu diesem Zeitpunkt noch fast ausschließlich Männer – nicht nur das Ausland, insbesondere der unmittelbare Kontrahent Japan, sondern vor allem auch die eigene Regierung. Der Marsch, der einen wesentlichen Teil eines Bündels von Protestaktivitäten an diesem Tag bildete, nahm jedoch einen anderen Verlauf als geplant, und dies trug entscheidend zu einer Eskalation des Protests sowie einer Konfrontation mit den staatlichen Autoritäten bei. Trotz des letztlichen Scheiterns gab er das Startsignal für eine breite gesellschaftliche Bewegung, die als 4.-Mai-Bewegung in die Geschichte eingegangen ist.
Die Bewegung vom 4. Mai 1919 war weitaus mehr als eine politische Protestbewegung. Als Versuch, China mithilfe seiner Jugend von Grund auf zu erneuern, wies sie auch intellektuelle, soziale und kulturelle Dimensionen auf. In intellektueller Hinsicht ist sie mit der europäischen Aufklärung gleichgesetzt worden, weil sie auf der Basis (westlicher) Rationalität und Wissenschaft überkommene politisch-soziale Lehren, insbesondere den Konfuzianismus, infrage stellte.104 Ihre soziale Komponente war vielgestaltig: Unter Berufung auf ältere Führungsfiguren versuchten in erster Linie gebildete städtische Angehörige der jungen Generation, ein von überkommenen Autoritäten (vor allem Eltern und Familie) unabhängiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. Beispielsweise beanspruchten sie das Recht auf freie Partnerwahl statt arrangierter Ehen und die Neukonzeption der Familie als »Kleinfamilie« (xiao jiating), obwohl männliche Studierende und Schüler gegenüber ihren Kommilitoninnen nach wie vor ein beträchtliches Dominanzverhalten an den Tag legten, besonders in den frühen Phasen der Bewegung.105 Manche experimentierten demgegenüber mit kommunalen Lebensformen.106
Die Anhänger:innen der Bewegung waren jedoch nicht ausschließlich auf die Neugestaltung ihrer eigenen Lebensverhältnisse fokussiert. Vielmehr entdeckten sie ebenso wie ihre intellektuellen Führungsfiguren die soziale Frage und begannen darüber nachzudenken, wie sich die Situation von Industriearbeitern und Bauern verbessern ließe. Nicht zuletzt aus diesem Grund begann um diese Zeit die Rezeption marxistischen Gedankengutes.107 In kultureller Hinsicht schließlich markierte die 4.-Mai-Bewegung den Beginn einer literarischen Revolution, in deren Verlauf die gesprochene Umgangssprache zur allgemeinen Literatursprache wurde.108
Aus all diesen Gründen gilt die Bewegung in der chinesischen Historiografie als Wendepunkt, der den Übergang von einer mit dem Ersten Opiumkrieg von 1840 einsetzenden frühmodernen Geschichte (jindaishi) zu einer weiter fortgeschrittenen, bis zur kommunistischen Machtübernahme von 1949 reichenden modernen Geschichtsepoche (xiandaishi) markiert.109 Zugleich besteht ein noch nicht abschließend geklärtes Verhältnis zum Phänomen der Neuen Kulturbewegung, die sich in vielerlei Hinsicht mit der 4.-Mai-Bewegung überschnitt, aber zeitlich weiter gefasst (1915–1924) und als weniger politisch interpretiert wird.110
Angesichts der Breite und Dauer der 4.-Mai-Bewegung insgesamt spielt die Demonstration, von der sich ihr Name ableitet und die einen wichtigen Katalysator ihrer Entwicklung bildete, in der Forschungsliteratur zumeist die Rolle eines bloßen, wenn auch notwendigen Präludiums. Sie wird in Kürze abgehandelt, bevor sich die Autor:innen anderen und scheinbar wichtigeren Themen zuwenden. Dennoch haben einige chinesische Wissenschaftler, wie der später in den USA lehrende Zhou Cezong (Chow Tse-tsung), Peng Min und in neuerer Zeit Chen Pingyuan eingehende Analysen der Ereignisse dieses Tages vorgelegt.111
Auf Grundlage dieser Studien sowie zeitgenössischer Dokumente rekonstruiere ich Voraussetzungen, Verlauf und Folgen der Demonstration vom 4. Mai 1919. Unter der Prämisse, dass Demonstrationen aus mobilen sowie stationären Elementen bestehen, aus Märschen und Kundgebungen, frage ich hier insbesondere nach dem Einfluss des Marsches auf das Gesamtergebnis. Auf welche politischen Rahmenbedingungen und konkreten Anlässe reagierten die Demonstranten? Inwieweit erreichten sie die ihnen gesetzten Ziele und warum konnten die Proteste solche langfristigen Folgewirkungen entfalten? Inwiefern waren die Demonstration und vor allem der in diesem Rahmen abgehaltene Marsch Teil einer längerfristigen Politisierung öffentlicher Räume in China?
1.Auslöser: Die »Shandong-Frage« und die Schwäche der chinesischen Republik
Die Demonstration vom 4. Mai 1919 richtete sich gegen die Behandlung der »Shandong-Frage« auf der Pariser Friedenskonferenz und damit mittelbar gegen die sich darin manifestierende außenpolitische Schwäche Chinas. Dieser Machtlosigkeit nach außen entsprach eine innenpolitische Fragmentierung, die als Voraussetzung für den Marsch am 4. Mai mit in Betracht gezogen werden muss.
Chinas Absturz von den Höhen der weltpolitischen Bühne vollzog sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das Eindringen des westlichen Imperialismus. Nach dem Sieg der Briten im Ersten Opiumkrieg (1840-1842) zwangen eine Reihe europäischer Staaten sowie die USA dem Reich der Qing-Dynastie (1644-1912) sogenannte »ungleiche Verträge« auf, die dessen Souveränität empfindlich einschränkten. Diese Verträge räumten den westlichen Ausländern in China Privilegien wie Exterritorialität und Konsulargerichtsbarkeit ein, beraubten China seiner Zollhoheit und erleichterten damit den Import westlicher Produkte in das Reich der Mitte. In den 1890er Jahren trat nicht nur Japan an die Seite der bisherigen imperialistischen Mächte, sondern diese gingen vom Freihandels- zum Finanzimperialismus über, indem sie Infrastrukturprojekte wie Eisenbahn- und Bergbau mittels der chinesischen Regierung aufgezwungener Anleihen finanzierten.112 In diesem Zusammenhang rissen sie Stützpunktkolonien (»Pachtgebiete«) an sich, um mit deren Hilfe das chinesische Hinterland zu erschließen. Den Anfang machte das Deutsche Reich, als es im Herbst 1897 im Handstreich die Jiaozhou-Bucht an der Südküste der Shandong-Halbinsel besetzte, dort in der Folgezeit die Stadt Qingdao gründete und der Qing-Regierung Eisenbahn- sowie Bergbaukonzessionen in der Provinz Shandong abtrotzte.
Die republikanische Revolution von 1911 sollte dieser Schwäche Chinas eigentlich ein Ende setzen. Viele ihrer Anhänger hofften, der Sturz der mandschurischen Fremdherrschaft und die Ablösung der Monarchie durch eine nationale chinesische Republik würden China zu einem gleichberechtigten Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft werden lassen.113 Dass diese Hoffnungen enttäuscht wurden, lag nicht zuletzt daran, dass es schon kurz nach dem Ausbruch des antimonarchischen Aufstandes zu einem militärischen Patt zwischen zwei gegensätzlichen Lagern kam: Im Süden triumphierten die Anhänger der Revolution und wählten den Berufsrevolutionär Sun Yatsen (1866-1925) zum provisorischen Präsidenten der neuen Republik. Der Norden fiel dagegen in die Hände konservativerer Kräfte um den hochrangigen kaiserlichen Beamten und Militär Yuan Shikai (1859-1916), der sich vor allem auf die von ihm kontrollierte Beiyang-Armee stützte. Um diesen Stillstand politisch zu überwinden, ermöglichte Sun Yatsen im März 1912 die Wahl Yuans zum Präsidenten. Hingegen errang bei den Parlamentswahlen im Herbst desselben Jahres die von revolutionären Anhängern Sun Yatsens gegründete Guomindang (Nationalpartei) die Mehrheit der Sitze.
Der Konflikt zwischen Präsident und Parlament war somit vorprogrammiert. Yuan Shikai beendete ihn, indem er zunächst die Guomindang und schließlich, verfassungswidrig, das gesamte Parlament zwangsweise...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Co-Autor | Nikola Baković, Jürgen Dinkel, Maria Framke, Dieter Gosewinkel, Thoralf Klein, Dirk van Laak, Daniel Roger Maul, Maren Möhring, Kai Nowak, Miriam Pfordte, Ute Schneider, Winfried Speitkamp, Olaf Stieglitz, Fritzi-Marie Titzmann, Michael Wildt |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Bauerproteste • Demo • Demonstrationen • Fridays For Future • Geschichte • Globalisierung • kundgebung • Marche des Beurs • Marsch • Marsch auf Washington • Martin Luther King • Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts • Menschenzüge • öffentliche Raumbesetzung • Ostermarsch • Pegida • Politische Kulturgeschichte • politische Partizipation • Protest • Protestmärsche • Reenactmentmärsche • Salzmarsch • Slut walks • Soziale Bewegung • Straßenpolitik |
ISBN-10 | 3-593-45830-6 / 3593458306 |
ISBN-13 | 978-3-593-45830-4 / 9783593458304 |
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