Unsichtbare Geschichte(n) sichtbar machen (eBook)
534 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45504-4 (ISBN)
Anja Werner, PD Dr., leitet an der Universität Erfurt eine DFG-Forschungsgruppe über gehörlose westliche Missionar:innen und Gehörlosenbildung in Westafrika. Sie war von 2020 bis 2024 Co-Koordinatorin des DFG-Netzwerks »Gehörlosengeschichte«. Marion Schmidt, PhD ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Universitätsmedizin Göttingen. Von 2020 bis 2024 koordinierte sie das DFG-Netzwerk »Gehörlosengeschichte«.
Anja Werner, PD Dr., leitet an der Universität Erfurt eine DFG-Forschungsgruppe über gehörlose westliche Missionar:innen und Gehörlosenbildung in Westafrika. Sie war von 2020 bis 2024 Co-Koordinatorin des DFG-Netzwerks »Gehörlosengeschichte«. Marion Schmidt, PhD ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Universitätsmedizin Göttingen. Von 2020 bis 2024 koordinierte sie das DFG-Netzwerk »Gehörlosengeschichte«.
Zeugen des Sprachwandels: Historische Gebärdenbeschreibungen und ihre Bedeutung für die Erforschung von Gebärdensprachwandel
Hanna Jaeger
Einleitung
In der Gebärdensprachlinguistik wird immer wieder lamentiert, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute praktisch keine umfangreiche, historische Forschung gibt, die Aufschluss über frühere Sprachzustände ausgewählter Gebärdensprachen geben könnte. Häufig wird dies damit begründet, dass die Möglichkeit der Aufnahme bewegter Bilder erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts besteht und somit angemessen dokumentiertes Gebärdensprachmaterial auch frühestens in dieser Zeit zu identifizieren ist. Auch die Abwesenheit einer Gebrauchsschrift, die die Rekonstruktion gebärdensprachlicher Zeichen ermöglichen könnte, wird oft als Begründung für die eher untererforschte Natur dieses Bereichs genannt.
In den letzten Jahren haben sich viele Bibliotheken zunehmend darum bemüht, historische Schriften zu digitalisieren. Dadurch können immer mehr Gebärdenbeschreibungen aus alten Texten über digitale Suchanfragen gefunden werden. Angesichts der zunehmenden Verfügbarkeit von Gebärdenbeschreibungen in historischen Texten aus dem 19. Jahrhundert stellt sich die Frage, ob die Ausgangssituation für entsprechende Betrachtungen tatsächlich so schlecht ist, wie sie häufig präsentiert wird. Lassen sich nicht möglicherweise doch Wege abseits von Video und Alltagsschrift finden, die es ermöglichen könnten, gesichertes Wissen über historische Ausprägungen von Gebärdensprachen zu generieren? Diese Frage aufgreifend, beschäftigt sich das vorliegende Kapitel mit Möglichkeiten und Begrenzungen, die sich aus der Analyse historischer Gebärdenbeschreibungen für die historisch orientierte Gebärdensprachforschung ergeben.
Zunächst soll skizziert werden, was aus heutiger Sicht unter Gebärdensprache zu verstehen ist, was diesen speziellen Sprachtypus ausmacht und warum Gebärdensprachen heute aus linguistischer Sicht uneingeschränkt als natürliche Sprachen eingeordnet werden. Anschließend geht es um historische Perspektiven auf Gebärdensprache. Hier wird zunächst dargestellt, wie die räumlich-visuelle Kommunikation gehörloser Personen im 19. Jahrhundert wahrgenommen und sprachtheoretisch verortet wurde. In diesem Zusammenhang wird unter anderem aufgezeigt, dass historische Auseinandersetzungen mit Gebärdensprache zum Teil zwar ähnliche Begriffe verwenden, dabei jedoch von völlig anderen Konzepten ausgehen, als dies in der modernen Gebärdensprachlinguistik der Fall ist. Im dritten und vierten Abschnitt geht es schwerpunktmäßig um Herausforderungen im Zusammenhang der Erforschung von Gebärdensprachwandel. Zunächst wird auf die (zum Teil mangelnde) Verfügbarkeit geeigneter Daten eingegangen, anschließend werden außer-sprachliche Bedingungen beleuchtet, die in der Entwicklung der akademischen, historisch orientierten Gebärdensprachwandelforschung eine Rolle spielen. Nach einer kurzen Betrachtung des Wissenschaftsgegenstands Gebärdensprachwandel in Teil fünf, wird in Teil sechs anhand von konkreten Beispielen veranschaulicht, worin das Potential historischer Gebärdenbeschreibungen für die Gebärdensprachwandelforschung liegen könnte. Daran anschließend wird im abschließenden Teil dieses Aufsatzes das Potential historischer Gebärdenbeschreibungen für die Gebärdensprachwandelforschung kritisch reflektiert.
Auch im Kontext der Gebärdensprachforschung zeigt sich, dass die Wahl der politisch korrekten Verwendung von Begriffen, mit denen man auf von Gehörlosigkeit betroffene Personen und/oder entsprechende Institutionen (zum Beispiel Schulen, Vereine, Verbände, etc.) referenzieren möchte, nicht selten den Charme von »Topfschlagen im Minenfeld«41 hat. Theoretisch betrachtet könnte man die Begriffe »taubstumm«, »taub« und »gehörlos« als drei Varianten ein und desselben Konzeptes verstehen. In der Praxis gibt es jedoch deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung und regional auch im Gebrauch der unterschiedlichen Begriffe. »Taubstumm« war über lange Zeit hinweg die gängige und unmarkierte Bezeichnung für Personen mit Hörschädigungen. Das heißt, sie hatte zunächst keinen abwertenden Beigeschmack. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wird »taubstumm« seitens tauber Signer42im gesamten deutschsprachigen Raum jedoch als diskriminierend empfunden und folglich kategorisch abgelehnt.
Das Stimmungsbild im Hinblick auf »taub« und »gehörlos« ist dagegen nicht ganz so eindeutig. In Deutschland wird seit einigen Jahren der Terminus »taub« (zum Beispiel im Zusammenhang mit Begriffen wie »Taubengemeinschaft«, »Taubheit«, etc.) von Teilen der Gebärdensprachgemeinschaft als Ausdruck einer selbstbewussten Identität reklamiert und positiv bewertet. Gleichzeitig scheint es, als würde der Begriff »gehörlos« zwar nicht grundsätzlich in ganzer Breite abgelehnt, aber dennoch im Alltag zunehmend verdrängt. In der deutschsprachigen Schweiz hingegen stellt sich die Situation zum aktuellen Zeitpunkt entgegengesetzt dar: die Variante »taub« ist explizit negativ konnotiert und findet darum im Alltagsgeschehen hörgeschädigter Personen praktisch keine Anwendung. Stattdessen gilt »gehörlos« als Terminus der Wahl. Obwohl in Österreich der Begriff »gehörlos« nach wie vor sehr verbreitet ist, werden hier – im Kontrast zur Schweiz – durchaus gelegentlich Situationen beobachtet, in denen der Begriff »taub« zur Anwendung kommt. Im vorliegenden Kapitel werden vorwiegend die Begriffe »gehörlos« und »taub« verwendet. Der Begriff »taubstumm« findet in Anlehnung an Supalla und Clark43 nur dann Erwähnung, wenn es darum geht, Institutionen in ihrem historischen Kontext zu benennen bzw. um den Ton historischer Texte zu bewahren.
Teil 1: Moderne Perspektiven auf Gebärdensprachen
Sprachliche und außersprachliche Aspekte
Heutzutage ist es aus linguistischer Perspektive unbestritten, dass Gebärdensprachen vollwertige, natürlich Sprachen sind. Das bedeutet, dass sie von ihrer strukturellen Komplexität her extrem vielschichtig, und, im Hinblick auf ihre Funktionalität, genau so leistungsfähig sind wie Lautsprachen. Es gibt eine Reihe von Faktoren, an denen festgemacht werden kann, ob es sich bei einer Kommunikationsform um eine natürliche Sprache handelt. Es gibt sogenannte Plansprachen wie Esperanto oder Gestuno. Gestuno ist das gebärdete Pendant zu Esperanto, wobei es sich hier im engeren Sinn nicht um eine Sprache, sondern eher um eine Gebärdensammlung ohne definierte Grammatik handelt.44 Im Gegensatz zu Plansprachen entstehen natürliche Sprachen nicht durch bewusste Erfindung oder gezieltes Ausdenken. Sie entstehen aus einer ungesteuerten historischen Entwicklung heraus. Sie werden über Generationen hinweg tradiert, wobei der Spracherwerb nicht zwangsläufig in der Kindheit oder im häuslichen Umfeld erfolgen muss.
Aufgrund des Umstands, dass der überwiegende Teil gehörloser Personen hörende Eltern hat, die selbst nicht mit Gebärdensprache aufgewachsen sind, findet eine generationsübergreifende Gebärdensprachtradierung in der Regel außerhalb des Elternhauses statt. In diesem speziellen Punkt ist die Spracherwerbssituation gehörloser Signer mit hörenden Eltern vergleichbar mit der von hörenden Personen, die in der soziolinguistischen Literatur als »New Speakers« beschrieben werden. Die Bezeichnung »New Speaker« wird verwendet, um Menschen zu beschreiben, die in ihrer Kindheit zuhause wenig oder gar nicht mit einer bestimmten Minderheitensprache in Kontakt kommen, diese jedoch beispielsweise durch zweisprachige Bildungsprogramme,...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Reihe/Serie | Disability History |
Co-Autor | Radu Harald Dinu, Jens Gründler, Lisa Maria Hofer, Hanna Jaeger, Bettina Lindmeier, Ulrika Mientus, Paula Mund, Ines Potthast, Sebastian Schlingheider, Marion Schmidt, Markus Spöhrer, Juliane Wenke, Anja Werner, Beate Winzer, Sylvia Wolff, Nathalie Zechner |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Cochlea Implantat • Deaf Agency • Deaf Studies • Disability History • Diversity History • Ethik der Medizin • Gebärdensprachdolmetschen • Gebärdensprache • Gehörlose • Gehörlosengeschichte • Gehörlosigkeit • Geschichte • Geschichte schwerhöriger Menschen • Geschichtswissenschaft • Hörgeschädigte • Innenohrprothesen • Körpergeschichte • Lautsprache • Medizingeschichte • Nationale Gehörlosen- und Schwerhörigenverbände • taube und schwerhörige Menschen • Taubheit |
ISBN-10 | 3-593-45504-8 / 3593455048 |
ISBN-13 | 978-3-593-45504-4 / 9783593455044 |
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Größe: 5,4 MB
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