Geist und Imagination (eBook)
336 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77912-5 (ISBN)
Stellen Sie sich vor, Sie wachten eines Tages auf und hätten die Fähigkeit verloren, sich etwas vorzustellen. Wie sähe Ihr Alltag aus? Wie fänden Sie heraus, was Sie gerne zu Abend essen würden? Könnten Sie sich noch in eine andere Person hineinversetzen? Die Texte des Bandes, u. a. von Emmanuel Alloa, Margherita Arcangeli, Robert Hopkins, Amy Kind, Julia Langkau, Peter Langland-Hassan, Bence Nanay und Íngrid Vendrell Ferran, beleuchten aus philosophischer Perspektive unterschiedliche Kontexte, in denen unsere Vorstellungskraft am Werk ist. Sie gehen der Idee nach, dass diese Fähigkeit eine weit wichtigere Rolle für unser Denken und Handeln spielt, als für gewöhnlich angenommen wurde. Die Vorstellungskraft gehört zu jenen Vermögen, welche die menschliche Lebensform grundlegend prägen.
Serena Gregorio ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Projekt »Geist und Imagination« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Gerson Reuter ist Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Suhrkamp Verlag ist zuletzt erschienen: <em>Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur</em> (stw 1643, hg. zus. mit Alexander Becker, Christian Mehr, Heino Heinrich Nau und Dagmar Stegmüller). Matthias Vogel ist Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: <em>Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien</em> (stw 1556), <em>Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion</em> (stw 1591, hg. zus. mit Lutz Wingert) und <em>Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik</em> (stw 1826, hg. zus. mit Alexander Becker). Christiana Werner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Projekt »Geist und Imagination« an der Justus-Liebig-Universität Gießen und am DFG/AHRC-Projekt »How does it feel? Interpersonal understanding and affective empathy« an den Universitäten Duisburg-Essen und Liverpool.
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Christiana Werner
Der Ort sinnlicher Vorstellungen in unserem Geist
Der vorliegende Band widmet sich sinnlichen Vorstellungen, synonym sprechen wir auch von sinnlichen Imaginationen – genauer der Idee, dass die sinnliche Vorstellungskraft zu jenen Vermögen gehört, die Grundzüge unserer menschlichen Lebensform prägen. Sinnliche Vorstellungen helfen beispielsweise in vielen alltäglichen Situationen und lassen uns Lösungen von Problemen oder Antworten auf Fragen finden, die sonst nur durch eher mühsames Ausprobieren gefunden werden können: Bevor man sich die Haare färbt oder sich einen neuen Haarschnitt zulegt, versucht man sich vorzustellen, wie man mit der neuen Haarfarbe oder der Frisur wohl aussehen wird. Sich sinnlich vorzustellen, wie kalt sich 10 Grad Celsius und Regen anfühlen, kann dabei helfen, die richtige Kleidung für eine Reise nach England einzupacken. Sich sinnlich vorzustellen, wie Zimt mit den Auberginen schmeckt, die man gerade zubereitet, hilft sich zu entschieden, ob man die Auberginen damit würzen möchte oder vielleicht lieber doch nicht.
Diese Idee entspricht in zweifacher Hinsicht nicht dem zumindest lange Zeit gängigen Bild der Vorstellungskraft. Zum einen findet sich eine weit verbreitete Auffassung, wonach unsere Vorstellungskraft allenfalls für sehr spezifische Aktivitäten oder Bereiche in unserem Leben eine Rolle spielt. Beispiele wären etwa das Produzieren und Verstehen von literarischen Texten und Filmen,[1] das Tagträumen[2] oder das kontrafaktische Denken.[3] Zum anderen wird aber gerade im Zusammenhang mit kontrafaktischem Denken und im Bereich der Philosophie der Literatur nicht die Rolle der sinnlichen Vorstellungskraft hervorgehoben, sondern die des (bloß) propositionalen Vorstellens.[4]
10Um unserer Idee nachzugehen, wird in einem ersten Schritt ein Überblick über Fragen bezüglich der Ontologie der Vorstellungskraft sowie über den Ort der Vorstellungskraft in der Architektur des menschlichen Geistes gegeben. Der zweite Abschnitt stellt eine Reihe von bisher vorgeschlagenen Taxonomien vor, die Ordnung in den vielfältigen Gebrauch der Vorstellungskraft bringen sollen. Angesichts dieser Vielfalt drängt sich natürlich die Frage auf, ob es sich bei dem, was wir Vorstellungskraft nennen, tatsächlich um ein einheitliches Vermögen handelt oder nicht eher um eine Pluralität unterschiedlicher Vermögen. Die folgenden Abschnitte widmen sich den Leistungen der sinnlichen Vorstellungskraft beim Wissenserwerb, beim Entscheiden und schließlich beim zwischenmenschlichen Verstehen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Vorstellungskraft in diesen unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens eine wichtige Rolle spielt, die sie allerdings immer nur im Zusammenspiel mit verschiedenen anderen mentalen Vermögen auszufüllen vermag.
1. Die Ontologie: Vorstellungskraft und ihr Ort in der Architektur des menschlichen Geistes
Die Vorstellungskraft ist Gegenstand gleich mehrerer philosophischer Disziplinen, darunter die Philosophie des Geistes, die Ästhetik und die Erkenntnistheorie. In der Philosophie des Geistes stellt sich die Frage, was die Vorstellungskraft überhaupt ist. Um diese Frage zu beantworten, wird häufig untersucht, wie sich die Vorstellungskraft zu anderen mentalen Zuständen und Vermögen verhält. Weit verbreitet ist die Idee, dass Vorstellungen imaginative Gegenstücke zumindest zu einigen intentionalen Modi sind. Am wenigsten kontrovers ist die These, dass sinnliche Wahrnehmungen imaginative Gegenstücke haben. Wir können zum Beispiel eine Kaffeetasse vor uns sehen oder aber die visuelle Vorstellung einer Kaffeetasse haben. Außerdem wird häufig angenommen, dass Überzeugungen imaginative Analoga haben: Wir können die Überzeugung haben, dass 11p, und – so die Annahme – uns vorstellen, dass p. Einer kritischen Position zufolge sind die letztgenannten Einstellungen aber gerade nicht als Vorstellungen zu kategorisieren. Während es im Fall propositionaler Vorstellungen zwar kontrovers ist, ob sie tatsächlich in den Bereich der Vorstellungskraft fallen, wird aber immerhin nicht bestritten, dass solche mentalen Zustände existieren. Im Fall von Wünschen und Emotionen besteht dagegen nicht einmal Konsens hinsichtlich der Frage, ob es so etwas wie imaginative Gegenstücke zu diesen Zuständen überhaupt gibt. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über Vergleiche zwischen Vorstellungen einerseits und sinnlichen Wahrnehmungen, Überzeugungen, Emotionen und Wünschen[5] andererseits gegeben werden.
Beginnen wir mit den Wahrnehmungen. Häufig werden in der Literatur Beispiele visueller Wahrnehmungen und visueller mentaler Bilder gewählt. Genau wie sich aber die sinnliche Wahrnehmung nicht nur auf das Visuelle beschränkt, kann es auch sinnliche Vorstellungen geben, die anderen Sinnen entsprechen. Wir können uns beispielsweise vorstellen, wie ein Cello klingt oder ein Schokoladenkuchen riecht, der gerade aus dem Ofen kommt. In den philosophischen Debatten wird übereinstimmend angenommen, dass der phänomenale Charakter von sinnlichen Vorstellungen und sinnlichen Wahrnehmungen gleich sein kann. Die sinnliche Wahrnehmung wird oft als ein rezeptives, nichtkontrollierbares Vermögen beschrieben, weil es die Stimuli sind, die die Wahrnehmun12gen auslösen und den Wahrnehmungsgegenstand bestimmen. Die sinnliche Vorstellung wird dagegen als ein meist kontrollierbares Vermögen charakterisiert. Manche Vorstellungen haben zwar den Charakter von Widerfahrnissen, etwa wenn uns ein mentales Bild plötzlich erscheint. Oft können sinnliche Vorstellungen aber aktiv hervorgerufen und auch gesteuert werden.
Mit Überzeugungen haben (propositionale) Vorstellungen gemeinsam, dass es sich in beiden Fällen um repräsentationale, kognitive Einstellungen handelt. Der Gehalt beider Einstellungstypen ist propositional. So kann ich glauben, dass gerade die Sonne untergeht, oder mir vorstellen, dass gerade die Sonne untergeht. Der Gehalt ist in beiden Fällen derselbe. Ein Unterschied, der häufig angeführt wird, liegt auf der Ebene der Normativität. Während Überzeugungen auf Wahrheit abzielen, sei dies bei Vorstellungen nicht der Fall. Es scheint sogar, dass wir in paradigmatischen Fällen den Gehalt einer Vorstellung gerade nicht für wahr halten.[6]
Ein weiterer Versuch, Vorstellungen von Überzeugungen zu unterscheiden, wird im Rahmen funktionalistischer Ansätze mit Blick auf die Beziehung zu Handlungen unternommen. Befürworter:innen der These, dass es hier einen relevanten Unterschied gibt, führen folgenden Vergleich an: Wenn ich beispielsweise glaube, dass ein Auto auf mich zufährt, werde ich versuchen, dem Auto auszuweichen. Wenn ich mir dagegen bloß vorstelle, ein Auto komme auf mich zu, werde ich keine Ausweichversuche unternehmen. Diese Gegenüberstellung veranlasst einige Philosoph:innen dazu, anzunehmen, dass Überzeugungen handlungsgenerierend sind, Vorstellungen dagegen nicht.[7] Dieses Argument, nennen wir es Handlungsargument, wird nicht nur mit Bezug auf Überzeugungen, sondern in sehr ähnlicher Weise auch mit Bezug auf Wünsche und Emotionen vorgebracht.
Ein breiter Konsens besagt allerdings, dass Überzeugungen für 13sich genommen nicht handlungsgenerierend sind. Wir können uns durchaus Szenarien vorstellen, in denen eine Person zwar die Überzeugung hat, dass ein Auto auf sie zufährt, sie aber trotzdem nicht versucht auszuweichen. Wenn sie beispielsweise den Wunsch hat, das Auto aufzuhalten, und auch die Überzeugung, das Auto aufhalten zu können, indem sie bleibt, wo sie ist, wird sie wohl genau dies tun. Philosoph:innen, die das Handlungsargument auf Überzeugungen beziehen, können diesem Konsens durchaus zustimmen. Wir können uns ...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Empathie • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Lebensform • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Philosophie • STW 2437 • STW2437 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2437 |
ISBN-10 | 3-518-77912-5 / 3518779125 |
ISBN-13 | 978-3-518-77912-5 / 9783518779125 |
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