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Feministische Epistemologien (eBook)

Ein Reader
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2024 | 1., Originalausgabe
576 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77918-7 (ISBN)

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Feministische Epistemologien -
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Feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien gehen aus äußerst lebhaften, interdisziplinären Diskussionen in der Philosophie und den Sozialwissenschaften hervor. Sie analysieren, wie Geschlechternormen auf Wissende einwirken, kritisieren die Benachteiligung weiblicher und queerer Menschen durch herrschendes Wissen und schlagen Alternativen zu gängigen epistemischen Begriffen und Praktiken vor. Der Band versammelt klassische Texte sowie aktuelle Weiterentwicklungen u. a. von Patricia Hill Collins, Sandra Harding und Donna Haraway, Miranda Fricker und Gurminder K. Bhambra, größtenteils erstmals in deutscher Übersetzung. Alle verbindet eine Kernthese: Wissen ist eingebettet in historisch spezifische soziale Praktiken und Strukturen, die keineswegs geschlechtsneutral sind.



Katharina Hoppe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Frieder Vogelmann ist Professor für Epistemology and Theory of Science an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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Katharina Hoppe & Frieder Vogelmann

Feministische Epistemologien:
Genese, Grundlagen, Gegenwart


Spielt es eine Rolle, welches Geschlecht Wissende haben? Strukturiert Geschlecht unsere Wissenspraktiken, ja sogar die Ergebnisse der Wissenschaften? Schon diese Fragen nicht nur rhetorisch zu stellen und routiniert mit »natürlich nicht« zu beantworten, erhitzt die Gemüter. Warum sollten Geschlechterverhältnisse etwas mit Wissenschaft zu tun haben, einer Unternehmung, die doch für Neutralität und Objektivität steht? In den feministischen Interventionen in die Wissenschaften sowie in die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die diesen Streit seit den 1970er Jahren befeuerten, wurde und wird nicht weniger als ein »Angriff auf die Vernunft«[1]  vermutet. Die Abwehrreaktion zeigt, wie tief die herrschenden Auffassungen von Erkenntnis und Wissenschaft mit einer Aversion dagegen verbunden sind, ihre Herstellungspraxis konkret in den historischen Verhältnissen mitsamt ihren sozialen, politischen oder ökonomischen Details zu verorten. Mit dieser Abwehrhaltung verbindet sich eine Vorstellung von Objektivität, die von der sozialen und politischen Einbettung der Wissensproduktion absieht, absehen will oder gar absehen muss. So gilt die Auffassung entkörperter und von der (sozialen) Welt einschließlich der Geschlechterverhältnisse losgelöster Wissenspraktiken als ein grundlegender Wert ›guter‹ wissenschaftlicher Praxis, den weiblich markierte Personen historisch nicht in der gleichen Weise verkörpern konnten wie männliche – weiße bourgeoise männliche Personen, versteht sich.

Ihrem traditionellen Selbstverständnis zufolge zielt die moderne wissenschaftliche Praxis auf eine aperspektivische, körperlose Objektivität, die als Ideal jedoch überraschend jung ist und erst im 819.Jahrhundert auftauchte.[2]  Vor diesem Hintergrund nimmt die Kritik feministischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien an solch herkömmlichen Auffassungen von wissenschaftlicher Wissensproduktion und Objektivität ihren Ausgang von einer »Vexierfrage«, die die Physikerin und feministische Wissenschaftstheoretikerin Evelyn Fox Keller treffend wie folgt formuliert: »[W]ie kann der wissenschaftliche Geist zugleich als männlich und als körperlos angesehen werden? Wie kann Denken als ›objektiv‹, d.h. als ein unpersönliches und vom Selbst losgelöstes Denken, und gleichzeitig als ein ›Denken des Mannes‹ verstanden werden?«[3]  Keller spricht damit die männliche Konnotation der Vernunft und des Geistes als losgelöst von Körperlichkeit an: und diese bildet in der Tat das Ziel des ›Angriffs‹ feministischer Epistemologien.

Der feministische ›Angriff auf die Vernunft‹ richtet sich also gegen eine spezifische Konzeption der Vernunft, nicht gegen Vernunft per se. Vielmehr demonstriert feministische Erkenntnis- und Wissenschaftskritik, dass die vermeintlich allgemeingültige Vorstellung von Vernunft selbst weder universal noch ahistorisch ist, sondern sozial verortet und historisch spezifisch geformt. Zwei Gesichtspunkte sind für die feministische Kritik der Wissenschaften und feministische Erkenntnistheorien von besonderer Bedeutung: Einerseits geht es ihnen seit den 1970er Jahren darum, die Frage des Geschlechts überhaupt in die Wissenschaften zu tragen und zu zeigen, dass (auch naturwissenschaftliches) Wissen geschlechtsspezifische Markierungen und Implikationen mit sich führt, die zugleich in den Praktiken der Wissensproduktion selbst wirkmächtig sind. Andererseits verfolgt feministische Erkenntnis- und Wissenskritik den Anspruch, andere Formen der Wissensgenerierung zu etablieren. Mit alternativen epistemologischen Begriffen, wissenschaftlichen Methodologien und handfesten Praktiken stoßen sie Prozesse der selbstkritischen Reflexion sowie der Veränderung der epistemischen Voraussetzungen an, die ihrerseits für Revisionen offengehalten werden. Bei allen Differenzen zwischen den einzelnen Ansätzen ist die feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheo9rie als fächerübergreifendes Forschungsgebiet mit Schwerpunkten in der Philosophie und den Sozialwissenschaften stets von einer Kritik mit dem genannten doppelten Impuls geprägt: Auf der einen Seite weist sie androzentrische Annahmen und sexistische Diskriminierungen in der Wissensproduktion nach und zeigt, dass herrschende Wissenspraktiken und epistemische Begriffe Frauen und andere weiblich oder queer markierte Positionen benachteiligen. Auf der anderen Seite erarbeitet sie konstruktiv Alternativen sowohl für die theoretischen Begriffe als auch für Praktiken der Wissensproduktion.

Im vorliegenden Reader möchten wir die vielstimmige Debatte um feministische Epistemologien von ihren Anfängen bis heute nachzeichnen. Dabei geht es uns weniger um Vollständigkeit, die ein einzelner Band ohnehin nicht erreichen kann. Vielmehr wollen wir die gegenwärtige Relevanz feministischer Erkenntnistheorien angesichts hitziger Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, erregter Diskussionen über historische und kontextualisierende Relativierungen von Wahrheit sowie enthemmter politischer Diskurse um »Gender« als Kampfbegriff darlegen und selbstkritisch überprüfen. Denn wie niemand sonst in der Philosophie und den Sozialwissenschaften arbeiten sich feministische Erkenntnistheoretiker*innen an den politischen, ethischen und epistemologischen Implikationen der Einsicht in die soziale Situiertheit wissenschaftlicher Wissensproduktion ab. Gerade wegen der lebendigen Diskussion innerhalb des Feldes helfen die vorliegenden – sehr unterschiedlichen, einander teils scharf widersprechenden – Positionen dabei, verbreitete positivistische Schnellschüsse und relativistische (Selbst-)Missverständnisse aufzudecken. In dieser Einleitung stellen wir das breite Spektrum feministischer Epistemologien und ihrer Entwicklungspfade entlang von drei Akzentuierungen vor, die auch den Reader gliedern: Erstens beschreiben wir die Genese feministischer Epistemologien seit den 1970er Jahren und zeichnen dabei ihre Bewegung von der politischen Intervention hin zur Ausarbeitung eigenständiger Wissenschafts- und Erkenntnistheorien nach. Zweitens erläutern wir die Grundlagen feministischer Epistemologien, die innerhalb der Debatte und auch in den allgemeinen Diskussionen der Philosophie und der Sozialwissenschaften zunehmend unhintergehbar erscheinen. Drittens beleuchten wir die Gegenwart feministischer 10Epistemologien, indem wir neuere Entwicklungen innerhalb des Feldes skizzieren und deren Potenziale und Grenzen ausloten. Wir schließen mit dem Appell, die feministische Epistemologie und ihre wichtigen politischen Einsichten (erneut) zu entdecken, um in Diskussionen um »Postfaktizität« und »Identitätspolitik« nicht hinter ihr Reflexionsniveau zurückzufallen.

Zuvor seien jedoch noch drei kurze Erläuterungen vorweggeschickt. Erstens sind feministische Erkenntnistheorien keine »femininen« Epistemologien, auch wenn sich dieses Missverständnis immer wieder in der Literatur findet, insbesondere bei ihren Kritiker*innen.[4]  Zwar haben auch Feminist*innen immer wieder mit der Vorstellung einer »weiblichen Weise zu wissen« geflirtet, doch haben feministische Epistemolog*innen wie beispielsweise Nancy Hartsock von Anfang an solche Versuche (teils sehr vehement) zurückgewiesen.[5]  Zweitens sind feministische Erkenntnistheorien eng mit anderen Formen »alternativer Epistemologien« verbunden, wie Charles Mills herausgestellt hat.[6]  Ungerechtigkeiten aufgrund von race- oder Klassenzuschreibungen wurden nahezu von Anfang an in den feministischen Epistemologien thematisiert, wenngleich häufig unzureichend.[7]  Linda Martín Alcoff und Elisabeth Potter stellen 11jedoch schon 1993 fest, dass feministische Erkenntnistheorien nur intersektional betrieben werden können:

Weil Geschlecht als abstrakte Universalie analytisch unbrauchbar ist und weil die Forschung Unmengen von Unterdrückungsweisen in der Wissensproduktion aufgedeckt hat, wird feministische Epistemologie zu einem Forschungsprogramm mit multiplen Dimensionen. Und sie sollte nicht so verstanden werden, dass sie ein Bekenntnis zu Geschlecht als primärer Achse der Unterdrückung beinhaltet...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Erkenntnistheorie • Feminismus • Queerness • STW 2440 • STW2440 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2440
ISBN-10 3-518-77918-4 / 3518779184
ISBN-13 978-3-518-77918-7 / 9783518779187
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