Ästhetik in Krisenzeiten (eBook)
324 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4349-2 (ISBN)
Gregory Fuller, 1948 in Chicago geboren, kam 1957 nach Deutschland. Er studierte in Tübingen und Marburg Philosophie, Kunstwissenschaft und Amerikanistik; Promotion 1975. Seit 1976 hat er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, vor allem auf dem Gebiet der Ästhetik, zwei Kunstbücher sowie zwei historische Romane veröffentlicht. Er war 35 Jahre lang Verlagsredakteur für Anglistik und lebt bei Stuttgart.
VORREDE: VON DEN KRISEN
Die Ästhetik darf sich der Welt nicht verschließen. Eine ästhetische Studie, die die Krisen ihrer Zeit ausklammerte, würde ihre Weltfremdheit nicht abschütteln. Diese Ästhetik hingegen verpflichtet sich einer möglichen selbst begründeten esthétique engagée (sofern man überhaupt davon sprechen kann), denn die globalen Krisen pochen auch an ihre Türe. Inwieweit sich der Gedanke einer engagierten Ästhetik allerdings realisieren lässt, wird sich hier im Naturkapitel Ästhetische Erfahrung II ergeben.
Da der ästhetische Zugang zu den Künsten auf der Metaebene stattfindet, vermag die Ästhetik selbst natürlich keine Lösungen für die globalen Probleme anzubieten. Sie hat jedoch etwas zu diesen Problemen zu sagen, und insofern versuche ich, sinnvolle Konsequenzen aus den Weltkrisen zu ziehen, wie sie sich in diesem ästhetischen Zugang offenbaren. Die zu ziehenden Konsequenzen ergeben sich im Lauf der Kapitel, insbesondere beim Kapitel über die Naturästhetik. Das Engagement erstreckt sich auch auf mein Bemühen, eine allgemeinverständliche, vernünftige und humane Ästhetik in die Welt zu setzen. Sie soll ihre Leserinnen und Leser darin unterstützen, großen ästhetischen Genuss und, falls nötig, Trost in den Künsten zu erfahren. Das impliziert eine kleine Auseinandersetzung mit der Vergeblichkeit, der Kassandratochter der Vergänglichkeit. Letztere wird sichtbar im späten grafischen Werk von Leonardo da Vinci, worin Megastürme alles Irdische hinwegzufegen drohen; womit Leonardos Werk tragischerweise Aktualität beweist. Denn die Welt, wie wir sie kennen, beginnt sich vor unseren Augen aufzulösen und in Stürmen, Wassermassen, Hitze, Waldbränden und in entwaldeten Wüsten zu vergehen. Damit spreche ich die einzige, aber gigantische Makrokrise der Ökologie an. Sie überwölbt alles in ihrer dräuenden Bedeutsamkeit und beginnt, alle Lebensbereiche mit ihrer Wirkungskraft zu durchdringen.
Ich diskutiere zwei wesentliche gegenwärtige Ausprägungen von Krisen: die einzige Makrokrise der Ökologie (die eben nicht nur mit dem Klimawandel zu tun hat, sondern auch etwa mit dem katastrophalen Artensterben). Danach greife ich eine grundlegende Mikrokrise heraus, die Mikrokrise des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mikrokrisen halte ich prinzipiell für lösbar, die Makrokrise der Ökologie jedoch nicht mehr.
Die fortgeschrittene Zerstörung der Mitwelt verneint, was Kant in der Kritik der Urteilskraft prädarwinistisch als »objektive Zweckmäßigkeit der Natur« bezeichnete.1 Die natürliche Entfaltung der Natur und das ungehinderte Wirken ihrer Interdependenzen geraten zusehends durcheinander. Der Klimawandel ist bereits hier, schrieb David Wallace-Wells, und »… es wird kein Normal mehr geben«.2
Im Jahr 2018 warnten 42 Wissenschaftler aus aller Welt, dass kein Ökosystem der Erde sicher wäre, wenn wir so weitermachten wie gegenwärtig.3 Andere Kritiker sprechen davon, dass diese »hegemoniale Zivilisation des globalisierten Kapitalismus«, das sie »Empire« nennen, vollkommen gescheitert sei.4 Die Umweltprobleme, schrieb Ulrich Beck, sind »grundsätzlich in ihrer Verursachung und in den erwartbaren Konsequenzen nicht-linear geworden, diskontinuierlich sowohl im Raum als auch in der Zeit, was sie ihrer Natur nach unvorhersehbar, kaum begreifbar macht«.5 Heute bestehe ein »Verantwortungs- und Zurechnungsdefizit«.6 Die Welt wurde unvorhersehbar, ja, die Unvorhersehbarkeit kann man nun als Konstante bezeichnen.
Da ich an anderer Stelle7 ausführlich auf das ökologische Problem (um es freundlich zu formulieren) der Menschheit eingegangen bin, fasse ich nur einige Punkte zusammen, die uns in den Abgrund führen. Die Problemfelder können als bekannt vorausgesetzt werden; eine gute Zusammenfassung liefert auch David Wallace-Wells.8
Dass der Planet der extremen Aufheizung noch in diesem Jahrhundert entgegengeht, darf als absolut gesichert gelten. Aufgrund des gegenwärtigen Kohlendioxidausstoßes wird sich die Aufheizung nicht auf +2 °C bis zum Jahr 2100 eingrenzen lassen. Da CO2 bis zu 120 Jahren in der Atmosphäre verbleibt, würde sich selbst bei sofortigem (utopischem) Stopp aller CO2-Immissionen der Treibhauseffekt weiterhin massiv verstärken. Weil die übersäuerten und mit Plastikabfällen befallenen Weltmeere und die schwindenden Waldflächen immer weniger CO2 aufnehmen können, potenziert sich der Treibhauseffekt. Ein paar Beispiele: Die fünf heißesten Sommer seit dem Jahr 1500 fanden nach 2002 statt. Laut dem Weltklimarat der UN lagen die arktischen Oberflächentemperaturen 2016–18 bereits 6 °C über dem Durchschnitt der Jahre 1981–2010.9 Schon bei einer planetarischen Aufheizung um 5 °C wäre ein Überleben für weite Teile der Weltbevölkerung unmöglich. Bei einer Erderwärmung von 7 °C würden Menschen in der Äquatorialzone zu Tode gekocht.10
Ganz abgesehen von Ernährungsproblemen, vom Süßwassermangel, von Hitzesommern und extremen Wetterausprägungen ungeahnten Ausmaßes, bedingt die planetarische, menschengemachte Aufheizung mehrere Rückkopplungen: Jedes Jahr erfährt jetzt auch der reiche Westen eine Sommerdürre und einen Waldbrand nach dem anderen, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt. Der Aufheizeffekt trifft die polaren Eisschilde mehrfach, d. h. sie schmelzen rapider als vor 20 Jahren angenommen, und zwar in allen Monaten im Jahr, »unprecedented in at least 1000 years«, wie der Weltklimarat feststellt.11 Das Schmelzen des Polareises wird nicht nur die Meeresströmungen verändern, sondern durch das Fehlen des Polareises wird weniger Sonne ins All zurückstrahlen können, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt und den Meeresspiegel um Dutzende von Metern ansteigen lassen wird.
Am meisten Sorge macht mir der auftauende sibirische und kanadische Permafrost. Der Kipppunkt könnte schon jetzt erreicht sein. Im Permafrost sind 30–60 Milliarden Tonnen Methan gebunden, die mindestens fünfundzwanzigmal (kurzfristig bis zu achtzigmal) so stark zum Treibhauseffekt wie CO2 beitragen.12 Da Methan (bisher) nur bis zu 18 % zum Treibhauseffekt beiträgt, muss man ab jetzt bei Methan mit einem prozentualen Anstieg in der Gesamtmasse des Treibhauseffekts rechnen; was wiederum die Welttemperatur ansteigen lassen wird. Mit anderen Worten: Schlägt erst einmal die Permafrost-Entfrostung zu, wird sich die Aufheizung des Planeten potenzieren mit einer Potenz, die man noch gar nicht abzuschätzen vermag. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann der Kipppunkt der Aufheizung von Tundra, der Kipppunkt der übersäuerten Meere und der Kipppunkt der Polareisschmelze erreicht sein wird. Zu den Weltmeeren sei noch angemerkt, dass es jetzt schon mehr als 400 große maritime »Todeszonen« gibt, hervorgerufen durch Meereserwärmung, Meeresübersäuerung und Meeresverschmutzung.13
Die Aufheizung des Planeten mit den immensen Ernährungs- und Desertifikationsproblemen, die sie nach sich zieht, wird mindestens ein Dreifaches für die Weltbevölkerung bedeuten: anwachsende Migrationsströme, Hunger und Klimaauseinandersetzungen bis hin zu Klimakriegen.14 Das ZDF berichtete von 80 Millionen Flüchtlingen weltweit im Jahr 2019, Tendenz steigend.15
Das fürchterliche und unumkehrbare Artensterben in diesem Anthropozän möchte ich nur kurz ansprechen: Es nimmt exponentiell zu und hat nun auch die Insekten erfasst. Mindestens 150 Arten sterben pro Tag aus. Man vermag nicht einmal abzuschätzen, wie viele pro Jahr vergehen. Eine Schätzung reicht bis zu 58.000 Arten.16 Ganz gleich, ob diese Zahl zu hoch gegriffen sein mag: die unumkehrbare Tendenz zählt. Der Klimawandel ist natürlich nicht die einzige Ursache für das Artensterben. Eingeengte Lebensräume der Wildtiere durch Überbevölkerung, Wilderei, Abholzung der Urwälder, Austrocknung und Desertifikation, Intensivlandwirtschaft mit Insektiziden, Pestiziden und Monokulturen tragen ebenso dazu bei. Kurz: Alles, was wir tun, bringt sich ein in den Verlust der Biodiversität und in den sich anbahnenden Klimakollaps.
Wie Jonathan Franzen schreibt: An einer Lösung des Klimawandelproblems sind wir gescheitert.17 Read und Alexander gehen noch weiter: Die industrielle Wachstumsgesellschaft sei gescheitert, bei der der Wachstumswahn einen zentralen Bestandteil bildet.18 Diese Kerntendenz von Ressourcenausbeutung, Nutzung und Übernutzung der Natur, diese Verdichtung der Herrschaft über die Natur nannte ich 1993, in Anlehnung an Thomas S. Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Paradigmen, das Super-Paradigma der Menschheit.19 Mit jeder industriell-technologischen Revolution seit 1750 wächst die Naturbeherrschung und somit die...
Erscheint lt. Verlag | 10.7.2023 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Zusatzinfo | Mit acht, teilw. farbigen Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Ästhethik • Klimakrise • Kunstphilosophie • Naturphilosophie • Pragmatismus |
ISBN-10 | 3-7873-4349-0 / 3787343490 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4349-2 / 9783787343492 |
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Größe: 2,5 MB
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