Was ist Liberalismus? (eBook)
208 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77602-5 (ISBN)
Wer über Demokratie spricht, darf über Liberalismus nicht schweigen. Liberale Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte und Toleranz gehören zum festen Bestand moderner Demokratien. Daher ist die gegenwärtig vielbeschworene Krise der Demokratie auch eine Krise des Liberalismus. Dieser könne, so meinen viele, seine Versprechen nicht mehr einlösen. Gegen die allzu geläufigen Gemeinplätze und Krisendiskurse über den Liberalismus positioniert sich das Buch Elif Özmens mit einer systematischen Darstellung seiner philosophischen Grundlagen, normativen Architekturen und aktuellen Kontroversen. Eine Verteidigung des Liberalismus als der am wenigsten schlechten unter den Regierungs- und Lebensformen.
Elif Özmen ist Professorin für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
432. Familienähnlichkeiten: Das trio liberale
Wer die Frage, was der Liberalismus ist, als Frage nach einer politischen, sozialen und kulturellen Bewegung oder nach einer Tradition politischen Denkens versteht, findet an geeigneter Stelle – der Geschichts- und Politikwissenschaft, der Sozial- und Ideengeschichte – prominente Antworten.[1] Die folgende systematische Darstellung hingegen abstrahiert von einzelnen Autor:innen und einer gründlichen Werkexegese, um sich einzelnen Kernthesen des Liberalismus zuzuwenden. Dieses geschieht in der Erwartung, dass sich die Frage, was Liberalismus ist, mittels eines kohärenten Sets von Prämissen und Prinzipien beantworten lässt, die in einem spezifisch-liberalen Argumentationszusammenhang miteinander verbunden sind. Zwar haben sich liberale Theorien mittlerweile so weit ausdifferenziert, dass man verschiedene »Bindestrich-Liberalismen« unterscheiden kann (etwa einen klassischen, modernen oder Neoliberalismus, einen sozialdemokratischen, utilitaristischen, perfektionistischen oder libertaristischen Liberalismus, einen kontinentalen oder englischen oder einen politischen und »umfassenden« Liberalismus).[2] Und auch aus ideengeschichtlicher Perspektive ist offenkundig, dass der Liberalismus keine monolithische Theorie darstellt, denn schon ein oberflächlicher Vergleich der als liberale Klassiker geltenden Werke von John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und John Stuart Mill zeigt Unterschiede, manchmal sogar Gegensätze auf. Aber zugleich lassen sich Charakteristika und Gemeinsamkeiten – Familienähnlichkeiten – benennen, die es 44plausibel machen, trotz aller Unterschiede im Detail von einer Theorietradition zu sprechen, die sich über verschiedene Zeiten, Orte und Theoretiker:innen hinweg identifizieren lässt.[3] Mit Rückgriff auf den Wittgenstein’schen Begriff der Familienähnlichkeit soll betont werden, dass den einzelnen, über einen Zeitraum von drei Jahrhunderten formulierten liberalen Theorien »garnicht Eines gemeinsam [ist], weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt.[4] Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.«[5] Solche Familienähnlichkeiten reichen für die einheitliche Bezeichnung durch einen Begriff sowie dessen rechtmäßigen Gebrauch aus; es bedarf keiner gemeinsamen, wesentlichen oder konstitutiven Merkmale.
Dies soll im Folgenden als methodische Wegmarkierung dienen: Trotz »verschwommener Ränder«,[6] trotz Unterschieden und Widersprüchen in den liberalen Theorievarianten kann man »[d]as Gemeinsame sehen«[7] und Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, Muster benennen. Ähnlichkeiten im Großen, so die leitende These dieses Kapitels, bestehen hinsichtlich des trio liberale von Freiheit, Gleichheit und Individualismus. Damit sind nicht nur die inhaltlichen Ausformungen, sondern vor allem die komplementären und miteinander verschränkten Verhältnisse dieser normativen Konzepte gemeint, welche sich in den Argumenten der Politikphilosophien auf45zeigen lassen, die als liberal gelten beziehungsweise sich als liberal verstehen. Es geht also nicht um eine Definition des Liberalismus, sondern um den Versuch, das Gemeinsame liberaler Theorien anhand von drei Konzepten in systematischer Absicht offenzulegen. Die Beschränkung auf diese drei Konzepte erscheint für das systematische Anliegen dieses Buches sowohl zweckmäßig und weiterführend wie auch inhaltlich begründet.
Sie ist zweckmäßig, weil die Konzepte der Freiheit, Gleichheit und des Individualismus in den klassischen und den gegenwärtigen Beiträgen zum Liberalismus eine zentrale Rolle spielen, und zwar sowohl als einzelne wie auch in einem spezifischen Verhältnis zueinander. Die Beschränkung ist weiterführend, weil sich in der Literatur zum Liberalismus verbreitete Kernbegriffe (wie Individualrechte, Pluralismus, Konstitutionalismus, Neutralität, Toleranz) elegant als Erweiterung und Anwendung der liberalen Individualismus-, Freiheits- und Gleichheitskonzepte darstellen lassen. Und die Auswahl lässt sich auch inhaltlich begründen. Im ersten Abschnitt wird der normative Individualismus als legitimatorischer Ausgangspunkt der liberalen Theoriebildung eingeführt. Demzufolge können ausschließlich Individuen – und nicht etwa die Natur, Vernunft, Religion, Moral oder andere tradierte Autoritäten – den rechtfertigenden Ursprung legitimer politischer Ordnungen bilden. Der normative Individualismus legt aber auch den Bezugspunkt der liberalen Normenbildung fest, nämlich die Freiheit jedes Einzelnen beziehungsweise die Interessen und Rechte, das Wohl und Wehe, die Sicherheit und den Schutz aller Bürger:innen. Schon die Etymologie legt nahe, den Liberalismus als eine Theorie zu verstehen, die die Freiheit betrifft.
Das wird im zweiten Abschnitt bestätigt mit Bezug auf das liberale Plädoyer für die Freiheit des Individuums – für die bürgerlichen Freiheitsrechte im politischen Bereich und für die Freiheit der Handlungen, Überzeugungen, Praktiken und Lebensformen im persönlichen Bereich. Zwar ist die herausgehobene Stellung der Freiheit ein wichtiges Merkmal des Liberalismus, das ihn von vielen anderen Theorien unterscheidet. Dennoch erscheint eine Sichtweise auf Freiheit als einziges oder auch nur primäres Kennzeichen unbefriedigend; schließlich ist »Freiheit« in den meisten politischen Theorien oder Proklamationen auf irgendeine Weise präsent, und es gibt gegenwärtig wohl kaum eine Parole, die von so unterschied46lichen Parteien zu derart disparaten Zwecken verwendet wird wie diese.[8]
Zu dem spezifisch liberalen Verständnis von Freiheit gehört, so der dritte Abschnitt, die Forderung, dass jedem Menschen die gleichen politischen und persönlichen Freiheiten in gleichem Maße zukommen. Dabei ist Gleichheit ein normatives Prinzip, das primär als formal-argumentative Präsumption verstanden werden muss. Daran lassen sich verschiedene Dimensionen wie formale, proportionale, politisch-rechtliche, moralische und distributive Gleichheit anschließen und in ihrer Relevanz für den Liberalismus diskutieren.
In der folgenden Darstellung von Individualismus, Freiheit und Gleichheit als Kennzeichen des Liberalismus wird weniger exegetisch als expositorisch argumentiert – obwohl ich an verschiedenen Stellen auf liberale Texte und Philosophen in erläuternder Absicht zurückgreife. Dabei wird sich zeigen, dass die einzelnen Teile des trio liberale zwar aufeinander verweisen, aber dennoch nicht synonym sind, so dass sie zunächst, soweit das möglich ist, unabhängig von einander untersucht werden sollen. Da sie aber nicht nur miteinander kompatibel sind, sondern in einem spezifischen Argumentationszusammenhang aufeinander verweisen, wird im vierten Abschnitt des Kapitels das trio liberale noch einmal im Ganzen betrachtet werden.
2.1 Normativer Individualismus: Warum keine Anarchie?[9]
Als normativen Individualismus bezeichnet man die Position, nach der Individuen einerseits wichtiger und grundlegender sind als Kollektive, die Gemeinschaft oder Gesellschaft, und zum anderen einen höheren moralischen Wert haben. Die Frage, welche Subjekte im Rahmen der Legitimierung politischer Ordnungen und Hand47lungsnormen zu berücksichtigen wären, ist damit beantwortet: Individuuen gelten als erster und einziger Ausgangs- und Bezugspunkt der normativen Rechtfertigung. Der normative Individualismus hat methodologische, sozialontologische, ethische und politische Ausprägungen, wobei die gemeinsamen geistesgeschichtlichen Anfänge in den religiösen, erkenntnistheoretischen und ethischen Bruchlinien zu suchen sind, die die Moderne konturieren. Selbsterkundung und Selbstbestimmung, Innerlichkeit und Authentizität, freie Willensbildung und Entscheidungsfindung, Handlungsfreiheit und Eigenverantwortung beschreiben die verschiedenen normativen Quellen und Ausprägungen dieses individualistischen »Selbst«, dessen Entstehungsgeschichte seit der Renaissance an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | aktuelles Buch • altenative Regierungsform • alternative Lebensform • bücher neuerscheinungen • Demokratie • Krisendiagnose • Kritik • Lebensformen • Menschenrechte • Neoliberalismus • Neuerscheinungen • neues Buch • normativer Individualismus • Pluralismus • Politische Krise • Politische Philosophie • Regierungsformen • STW 2405 • STW2405 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2405 • Unparteilichkeit |
ISBN-10 | 3-518-77602-9 / 3518776029 |
ISBN-13 | 978-3-518-77602-5 / 9783518776025 |
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