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Der arbeitende Souverän (eBook)

Eine normative Theorie der Arbeit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77572-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der arbeitende Souverän - Axel Honneth
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»Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit erstaunlicher Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind.«


Welche Rolle spielt die Organisation von Arbeitsverhältnissen für die Bestandssicherung eines demokratischen Gemeinwesens? Das ist die Frage, der Axel Honneth in seiner neuen großen Monographie nachgeht, deren Schlüsselbegriffe »gesellschaftliche Arbeit« und »soziale Arbeitsteilung« sind. Seine zentrale These lautet, dass die Teilnahme an der demokratischen Willensbildung an die Voraussetzung einer transparent und fair geregelten Arbeitsteilung gebunden ist.

Honneth begründet zunächst, warum es gerechtfertigt ist, die Arbeitsverhältnisse auf ihre Demokratieverträglichkeit hin zu prüfen. Dann zeichnet er die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seit dem Beginn des Kapitalismus im 19. Jahrhundert nach. Fluchtpunkt dieses mit eindrücklichen literarischen Zeugnissen illustrierten historischen Streifzugs, der unter anderem in die Welt der Landarbeiter, der - zumeist weiblichen - Dienstboten und der ersten Industriearbeiter führt, ist die Vermutung, dass die heutigen Arbeitsverhältnisse zunehmend die Chancen zur aktiven Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung untergraben. Daher wird im letzten Teil des Buches umrissen, an welchen Scharnierstellen eine Politik der Arbeit heute anzusetzen hätte, um den sich abzeichnenden Missständen entgegenzuwirken und zu einer dringend benötigten Neubelebung demokratischer Partizipation beizutragen.



Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 f&uuml;r <em>Die Idee des Sozialismus</em> mit dem Bruno-Kreisky-Preis f&uuml;r das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches <em>Der arbeitende Souver&auml;n</em>.

622.
Eine verschüttete Tradition


Zu weiten Teilen bildet die industrielle Ordnung […] den Schlüssel zur Paradoxie der politischen Demokratie. Warum sind die Vielen nominell der oberste Souverän, faktisch aber machtlos? Weitgehend weil ihre Lebensumstände sie nicht an die Ausübung von Macht oder Verantwortung gewöhnen oder heranführen. Eine industrielle Knechtschaft spiegelt sich zwangsläufig in politischer Knechtschaft wider.

– G. ‌D. ‌H. Cole[53] 

Schon bei Adam Smith blitzt in seiner Untersuchung über den Reichtum der Nationen, wie bereits erwähnt, an einer Stelle der Gedanke auf, dass zwischen der Art und Beschaffenheit der Arbeit, die jemand verrichtet, und seiner Fähigkeit zur Teilnahme an der politischen Kommunikation eine ganz enge Verbindung besteht. Im fünften Abschnitt von Buch V seiner umfangreichen Schrift, in dem er aufzählt, welche Pflichten der politischen Führung eines Gemeinwesens obliegen, heißt es, dass die »zunehmende Arbeitsteilung« die erwerbsmäßige Tätigkeit eines großen Teils der Bevölkerung auf erschreckend wenige, sehr einfache Verrichtungen zusammenschrumpfen lässt; die »geistige Abstumpfung« und seelische Verkümmerung, die das bewirke, so fährt Smith 63fort, sei aber der Entwicklung einer »zivilisierten Gesellschaft« im hohen Maße abträglich, weil diese doch darauf angewiesen sei, dass alle ihre Mitglieder »geistige« und »gesellschaftliche« Fähigkeiten erwerben können.[54]  Die Ausbildung solcher Befähigungen sind Smith zufolge deshalb notwendig für ein zivilisiertes Sozialleben, weil ein jedes erwachsene Gesellschaftsmitglied in der Lage sein müsse, sich »über die großen und weitreichenden Interessen seines Landes« ein Urteil bilden zu können.[55]  Dies ist keine selbstverständliche Auskunft in einer Epoche, die noch weit davon entfernt ist, den erwerbstätigen Massen ein Recht auf politische Meinungsbildung oder gar demokratische Mitbestimmung einzuräumen. Warum sollte also das Volk, wenn es doch keinerlei Anspruch auf demokratische Kontrolle der Regierungstätigkeit besitzt, gleichwohl davor bewahrt werden, sich aufgrund der Eintönigkeit, des Stumpfsinns und der Anstrengung der zu verrichtenden Arbeit kein Urteil über die allgemeinen Belange des Landes bilden zu können? Wiederum überrascht die Klarheit der Antwort, die Smith auf diese Nachfrage erteilt: Weil ansonsten die Machthabenden nicht auf die Nachvollziehbarkeit und Bewilligung der von ihnen erlassenen Gesetze von Seiten des Volkes hoffen könnten. Deutlicher lässt sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, also einige Jahrzehnte vor der Französischen Revolution, kaum artikulieren, dass eine Regierung auf die Arbeits- 64und Beschäftigungsbedingungen im eigenen Hoheitsgebiet deswegen zu achten habe, weil von deren Beschaffenheit nicht zuletzt abhängt, ob die erwerbstätige Bevölkerung die politischen Erlasse vollständig verstehen, sie begründet gutheißen und schließlich auch dem Sinn nach beherzigen kann; und je weniger belastend, je weniger eintönig und abstumpfend die individuelle Arbeitstätigkeit jeweils sei, so scheint Smith sagen zu wollen, desto größer auch die Chance seitens der Einzelnen, sich von den politisch dringlichen Aufgaben ihres Landes ein angemessenes Bild zu machen und damit wenigstens im Grundsatz die Regierungsmaßnahmen auf ihren Wert hin beurteilen zu können.[56]  Anstatt aber nun politische Eingriffe in den Arbeitsmarkt selbst ins Auge zu fassen, mittels deren die individuellen, arbeitsteilig verzahnten Beschäftigungen dem Ziel einer größeren Komplexität und einer geringeren Belastung direkt angepasst werden könnten, schlägt Smith nur indirekte Maßnahmen der außerbetrieblichen Bildung vor, um den von ihm diagnostizierten Gefährdungen entgegenzuwirken; ganz auf der Linie seiner Prämisse, so weit wie irgend möglich auf Eingriffe in das Marktgeschehen zu verzichten, rät er den staatlichen Instanzen zur Finanzierung von pädagogischen Einrichtungen, die gewissermaßen kompensatorisch der drohenden intellektuellen Verkümmerung unter den Lohnabhängigen abzuhelfen hätten.[57]  Was so vielversprechend mit dem Hinweis auf die politisch-zivi65lisatorischen Kosten einer zu weitgehenden Arbeitsteilung begann, verläuft sich daher am Ende im Smithschen Sand des Wirtschaftsliberalismus, über dessen Schatten er nicht zu springen vermag.

Ganz anders operiert am selben Kreuzungspunkt zwischen Politik und Arbeitsteilung Hegel in seiner »Rechtsphilosophie«, obwohl er doch von Smith die optimistische Einschätzung der segensreichen Effekte des Marktes zunächst weitgehend übernimmt.[58]  Im Unterschied zum schottischen Aufklärer will er jedoch die Vorrichtungen, die einer zunehmenden Degradierung und Vereinseitigung der gesellschaftlichen Arbeit entgegenwirken sollen, innerhalb der institutionellen Sphäre der Marktgesellschaft selbst untergebracht wissen; daher schlägt er vor, die Beschäftigten in branchenspezifischen, von ihm »Korporationen« genannten Assoziationen zu organisieren, denen neben bedarfsdeckenden Versorgungsleistungen vorranging die Aufgabe zukommen soll, den gesellschaftlichen Wert der Arbeit hochzuhalten und ein Bewusstsein der wechselseitigen Ab66hängigkeit aller am Markt Beteiligten zu stärken.[59]  Nur zu deutlich ist diesen, ihrer Zeit weit vorausgreifenden Empfehlungen die Absicht abzulesen, durch solche Berufsgruppen das zu gewährleisten, was doch eigentlich die neue Wirtschaftsform von sich aus garantieren können sollte: dass die Arbeitenden nicht nur über ein subsistenzsicherndes Einkommen verfügen und damit ein Leben frei von externen Abhängigkeiten führen, sondern vor allem auch ein Gefühl dafür entwickeln können sollten, welcher gesellschaftliche Wert und welche bedeutende Rolle ihren Leistungen im Gefüge der immer undurchsichtiger werdenden Arbeitsteilung tatsächlich zukommt.[60]  Jede auch nur kleinste Tendenz in Richtung einer Dequalifizierung, Vereinzelung und Ausdünnung der Arbeit muss Hegel daher ein Dorn im Auge sein; denn mit derartigen Prozessen muss aus seiner Sicht die ohnehin stets drohende Gefahr noch zunehmen, dass die Masse derer, die nur von ihrer eigenen Hände Arbeit leben, nicht die psychischen, intellektuellen und kulturellen Befähigungen besitzen, um die Freiheiten und Rechte der modernen Gesellschaft tatsächlich im vollen Umfang nutzen zu können. In negativer Form hat Hegel die wechselseitige Abhängigkeit, die er damit zwischen gesellschaftlicher Teilhabe und der Verfasstheit der sozialen Arbeitsteilung behauptet, an einer eher unscheinbaren Stelle seiner »Rechtsphilosophie« sehr genau auf den Punkt gebracht: Vermehrt sich, 67so sagt er dort, »die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse«, so ergibt sich daraus »die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft […].«[61]  Hier ist es nicht einfach die Höhe des Einkommens oder der finanziellen Rücklagen, sondern die Qualität des Arbeitsplatzes und der zu verrichtenden Tätigkeiten selber, die über die Chancen zur Mitwirkung am sozialen Leben entscheidet; die Möglichkeit, die liberalen Freiheiten und kulturellen Segnungen der modernen Gesellschaften tatsächlich in Anspruch zu nehmen, wird von der Verfügung über eine hinreichend gut verfasste Beschäftigung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung abhängig gemacht. Damit hat Hegel zwar noch nicht die Bindung der demokratischen Volksherrschaft an die Voraussetzung einer gerechten und transparenten Arbeitsteilung offengelegt; für diesen nächsten und entscheidenden Schritt fehlt es ihm im Unterschied zu Kant an der Einsicht in den intrinsischen Zusammenhang von Rechtsstaat und öffentlicher Willensbildung. Aber wie kein anderer Denker zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Hegel bereits vorausgesehen, dass die politischen Freiheiten des neuen Zeitalters einen »fairen Wert« nur innehaben werden, um hier den Ausdruck von John Rawls zu...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte aktuelles Buch • Arbeitsbedingungen • Arbeitsmarkt • Arbeitsteilung • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Bruno-Kreisky-Preis 2015 • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Demokratie • Ernst-Bloch-Preis 2015 • gesellschaftliche Arbeit • Kapitalismus • Kritische Theorie • Monographie • Neuerscheinungen • neues Buch • Philosophie • politische Partizipation • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • soziale Arbeitsteilung • Sozialphilosophie
ISBN-10 3-518-77572-3 / 3518775723
ISBN-13 978-3-518-77572-1 / 9783518775721
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