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1923 (eBook)

Ein deutsches Trauma | Basierend auf neu erschlossenem Quellenmaterial aus europäischen Archiven

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2657-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

1923 -  Mark Jones
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1923 - Das Jahr der Extreme Es war das Jahr, in dem die deutsche Politik von Krise zu Krise schlitterte, als ein Bürgerkrieg realistisch erschien und die Republik an ihren Extremen und ihrer prekären Wirtschaftslage zu zerbrechen drohte.  Was erzählt die traumatische Erfahrung des Jahres 1923 über uns? Der Historiker Mark Jones führt uns mitten hinein ins Krisenjahr 1923: in jene Monate, als französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, die Deutschen für ein Brot Milliarden zahlten und in den Bierkellern ein Rechtsextremist namens Adolf Hitler reüssierte. Jones erzählt von der Bedrohung des Staates durch Putschisten von links und rechts, von Hunger und Antisemitismus - aber auch davon, wie das Land die Dauerkrise überwand und zu Stabilität und Frieden fand. Am Ende standen die Demokraten als Sieger da.

Mark Jones, geboren 1981, ist Assistant Professor am University College Dublin. Zuvor war er Research Fellow an der Freien Universität Berlin und hatte einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum inne. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang zwischen Gewalt und politischer Kultur in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sein erstes Buch 'Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik' ist bei Propyläen erschienen.

Mark Jones, geboren 1981, ist Assistant Professor am University College Dublin. Zuvor war er Research Fellow an der Freien Universität Berlin und hatte einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum inne. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang zwischen Gewalt und politischer Kultur in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sein erstes Buch "Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik" ist bei Propyläen erschienen.

Prolog


Mitte November 1923 ging ein 16-jähriges Mädchen, das sich ein schwarz-rot-goldenes Bändchen an die Brust gesteckt hatte, in Bayern spazieren. Ein junger Mann kam ihr entgegen, trat auf sie zu und wies sie an, das Bändchen zu entfernen. Als sie sich weigerte, begann er sie zu schlagen, wobei er versuchte, ihr das Bändchen mit den Farben der Weimarer Republik zu entreißen. Der junge Mann war ein »Hakenkreuzler« – ein Begriff, den deutsche Demokraten damals abfällig für Hitlers Anhänger benutzten. Schließlich ließ er von dem Mädchen ab und rannte fort. Kein einziger Passant war ihr zu Hilfe gekommen. Das Bändchen war beschädigt, aber nicht zerstört worden.1

Wenige Wochen später erklärte der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx – nach Wilhelm Cuno und Gustav Stresemann der dritte deutsche Kanzler des Jahres – gegenüber der deutschen Presse, dass das Jahr 1923 »wohl nicht mit goldenen Lettern in die Geschichte des deutschen Volkes eingetragen werden würde«.2 In jenem Jahr stand das politische Schicksal Deutschlands auf Messers Schneide; die Deutschen hatten mit den Traumata der Besetzung und nationalen Demütigung, mit finanziellem Chaos, Massenarbeitslosigkeit und einer beispiellosen Hyperinflation zu kämpfen. Als diese vielfältigen und sich überschneidenden Krisen Ende Oktober ihren Höhepunkt erreichten, stand die Republik vor der gefährlichsten Bedrohung ihres Überlebens seit ihrer Gründung. Ein Bürgerkrieg zwischen Bayern und Sachsen lag ebenso im Bereich des Möglichen wie ein kommunistischer Versuch der Machtergreifung, ein Militärputsch oder ein Staatsstreich der extremen Rechten. Angesichts all dieser Bedrohungen übertrieb der damalige Kanzler Gustav Stresemann keineswegs, als er sagte, wenn die bewaffneten bayerischen Banden, die die Republik zerschlagen wollten, jemals nach Berlin gelangen würden, »dann sollen sie mich niederschießen an dem Platze, an dem zu sitzen ich ein Recht habe«.3

Die Krisenspirale begann sich am 11. Januar zu drehen, als auf Befehl des französischen Regierungschefs Raymond Poincaré französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, angeblich zur Konfiszierung von Sachreparationen, nachdem Deutschland den im Versailler Vertrag festgelegten Reparationsforderungen nicht nachgekommen war. Mehrere aufeinanderfolgende deutsche Regierungen hatten diese Forderungen für unerfüllbar erklärt. Die Regierung Cuno erklärte die Invasion für einen illegalen Aggressionsakt. Angesichts eines Aufwallens der nationalen Empörung erklärte sie, dass die Deutschen gegen die Besatzung »passiven Widerstand« leisten würden. Die Zechen und Fabriken des Ruhrgebiets wurden geschlossen. Deutsche Arbeiter und Beamte widersetzten sich den Besatzern, indem sie sich weigerten, auf deren Forderungen einzugehen. Um den passiven Widerstand zu finanzieren, druckte die Reichsbank Geld. Bereits im April zeichnete sich ab, dass Deutschland wegen der folgenden Inflation auf eine »Finanzkatastrophe« zusteuerte.4

Doch der Kurs des passiven Widerstands musste beibehalten werden. Seine Fürsprecher argumentierten, dass die Zukunft Deutschlands als Einheitsstaat auf dem Spiel stehe. Würde er aufgegeben, so befürchteten sie, dann würde das Ruhrgebiet auf Dauer verloren sein. Das war keineswegs nur ängstlicher Nationalismus. Mit Unterstützung der Hardliner in Regierung und Nationalversammlung spielte Poincaré im Laufe des Jahres zunehmend mit dem Gedanken, das Ruhrgebiet dauerhaft von Deutschland abzutrennen. Um den Widerstand der deutschen Bahnarbeiter zu umgehen, gründeten die Franzosen sogar eine Eisenbahngesellschaft, die im Ruhrgebiet die Reichsbahn ersetzen sollte. Sie schufen eine neue innerdeutsche Grenze und eine Zollzone im besetzten Ruhrgebiet, und sie kontrollierten den Zugang zum Ruhrgebiet, das sie als Strafe für das Verhalten der deutschen Bevölkerung mehrfach komplett abriegelten.

Der passive Widerstand wurde erst am 26. September, als Stresemann erkannte, dass er mehr schadete als nützte, beendet. Hätte man ihn fortgesetzt, dann hätte die Hyperinflation, die sich seit dem Sommer dramatisch zugespitzt hatte, die deutsche Volkswirtschaft und vermutlich auch die Republik selbst vernichten können. Aber die Beendigung des Widerstands brachte keineswegs Ruhe. Vielmehr löste sie die nächste Krisenwelle aus, als die Gegner der Republik die Chance erkannten, sich die Situation zunutze zu machen, um ihre Ziele zu erreichen. Die folgenden Wochen zählten zu den angespanntesten seit Bestehen der Republik.

Von Moskau angespornt, glaubten die deutschen Kommunisten, sie hätten eine realistische Chance, die Macht zu ergreifen und den russischen Bolschewiken nachzueifern, nur um ihre Pläne in letzter Minute weitgehend aufzugeben, als sie erkannten, dass sie scheitern würden. Mit Unterstützung der Franzosen glaubten Separatisten im Rheinland, sie könnten binnen weniger Wochen die Unabhängigkeit von Preußen erlangen und einen unabhängigen rheinischen Staat unter französischer Protektion schaffen. Auch Hitler glaubte, es sei ein »Jetzt oder nie«-Moment. Im November versuchte er Mussolini nachzueifern, der nach seinem »Marsch auf Rom« im Oktober 1922 italienischer Ministerpräsident geworden war. Der erste Schritt auf dem Weg nach Berlin war die Machtübernahme in München. Aber trotz einer Steigerung der Mitgliederzahl der NSDAP um das Zehnfache im Lauf des Jahres 1923 verfügte Hitler noch nicht über die notwendige Machtbasis, um dieses Vorhaben ohne die Unterstützung der Reichswehr umzusetzen. Als diese ausblieb, konnte er lediglich einen Marsch zur Feldherrnhalle auf dem Münchner Odeonsplatz veranstalten, wo seine bewaffneten Anhänger von der bayerischen Landespolizei gestellt wurden. Während eines kurzen Feuergefechts kugelte er sich die Schulter aus, als der Mann, den er in der ersten Reihe der Marschkolonne untergehakt hatte, tödlich getroffen wurde und zu Boden stürzte. Wäre die Kugel nur einige Zentimeter weiter rechts eingeschlagen, wäre der Name Hitler heute unbekannt.

Wie in München wurden die Kräfte, die die Republik zerstören wollten, in ganz Deutschland zurückgeschlagen. Auf dem Höhepunkt der Krise machte Friedrich Ebert von seinen Notstandsbefugnissen Gebrauch, um die Verfassung zu stützen, während Stresemann, neben der Beendigung des passiven Widerstands, die Währung reformierte und die Stabilisierung der Wirtschaft einleitete. Die Erfolge der beiden Staatsmänner erinnern daran, dass die Geschichte des Jahres 1923 nicht nur von Radikalisierung und Gewalt handelt; sie ist auch eine Geschichte des Sieges der deutschen Demokraten über ihre Widersacher. Am Ende des Jahres 1923 saß Hitler in Festungshaft, und Thomas Mann hegte sogar die Hoffnung, dass sich Europas Intellektuelle schon bald vereinen würden, um den Kontinent in eine bessere Zukunft zu führen.5 Es ist wichtig, daran zu erinnern: Das Mädchen, das mit einem prorepublikanischen Bändchen an der Brust in Bayern spazieren ging, trug dieses nicht, um das Ende der Republik zu betrauern. Sie trug es, um deren Sieg zu feiern.

Das vorliegende Buch fußt auf einer umfangreichen historischen Literatur zum Jahr 1923.6 Was es von anderen unterscheidet, ist der Maßstab der Analyse: Die hier erzählte Geschichte handelt von dem, was wir entdecken, wenn wir das Mikroskop schärfer stellen, um individuelle Konflikte in den Fokus zu nehmen. Szenen wie jene zwischen dem Mädchen und dem Hakenkreuzler sind nicht bloß anekdotisch. Sie zeigen den Kern dessen, was die sich überschneidenden Krisen von 1923 so gefährlich machte. Das Töten von Zivilisten oder die Vergewaltigung deutscher Frauen durch französische und belgische Soldaten, die Wut, die ausländische Bajonette auf öffentlichen Plätzen auslösten, die fanatischen Appelle an das Nationalbewusstsein, das Gefühl, dass ein Nachbar oder Verwandter es geschafft hat, vom Zusammenbruch der Währung zu profitieren, während die eigene Familie Hunger litt, die radikale Sprache Hitlers und die antisemitische Gewalt seiner Anhänger und Sympathisanten – dies alles waren die Konflikte, die das Krisenjahr antrieben. Sie werden in diesem Buch parallel zu den Konflikten erörtert, die zwischen den Regierungen und Diplomaten in Paris, London und Berlin ausgetragen wurden. Ebendieses Zusammentreffen all dieser »Mikro«-Zusammenstöße mit einem internationalen System, das sich während des größten Teils des Jahres auf die Seite der Franzosen und gegen Deutschland stellte, hätte die Weimarer Republik um ein Haar vernichtet. Nur indem wir beide Geschichten miteinander kombinieren, können wir die wahre Bedeutung der Entscheidungen Stresemanns in seiner kurzen Zeit als Kanzler verstehen.

Gewalt spielt in diesem Buch eine zentrale Rolle. Wir können die Konflikte, die im Lauf des Jahres auftraten, nicht erforschen, ohne innezuhalten, um über ihren Anteil an der Eskalation des Hasses nachzudenken. Die Besetzung des Ruhrgebiets war von Anfang an gewaltsam. Die Besatzungstruppen töteten Zivilisten und vergewaltigten deutsche Frauen und Mädchen. Auf ihre Gewalt wurde seitens der Deutschen mit einer Kampagne des aktiven Widerstands geantwortet, angeführt von...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2022
Übersetzer Norbert Juraschitz
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Arbeitslosigkeit • Attentat • Demokratie • Ebert • Gewalt • Hitlerputsch • Hyperinflation • Krise • Mussolini • NSDAP • Rapallo • Rathenau • Rechtsextremismus • Reichsmark • Reparationen • Ruhrbesetzung • Sozialdemokratie • Stresemann • Weimarer Republik • Wirth • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-8437-2657-4 / 3843726574
ISBN-13 978-3-8437-2657-3 / 9783843726573
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