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Zurück nach Berlin (eBook)

Wie mein Vater mit mir in seine Vergangenheit reiste
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
313 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76877-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zurück nach Berlin -  Jonathan Lichtenstein
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1939 entkommt der zwölfjährige Hans mit einem der »Kindertransporte« aus Nazi-Deutschland. Als einer der wenigen Überlebenden seiner Familie ist er fortan auf sich alleine gestellt und lässt seine deutsch-jüdische Herkunft hinter sich. Als Erwachsener baut er sich im ländlichen Wales eine neue Existenz auf und gründet eine Familie. Über seine Vergangenheit spricht er nicht, und für seine Kinder ist es schwer, ihren verschlossenen, oft unnachgiebigen Vater und sein mitunter eigensinniges Verhalten zu verstehen. Erst in hohem Alter stellt Hans sich seiner Vergangenheit und reist mit seinem Sohn Jonathan zurück nach Berlin, zu seinen Wurzeln, entlang der ehemaligen Route des Kindertransports.

Jonathan Lichtenstein erzählt auf drei Zeitebenen vom Leben mit einem Vater, das geprägt war von den Schatten der Vergangenheit - und davon, wie er ihm endlich näherkam. Ein Road Trip mitten hinein ins Trauma des zwanzigsten Jahrhunderts - bewegend und versöhnlich.



<p>Jonathan Lichtenstein, aufgewachsen in Wales, ist Dramatiker, seine Stücke werden weltweit gespielt. Er ist zudem Professor of Drama an der Universität von Essex. <em>Zurück nach Berlin</em> ist sein erstes Buch.</p>

1.7


Wir lassen das Haus hinter uns und fahren langsam die Cefnllys Lane hinunter. Weiter geht es über die ruhigen Straßen von Wales, die Hecken sind hoch, die nahen Hügel wie Balsam. In Llanelwedd biegen wir links ab und folgen der alten Eisenbahnlinie längs des Wye, umfahren Brecon, durch die Beacons hinauf, sehen den Pen y Fan, wo der SAS seine Leute ausbildet, fahren nach Abergavenny und dann das von Bäumen gesäumte Severn-Tal entlang. Wir kommen an der Klosterruine von Tintern Abbey vorbei, überqueren die alte Severn-Brücke und fahren weiter auf der M4. In Reading halten wir an der Raststätte. Dort sind wir in einer anderen Welt. LCD-Bildschirme, Menschenmengen, gekühlte Lebensmittel. Wir fahren ab auf die M25, im Bogen um London herum bis zur A12, dann nordöstlich, bis wir uns dem flachen Küstenland bei Harwich nähern. Mein Vater sitzt ruhig auf dem Beifahrersitz, Blick nach vorn, Hals gereckt.

Als du vom Schiff gekommen bist, musst du als Erstes diese Landschaft hier gesehen haben.

Vermutlich, ja.

Durchs Zugfenster, auf dem Weg zum Bahnhof London Liverpool Street.

Ja.

Kommst du heute zum ersten Mal wieder hierher?

So ist es.

Erkennst du es wieder?

Eher nicht.

Wir sehen uns den Ort an, wo du zum ersten Mal englischen Boden betreten hast.

Beim Bahnhof? Parkeston Quay?

Wir fahren über die Sträßchen, die sich im nördlichen Essex durch die Dörfer winden. Die Häuser in der Ortsmitte haben Reetdächer, Fachwerk, bleiverglaste Fenster und Mauern aus Flechtwerk und Lehm, gekalkt in matten Rosa- oder Grautönen. Wo die Dörfer sich über ihren historischen Kern hinaus ausdehnen, werden die Häuser anders, sie wenden sich der Straße zu und säumen sie auf beiden Seiten. Es sind Doppelhäuser aus Backstein mit recht flachen Ziegeldächern. Neben den Häusern stehen Garagen mit lackierten Metalltoren. Weiter draußen ändert sich die Architektur noch einmal. Hier sind es Neubauten in kleinen Sackgassen, jedes Haus verkleidet mit weißen Brettern aus Faserholz oder Kunststoff. Die Kunststoffverkleidung ist eine jüngst aufgekommene Mode und eine Nachahmung der Architektur Neuenglands, die ihrerseits auf die langen Holzscheunen in der hiesigen Gegend verweist. Denn von hier stammten einige der allerersten englischen Siedler Amerikas, die Pilgrim Fathers, und ihre Bautechnik und den entsprechenden Jargon nahmen sie mit.

Wir kommen durch Elmstead Market, Little Bentley, vorbei an Horsley Cross und dann auf die Tinker Street, die breite Straße, die sich zu einer zweispurigen Schnellstraße mit Fugen in der Fahrbahndecke verbreitert, schmalen, mit Bitumen verfüllten Lücken im Beton.

Bald sind wir in Harwich. Wir fahren hindurch, vorbei am Ha’penny Pier, der in die Mündung hineinragt, dort, wo die Fischer ihre langen Ruten auswerfen, um Kabeljau zu fangen, dann vorbei an dem Haus, wo Samuel Pepys in seiner Zeit als Parlamentsabgeordneter für Harwich wohnte, vorbei an der Werft, für die Pepys als hoher Beamter der Admiralität zuständig war, dann die King’s Head Street hinunter zu dem Haus, in dem Christopher Jones zur Welt kam und lebte, Kapitän und zu einem Viertel Eigentümer der Mayflower.

Sein Haus ist eines in einer Reihe einfacher Häuser und weiß gestrichen. Wir steigen aus, um zu sehen, was auf einer Tafel an der Wand steht. Während wir lesen, kommt ein korpulenter Mann mit einem kleinen schwarzen Hund an der Leine und Fish and Chips in der Hand auf uns zu. Er bleibt stehen, spricht meinen Vater an, der Hund schnüffelt an seinen Füßen und seinen Waden.

Der Kapitän der Mayflower hat hier gewohnt.

Aha, interessant.

Sehen Sie die Tafel?

Ja.

Da steht’s.

Worauf der Mann und sein Hund weiterziehen. Er ist noch nicht außer Sichtweite, als mein Vater loslegt.

Dass so einer Fish and Chips isst.

Wieso nicht?

Du hast ihn ja gesehen. Er ist übergewichtig.

Was hältst du von dem Haus des Kapitäns der Mayflower?

Runtergekommen.

Die Mayflower wurde in der Nähe von Harwich gebaut.

Ach ja?

Der ursprüngliche Name war Mayflower of Harwich. Als es nach Amerika segelte, kam der größte Teil ihrer Besatzung aus Essex.

Tatsächlich?

Bevor es nach Amerika fuhr, ist es die meiste Zeit zwischen Alicante und Rotherhithe gesegelt und hat spanischen Wein heraufgebracht, das Lieblingsgetränk von James dem Ersten.

Ich dachte, sie ist von Plymouth aus gesegelt.

Dort hat es ein paar Vorräte geladen und sich mit einem anderen Schiff zusammengetan, der Speedwell, das musste dann umkehren. Richtig losgefahren ist es aber von Rotherhithe.

Mein Vater geht zurück zum Auto. Er dreht sich zu mir um.

Von Schiffen, die Namen haben, spricht man als »sie«, nicht als »es«.

Ich weiß.

Warum sagst du dann immer »es«?

Einfach so.

Du hörst nie zu, stimmt’s?

Weiß nicht.

Als hätte ich dir das nicht schon tausendmal gesagt. Und noch was.

Was?

Bevor wir zum Bahnhof gehen.

Ja?

Ich möchte Fish and Chips.

Wir gehen zum Pieseas Chippy in der West Street und bestellen Schellfisch mit Pommes frites. Dann gehen wir wieder die Straße hoch zum Ha’penny Pier, setzen uns auf eine Bank und essen unsere in Papier eingeschlagenen Fish and Chips. Wir schauen über die große Bucht, wo sich die Flüsse Orwell und Stour an ihrer Mündung vereinen. Das Wasser wogt leicht und schimmert. Das Licht schwindet. Ein kühler Wind weht vom Meer herüber. Der Himmel ist noch hell, auch wenn es schon dunkel wird, und die Wolken stehen hoch. Auf der anderen Seite der Bucht, rechts von uns, sehen wir den Hafen Felixstowe, der Schiffe von mehr als vierhundert Meter Länge aufnimmt und wo jährlich vier Millionen Container umgeschlagen werden. Aus dieser Entfernung sehen die Hafenkräne, wenn sie die Container von den Schiffen entladen, wie riesige Amseln aus, die mit ihren Schnäbeln Würmer aus dem Boden ziehen.

Ich deute über das Wasser auf das gegenüberliegende Ufer.

Bartholomew Gosnold hat drüben auf der anderen Seite der Mündung gelebt, in Otley.

Wer?

Bartholomew Gosnold. Er ist mit Walter Raleigh gesegelt, und 1602 hat er zum ersten Mal eine neue Route nach Amerika befahren. Er hat Menschen mitgenommen, um mit ihnen eine neue Siedlung zu gründen.

Tatsächlich?

Sie hat nur einen Monat bestanden, dann sind sie zurückgekommen. Sein Schiff hieß Concord. Es war nur zweiunddreißig Fuß lang.

Zweiunddreißig Fuß?

Ja.

Über den Atlantik?

Und wieder zurück. Christopher Jones hat die Seekarten benutzt, die Gosnold angefertigt hatte. Die Mayflower ist seiner Route gefolgt. Er und Gosnold haben sich wahrscheinlich hier in der Nähe getroffen.

Hier?

Ja.

Hast du auch Ketchup gekriegt?

Ich gebe meinem Vater mehrere Plastiktütchen Ketchup. Er legt seine Pommes frites ab, öffnet die Tütchen eins nach dem anderen und träufelt den Ketchup darüber.

Scheiß Plastikdinger, für nichts gut. Du musst fünf davon aufmachen, bis du eine anständige Portion hast. Warum können die nicht so wie früher eine ordentliche Flasche auf die Theke stellen? Die Welt wird immer verrückter.

Möwen kreisen über uns und halten Ausschau nach heruntergefallenen Fritten.

Als Gosnold zum ersten Mal in die Nähe von Land kam, hat er seine Netze ausgeworfen, und sie waren sofort voller Kabeljau. Deshalb hat er die Halbinsel danach benannt, Cape Cod.

Ach...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Sprache deutsch
Original-Titel THE BERLIN SHADOW. Living with the Ghosts of the Kindertransport
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Berlin • Biografie • Biographie • Deutsche Geschichte • Erinnerung • Familientrauma • Faschismus • Flucht • Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis 2012 • Holocaustüberlebende • Kindertransport • Nationalsozialismus • Paul-Celan-Preis 2018 • Sohn • The Berlin Shadow. Living with the Ghosts of the Kindertransport deutsch • Trauma • Überlebende • Vater
ISBN-10 3-458-76877-7 / 3458768777
ISBN-13 978-3-458-76877-7 / 9783458768777
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