StrateGe - Strategien zum Genuslernen (eBook)
96 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61463-9 (ISBN)
Dr. Stephanie Riehemann, Studienrätin im Hochschuldienst an der Universität zu Köln, forscht und lehrt zu Sprachbehindertenpädagogik in schulischen und außerschulischen Bereichen.
Dr. Stephanie Riehemann, Studienrätin im Hochschuldienst an der Universität zu Köln, forscht und lehrt zu Sprachbehindertenpädagogik in schulischen und außerschulischen Bereichen.
1 Genus: das grammatische Geschlecht
1.1 Vom Sinn und Unsinn des deutschen Genus
Der lateinische Begriff Genus kann mit Geschlecht oder Klasse übersetzt werden und wird in der Linguistik für jene morphologische Kategorie gebraucht, die Nomen verschiedenen Gruppen zuordnet. Dabei unterscheidet die deutsche Grammatik drei Genera: Maskulinum, Femininum und Neutrum. In der Regel hat jedes Nomen ein festes Genus. Dieses wird in unserer Sprache aber nicht am Nomen selbst markiert, sondern indirekt an den zugehörigen Artikeln (z. B. ein Auto), Adjektiven (z. B. altes Auto) und Pronomen (z. B. ihr Auto). Besonders deutlich wird die Markierung des Genus bei den bestimmten Artikeln: der (Mask.), die (Fem.) und das (Neut.). Diese gehören zu den häufigsten Wörtern unserer Sprache. Wir benutzen sie in fast jedem Satz. Gleichzeitig sind Artikel kurze, unscheinbare Wörter, die keine eigene Bedeutung tragen. Sie sind Funktionswörter und dienen einzig und allein der Klassifikation von Nomen. Sie werden daher in schulischen Kontexten auch als Begleiter bezeichnet.
Die Linguistik untersucht seit den 1980er Jahren, nach welchen Regeln die Einteilung in die drei Genusklassen erfolgt. Bei Lebewesen gibt es offenbar eine hohe Übereinstimmung mit dem natürlichen Geschlecht (z. B. der Mann, die Frau), obwohl selbst hier Ausnahmen auftreten (z. B. das Mädchen). Krüger beschreibt die Genuszuweisung als eine „intransparente Mischung aus Konvention und Willkür“ (Krüger 2017, 104). Diese zeigt sich beispielsweise bei Fremdwörtern, die (noch) kein einheitliches Genus aufweisen (z. B. der/das Laptop). Gelegentlich gibt es auch dialektale Unterschiede (z. B. der/das Radiergummi) oder Abweichungen zwischen verschiedenen Sprachen. So heißt das Auto (Neut.) im Spanischen el coche (Mask.) und im Französischen la voiture (Fem.). Offensichtlich gibt es hier unterschiedliche Konventionen, die sprachspezifisch sind. Welches Geschlecht ein Nomen hat, scheint mehr oder minder zufällig zu sein. Zumal die grammatische Kategorie Genus in manchen Sprachen gar nicht vorkommt (z. B. Türkisch) oder andere Sprachen nur zwei Genera differenzieren (z. B. Italienisch). Und selbst in der deutschen Sprache kann der gleiche Gegenstand mit verschiedenen Genera in Verbindung stehen (z. B. der Wagen, die Karre, das Auto). Das grammatische Geschlecht ist offenbar weitgehend unabhängig von der Bedeutung eines Nomens, auch wenn Sprachwissenschaftler wie Köpcke und Zubin (1996) vereinzelt semantische Zuweisungsmuster nachweisen konnten (z. B. Automarken = Mask., Blumen = Fem., Medikamente = Neut.). Stets lassen sich aber Ausnahmen finden (z. B. die Corvette, das Veilchen, die Pille).
Stärker als die Bedeutung wirkt sich nämlich – zumindest bei einem Teil der Nomen – die phonologische und morphologische Wortstruktur auf die Genusklassifikation aus (Wegener 1995; Hoberg 2004). Tabelle 1 macht deutlich, dass es insbesondere die Wortendung ist, die Einfluss auf die Genuszuweisung hat. Nur einzelne Regeln (z. B. -chen = Neut.) gelten zu 100 %. In den meisten Fällen stellen sie nur Über-Wahrscheinlichkeiten dar. Sie werden daher als Genus-Cues (Hinweise) oder Zuweisungsmuster bezeichnet.
Tab. 1: Morphonologische Zuweisungsmuster der deutschen Sprache
Mask. | -ling (der Lehrling, der Winzling) -er (der Bäcker, der Winter) -ist (der Egoist, der Mist) -en (der Wagen, der Schinken) -el (der Vogel, der Gürtel) -ich (der Teppich, der Strich) Einsilber (der Mann, der Hund) |
Fem. | -e (die Hose, die Pille) -ung (die Heizung, die Werbung) -keit (die Dankbarkeit, die Fähigkeit) -heit (die Freiheit, die Dunkelheit) -schaft (die Freundschaft, die Wissenschaft) -ie (die Theorie, die Biologie) |
Neutr. | -tum (das Datum, das Altertum) -chen (das Mädchen, das Veilchen) -lein (das Kindlein, das Büchlein) -nis (das Geheimnis, das Vermächtnis) -o (das Radio, das Auto) Ge- (das Gefühl, das Geheimnis) |
Mit Blick auf die Genuslosigkeit anderer Sprachen und die weitgehende Zufälligkeit vieler Genuskorrespondenzen stellt sich die Frage, ob und wozu wir das grammatische Geschlecht überhaupt brauchen. Wäre es nicht einfacher, wenn alle Nomen den gleichen Artikel hätten (wie im Englischen) oder überhaupt kein Genus markiert würde (wie im Türkischen)? Kruse (2010) vergleicht das Genus im Deutschen mit einem Scharnier an der Schnittstelle von Lexikon und Grammatik. In beiden Bereichen dient es der Sortierung und verbindet damit typischerweise eine lexikalische Innenfunktion (Strukturierung des mentalen Lexikons) und eine grammatische Außenfunktion (Herstellen von Kongruenz und Kohärenz).
BEISPIEL
Funktionen des deutschen Genus
„Der Leiter holt die Leiter. Die braucht er, um auf das Dach zu kommen.“
Die lexikalische Funktion zeigt sich hier in der Unterscheidung der Homonyme anhand der Artikel (der/die Leiter). Andererseits reichen im zweiten Satz allein der Artikel (die) und das Pronomen (er), um einen sprachlichen Zusammenhang im Sinne der grammatischen Funktion herzustellen.
Das Genus macht unsere Sprache ökonomischer und zugleich ausdrucksstärker. Es macht deutlich, was zusammengehört. Das ist wichtig, wenn wir erzählen oder Texte verfassen. Gemeinsam mit anderen morphologischen Kategorien bietet es uns im Deutschen syntaktische Freiheiten, die andere (genuslose) Sprachen nicht haben. Gerade der schriftliche Ausdruck bedarf dabei einer hohen Korrektheit – auch in Bezug auf den Artikelgebrauch.
„Das Genus im Deutschen erfüllt eine wichtige Funktion bei der Produktion und beim Verständnis sprachlicher Strukturen, die im Zusammenhang mit dem Konzept der Bildungssprache stehen und damit eine wesentliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Schulbesuch darstellen“ (Ruberg 2013, 335).
! | Artikel sind kein überflüssiges Sprach-Kosmetikum, sondern schaffen Ordnung auf lexikalischer und grammatischer Ebene. Zahlreiche semantische, grammatische und narrative Fähigkeiten basieren auf der Genuskompetenz. |
1.2 Kindlicher Genuserwerb
Ausgehend von der Annahme, dass das Genus im Deutschen zwingend notwendig ist, stellt sich die Frage, wie und wann es erworben wird. Es liegen mehrere Studien vor, welche die kindliche Genusentwicklung anhand von Spontansprachproben untersuchen (Clahsen 1982; Tracy 1986; Bewer 2004; Szagun et al. 2007). Sie postulieren einen schnellen und mühelosen Genuserwerb bis zum dritten Lebensjahr. Die Daten legen nahe, dass von diesem Zeitpunkt an nur noch selten Genusfehler bei sprachnormalen, monolingualen Kindern auftreten. Davon abweichende Ergebnisse weisen Studien auf, bei denen Kinder im Vorschulalter aufgefordert wurden, zu vorgegebenen Nomen den passenden Artikel zu nennen (Mills 1986; Ruberg 2013). Hier zeigen Vier- und Fünfjährige höhere Fehlerquoten. Auch die Resultate des GED-Projekts verdeutlichen, dass eine 90 %-Genuskorrektheit wohl erst im Alter von 6–7 Jahren von den meisten sprachnormalen Kindern erreicht wird (Motsch 2017; Ulrich 2017).
Augenscheinlich stellt der Genuserwerb, ob in der Erst- oder Zweitsprache Deutsch, eine größere Herausforderung dar als bisher angenommen. Seine Komplexität resultiert primär aus der Mehrdeutigkeit der Artikel. Diese zeigen nämlich nicht nur das Genus des Nomens an, sondern auch dessen Kasus und Numerus. Das Genus ist unveränderlich, der Artikel aber wechselt ständig (z. B. das Auto, dem Auto, des Autos, die Autos, der Autos). Diese morphologische Verschmelzung wirkt sich auch auf den Erwerb aus. So beschreibt z. B. Bewer (2004) für die von ihr beobachteten Kinder, wie der einsetzende Akkusativerwerb wieder zu mehr Genusfehlern führt. Diese Vielschichtigkeit der Grammatikentwicklung macht es schwer, einen allgemeingültigen Verlauf im Bereich Genus zu beschreiben. Auf der Grundlage bisheriger Studien kann vermutet werden, dass die Entwicklung in Schritten verläuft, die mutmaßlich sowohl im Erstals auch im Zweitspracherwerb auftreten (Binanzer 2017). Charakteristisch scheint, dass Kinder folgende Phasen im Genuserwerb durchlaufen:
1 Artikeleinsetzung: Das Kind gebraucht in obligatorischen Kontexten nur einen Artikel oder einen Default (Platzhalter) für alle Genera.
2 Ausbau des Genussystems: Das Kind markiert zunehmend alle drei Genera, macht aber Fehler, die vor allem auf eine ungenügende lexikalische Speicherung oder ungünstige Kasuseinflüsse zurückzuführen sind. Es erkennt, dass jedem Nomen nur ein Artikel zugeordnet ist.
3...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2021 |
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Zusatzinfo | 25 Abb. 28 Tab. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik | |
Schlagworte | Artikel • ARTIKELVERWENDUNG • Bildungserfolg • Deutschunterricht • Förderprogramm • Förderung • Genus • GENUSKONZEPT • Grammatik • grammatikschwäche • grammatisches Geschlecht • Lernerfolg • Lese-Rechtschreib-Schwäche • LRS • Mehrsprachigkeit • Pädagogik • Schriftsprache • Schule • Schulpädagogik • Sprachentwicklung • Sprachentwicklungsstörungen • sprachliche Fähigkeiten • Stratege • Umfeldarbeit |
ISBN-10 | 3-497-61463-7 / 3497614637 |
ISBN-13 | 978-3-497-61463-9 / 9783497614639 |
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