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Der letzte Palast von Prag (eBook)

Ein legendäres Haus und die Stürme des 20. Jahrhunderts

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
592 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2261-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der letzte Palast von Prag -  Norman Eisen
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Norman Eisen war US-Botschafter in Prag. Und liebte das Palais, das er bewohnen und in dem er arbeiten durfte. Der jüdische Industrielle Otto Petschek ließ sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Palais in Prag bauen - nicht ahnend, welch unterschiedliche Menschen es später noch bewohnen würden. Etwa die mondäne Shirley Temple, die in ihrer zweiten Karriere als Botschafterin in die Tschechoslowakei entsandt wurde. Oder Rudolf Touissant, der als Statthalter von Nazideutschland während des Zweiten Weltkriegs in diesen Mauern mit sich rang, als er die Order erhielt, angesichts der herannahenden Roten Armee die Stadt zu zerstören. Norman Eisen erzählt mit viel Charme die Geschichte dieses Hauses, das den Ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso überdauerte wie die Ära des Kommunismus, den Prager Frühling und die Rückkehr der Demokratie - deren Bestand heute wieder gefährdet ist. Die großartige Erzählung eines Gebäudes, in der sich die die Geschichte dieser einzigartigen Stadt und ganz Europas im 20. Jahrhundert spiegelt.

Norman Eisen, geboren 1960 als Sohn einer Holocaust-Überlebenden, studierte unter anderem an der Harvard Law School. 2009 wurde er von Barack Obama zum Special Counsel for Ethics and Government Reform in the White House ernannt. Von 2011 bis 2015 war er US-Botschafter in Prag.

Norman L. Eisen, geb. 1960 als Sohn einer Holocaust-Überlebenden, studierte u.a. an der Harvard Law School, wo er mit Barack Obama zusammentraf. 2003 war er Mitgründer der Organisation Citizens for Responsibility and Ethics in Washington (CREW) und bezeiligte sich 2007 bis 2009 an Obamas Wahlkampf. 2009 wurde er von Obama zum Special Counsel for Ethics and Government Reform in the White House ernannt. Von 2011 bis 2015 war er US-Botschafter in Prag.

Kapitel 1

Der Goldene Sohn der Goldenen Stadt

Prag, Tschechoslowakei, Frühjahr 1924

Es war kurz vor Sonnenaufgang auf einem Hügel mit Blick über die Altstadt, etwas nördlich der Prager Burg, als ein einundvierzig Jahre alter Mann1 in seinem kleinen, aber eleganten Haus erwachte. Es war eine der kleinen Villen, die im Vorort Bubeneč verstreut lagen; vor nicht allzu langer Zeit noch ganz ländlich, war dieses Viertel nun zu einem der vornehmsten der Stadt geworden. Der Mann glitt mit seinen Füßen in die Hausschuhe, steckte seine Arme in einen Morgenrock und band den Gürtel zu. Er bewegte sich vorsichtig, um seine Frau nicht zu wecken, deren schlanke Gestalt sich unter der Bettdecke abzeichnete. Behutsam öffnete er die Terrassentür und trat ins Freie.

Otto Petschek begrüßte jeden Morgen die aufgehende Sonne, die jetzt den Horizont noch nicht durchbrochen hatte. Sein Butler, der einen Frack mit gestreifter Weste trug, würde sich im weichen blauen Licht zu ihm gesellen und mit seinen weiß behandschuhten Händen Kaffee servieren. Auch heute füllte er mit geübter Hand eine Tasse, reichte sie Otto und ging wieder ins Haus. Otto spürte die Hitze des Kaffees durch das feine Meissner Porzellan mit seinem komplizierten Muster aus rosa Blüten und goldenen Blättern. Dieses Service war ein Geschenk an seine Frau Martha gewesen. Nach elf Jahren Ehe2 und vier gemeinsamen Kindern liebte es Otto noch immer, ihr Gesicht aufleuchten zu sehen, wenn er ihr schöne Dinge mitbrachte.

Otto nippte an seinem Kaffee und genoss den Ausblick. Obwohl er nahe dem Zentrum von Prag wohnte – eine über ein ganzes Jahrtausend hinweg gewachsene Stadt, in der ständig neue Bauten eingefügt und übereinandergeschichtet worden waren –, hatte sich direkt hinter seinem Haus ein Stück Wildnis3 erhalten. Über Jahrzehnte hinweg hatten seine Eltern und dann er selbst unzählige Grundstücke aufgekauft und sie zu einer einzigen weitläufigen, fünf Morgen (ca. 20 000 Quadratmeter) großen Parzelle zusammengefügt.4

Otto vertiefte sich in das Profil des Geländes. Zum Teil war es von der Dunkelheit verschleiert, die noch den Boden erfasste, doch er kannte es auswendig, praktisch bis zum letzten Blatt. Jahre hatte er damit verbracht5, jeden einzelnen Bereich abzuschreiten; hatte den Besitz an Wochenenden besucht, Familienfeiern abgehalten, sogar Martha dort den Heiratsantrag gemacht. Alte Bäume ragten in die Höhe, hoch und wild gewachsen. Hecken verliefen zwischen ihnen, dazu Blumenständer und Rasenstreifen. In der Ferne hörte Otto das Geklapper der Pferdehufe; die ersten Fuhrwerke lieferten ihre Waren aus – Eis und Milch für die Nachbarn.

In seinem Rücken, hinter diesem noch ungestalteten Land, lag in östlicher Richtung das Herz von Prag: das Stadtzentrum, in dem Otto geboren worden war; die Synagoge, in der er seine Bar Mitzwa erhalten hatte; die Schulen, in denen er ausgebildet wurde; das Geschäft, das er mit aufgebaut hatte. Er war ein typischer Bürger6 der tschechoslowakischen Hauptstadt, dennoch blickte er allmorgendlich auch in Richtung Westen: nach Deutschland, der Sprache und Kultur wegen; nach Frankreich, der Kunst und Architektur wegen; nach England, dessen geschäftlichen Scharfsinn er bewunderte; und über den Atlantik hinweg zu den Vereinigten Staaten, deren Energie er begrüßte. Er war dankbar für die Rolle, die die USA bei der Erschaffung des gerade flügge werdenden tschechoslowakischen Staates und bei der Verankerung einer neuen europäischen Nachkriegsordnung eingenommen hatte. Im Dunst vor der Morgendämmerung konnte er sich, wenn er die Augen zusammenkniff, die Krümmung der Erde unterhalb seines weitläufigen Landbesitzes vorstellen und diesen Bogen nachzeichnen, der ihn mit allen Nationen verband, die er bewunderte.

Wie gewöhnlich hörte Otto innerlich Musik7. Musik war seine erste große Leidenschaft8, und er blieb stets ein großer Anhänger klassischer Werke. Er war einer der Förderer der Deutschen Oper in Prag, dazu glühender Wagnerianer, der die Helden dieses Komponisten sowie deren Begierde nach großen Herausforderungen bewunderte. An diesem Morgen hörte er in Gedanken vielleicht den tiefen Klang der Streicher, der das Rheingold eröffnete; der Tag rührte sich gerade so wie die Instrumente in der Oper, die Töne wurden, wie die aufsteigende Sonne, immer mächtiger.

Während Otto Tag für Tag seinem unsichtbaren Orchester lauschte und zusah, wie die Morgendämmerung sich über seinem ausgedehnten, wild bewachsenen Grundstück ausbreitete, nahm eine Idee in ihm Gestalt an, was er mit diesem Land anfangen könnte. Er würde dort einen Palast errichten – einen, der es mit jedem anderen in der Stadt aufnehmen könnte. Er würde riesig sein, mehr als hundert Räume haben9 und die Länge eines ganzen Straßenblocks einnehmen. Die Fassade würde die mathematisch eleganten Säulen des alten Griechenlands mit den kraftvollen Formen römischer Skulpturen vereinen, die klassischen Zahlenverhältnisse der italienischen Renaissance-Architektur mit der Majestät des französischen Barock verbinden. Er, Otto, würde den Gang der westlichen Zivilisation in Stein, Marmor und Ziegeln bis in die Gegenwart fortführen – wobei die Fassade des Palasts in einer scharfen, ultramodernen Kurve auslaufen würde; eine dramatische, zeitgenössische Wendung, die seine Schöpfung von allen anderen Palästen in einer Stadt unterscheiden würde, die vor Palästen nur so strotzte.

Es würde eine Residenz werden, die seinem Status10 als führender Bankier und Industrieller in der neuen Demokratie entspräche, ein perfektes Heim für seine geliebte Martha und die gemeinsamen Kinder. Und es würde die wunderbare Zukunft des 20. Jahrhunderts verkörpern11 – ein neues Zeitalter des Friedens und des Wohlstands, das nun, nach diesem Krieg zur Beendigung aller Kriege, aufkommen würde.

Ottos Träume wurden vom Treiben in der Villa hinter ihm unterbrochen. Die Sonne war inzwischen vollständig aufgegangen. Martha und die Kinder erhoben sich gerade, und das Personal nahm sein Tagwerk in Angriff.

Als er dem sonnenbeschienenen Grundstück den Rücken zukehrte und sein Haus betrat, summte er vor sich hin, und innerlich entwickelte er bereits raffinierte Pläne für seinen Palast.

OTTO WAR IMMER ALLES ZUGEFALLEN. 1882 wurde er als Sohn seiner Eltern Isidor Petschek und Camilla Robitschek geboren12, Abkömmlinge von zwei der wohlhabendsten jüdischen Familien in den österreichisch-ungarischen Ländern Böhmen und Mähren. Er war das erste Kind seiner Generation, und die Petscheks erwarteten seine Ankunft nicht weniger sehnlich, als eine Nation die Geburt eines Mitglieds der Königsfamilie erwarten mag. Am 17. Oktober war das musikalische Schreien des molligen Babys im Stadthaus der Familie zum ersten Mal zu hören. Otto, der zu Hause zur Welt kam, wurde von der Hebamme gewaschen und der Mutter präsentiert. Isidor und sein Bruder, Ottos Onkel Julius, nahmen das Kind in Camillas Armen unter die Lupe. Hinter ihren ernsten Mienen zeichnete sich die Zuneigung ab, die sie verspürten, als sie die Petschek-Merkmale des kleinen Otto studierten: einen großen Schädel, eine breite Stirn und eine knubbelige Nase.

Drei Generationen hatten in dem robusten Haus gewohnt, dessen Stockwerke übereinandergeschichtet waren wie bei einem Schichtkuchen à la Petschek. Hier wurde Otto, ein natürlicherweise selbstbewusstes Kind, bis zum Alter von sechs Jahren von einem Privatlehrer unterrichtet. In kurzen Hosen, einer Jacke und einer lockeren schwarzen Krawatte wurde er vor Isidor und Julius gebracht, um dort die Ergebnisse seiner Bemühungen zu präsentieren. Stramm stand er im Wohnzimmer, und die Zahlen strömten nur so aus ihm heraus. Otto kam nach Isidor, hatte einen quadratischen Schädel und war gut aussehend, wenn auch ohne den üppigen Kinnbart des Vaters. Julius’ Schädel dagegen war eher birnenförmig mit beginnender Glatze, dazu trug er einen großen, herabhängenden Schnauzbart, und oft ließ er seinen massigen Körper in eines der prallen Sofas im Wohnzimmer sinken. Die beiden Brüder waren über Ottos Fähigkeiten erfreut. Sie waren Finanziers, gaben Kredite, kauften und verkauften Anteile an Kohleminen und anderen Firmen, und sie erwarteten Großes von Otto, der auf demselben Gebiet arbeiten sollte. Otto war ein geborener Schausteller, womöglich liebte er diese Vorführungen deshalb so sehr. Auch wenn er vielleicht ein wenig zu stark vom Rampenlicht angezogen war – nun, die Brüder waren der Meinung, das würde sich zu gegebener Zeit erledigen.

Für die musikalischen Talente des jungen Ottos war bestens gesorgt: Musik gab es in Prag überall. Liederabende, Konzerte, Sinfonien, Opern – Melodien drangen auf die Straßen und strömten so frei durch die Stadt wie die Moldau. Auch im Hause Petschek wurde gesungen: Wenn sich die große Familie versammelte, zogen oft Pferdekutschen zur Stadtparkstraße, die voll mit Musikern waren, die man angeheuert hatte. Die Familienmitglieder waren aufs Festlichste gekleidet, die Männer trugen Fräcke, die Frauen hochgeschlossene Kleider über ihren Korsetts. Obgleich jüdisch, war auch die Hochkultur der österreichisch-ungarischen Monarchie und des benachbarten Deutschen Reichs nicht minder die Religion der Familie, und etliche der Petscheks musizierten gemeinsam mit den Berufsmusikern und sangen oder spielten...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2020
Übersetzer Nikolaus de Palézieux
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 1968 • 1989 • Achtziger Jahre • Böhmen /Geschichte • Botschafter • DDR • Demokratie • Erster Weltkrieg • Europa • Fünfzigerjahre • Grand Budapest Hotel • Jeff Goldblum • Juden • Judenverfolgung • Kafka • Kalter Krieg • Nazis • Prag • Prager Frühling • Sechziger Jahre • Shirley Temple • Siebzigerjahre • Tschechoslowakei • Vaclav Havel • Vierziger Jahre • Wehrmacht • Wiedervereinigung • Zeitgeschichte • Zwanziger Jahre • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8437-2261-7 / 3843722617
ISBN-13 978-3-8437-2261-2 / 9783843722612
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